Die Fischerkinder

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Mira schluckte. „Jetzt mach mal –“



„Halblang? Mira, schau dir meinen Vater an. Schau, was ihm passiert ist und was das mit meiner Familie gemacht hat.“ Auch Vera hatte die Fäuste geballt. Mira war nicht sicher, aber es hatte fast den Anschein, als schimmerten Tränen in ihren Augen.



„Filip hat so hart gearbeitet, um trotz der Fehler, die mein Vater gemacht hat, eine gute Stelle zu bekommen. Ich kann nicht alles riskieren, was er erreicht hat, nur um mir verbotene Geschichten anzuhören!“



Mira dachte an Filip, der so pflichtbewusst und so verbissen arbeitete, und daran, wie er manchmal völlig übermüdet von seinen zahlreichen Doppelschichten zurückkam, wenn sie und Vera gerade über ihren Hausaufgaben am Esstisch im Wohnzimmer der Petersens saßen. Sie dachte daran, wie er nach Dienstschluss Papierkram für die Staatsbeamten in der Verwaltung sortierte oder gar Orden polierte, um sich mit ihnen gutzustellen, und sie schämte sich dafür, dass sie ihn für seine Unterwürfigkeit verachtet hatte. „Du hast recht“, flüsterte sie traurig. „Das kannst du ihm nicht antun.“



Vera sah überrascht auf. Hinter ihren Ponyfransen glitzerten ihre Augen immer noch verdächtig. Fast glaubte Mira, ihre Freundin hätte darauf gehofft, sie würde sie überreden. Jedenfalls hatte sie nicht damit gerechnet, dass Mira nachgab.



„Es ist in Ordnung. Du musst tun, was du für richtig hältst. Aber ich muss auch tun, was

ich

 für richtig halte. Und ich glaube, ich muss mir zumindest anhören, was Herr Porter zu sagen hat.“











Kapitel 4







Der verbotene Turm



Das winzige Glöckchen bimmelte, als Mira die Tür zu „Porters Höhle“ aufstieß. Das schrille Geräusch war ihr nie so bewusst aufgefallen wie heute. Ihre Nerven lagen blank, und ein inneres Zittern schüttelte sie.



Edmund Porter war am Tresen beschäftigt. Außer ihm befanden sich noch drei weitere Leute in der Buchhandlung. Ein hagerer Mann in blauer Uniform inspizierte diejenigen Buchreihen, die auf seiner Augenhöhe waren, als ließe seine steife Haltung es nicht zu, den Kopf in den Nacken zu legen oder sich gar zu bücken. Im linken Flügel des Ladens blätterte ein knapp eineinhalb Meter großer, dunkelhäutiger Junge in einem dicken Wälzer, während ein anderer, der wie eine etwas kleinere Ausgabe von ihm aussah, unablässig an seinem Ärmel zupfte und „Nathaniel, komm schon, Nathaniel“ jammerte. Beide hatten sie krauses, schwarzes Haar und Haut, die an die Farbe von Schokolade erinnerte. Nicht an die gelbliche Ersatzschokolade, sondern an richtige, echte Schokolade, wie es sie früher gegeben hatte. Mira hatte Bilder davon gesehen.



„Mira Robins“, begrüße Edmund Porter sie, und der blau uniformierte Wachmann drehte sich um und nickte ihr flüchtig zu. Vielleicht gehörte er zur Einheit ihres Vaters. Miras Herz flatterte noch ein wenig aufgeregter. „Wieder ein neues Buch?“, fragte Edmund Porter mit strahlendem Lächeln. „Sieh dich nur um.“



Mira machte den Mund auf, sagte aber nichts. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Wie um alles in der Welt wollte Edmund Porter ihr irgendwelche Informationen geben, während es in seinem Laden vor Kunden wimmelte und ein Wachmann durch die Regalreihen streifte und jedes Wort hören konnte, das sie sprachen?



Widerstrebend sah Mira sich nach einem Regal um, das sie durchkämmen konnte. Sie fand, dass es das Beste war, sich ganz normal zu verhalten. So wie an jedem anderen Tag, an dem sie ein Buch aus „Porters Höhle“ geliehen hatte.



Während sie mit den Fingerkuppen an den Buchrücken entlangstrich und nur recht selten ein Exemplar aus den Reihen zog, spürte sie, wie Edmund Porter sie beobachtete. Sie las nicht einmal die Titel, sondern lauschte auf die Geräusche im Laden. Edmund Porter notierte mit kratzendem Stift etwas auf Papier, der Wachmann studierte völlig geräuschlos Buchrücken, und einer der beiden Jungen tippelte mit den Füßen auf dem abgewetzten Holzboden. „Können wir jetzt gehen?“



Mira sah vorsichtig über ihre Schulter. Wenn die beiden Jungen gingen, wäre sie alleine mit Edmund Porter und dem steifen Wachmann. Doch sie bezweifelte, dass er den Laden zeitnah verlassen würde, auch wenn sein Interesse sich sichtlich in Grenzen zu halten schien. Er studierte die staubigen Buchrücken mit einer Mischung aus Neugier und Ekel.



„Pscht, Theodore.“ Der ältere Junge blätterte mit seiner dunklen Hand die blassen Buchseiten um. Das Rascheln des Papiers war für einen Moment das einzige Geräusch, dann drohte der kleinere Junge ungeduldig: „Dann geh ich alleine.“



Mira ließ sich in die Hocke sinken und zog ein großes, schweres Buch mit einem eingeprägten Elefanten auf dem Einband heraus. Sie konnte es ebenso gut aufschlagen und vorgeben, zu lesen.



„Die schimpfen, wenn du mich alleine gehen lässt“, erklärte der Junge vernehmlich.



„Dich, nicht mich“, gab sein großer Bruder zurück, aber Mira konnte hören, wie er das sperrige Buch zuschlug. Über die Seiten des Elefantenbuches hinweg sah sie zu, wie er es ins Regal zurückstellte und stattdessen scheinbar wahllos ein handlicheres Büchlein herauszog. Er brachte es geradewegs zu Edmund Porter an den Tresen.



„Ah“, sagte dieser lächelnd. „Eine gute Wahl. Ihr entschuldigt mich einen Moment.“ Er schob seine runde Brille zurecht. „Ihr wisst, die Listen … nichts geht hier ohne Listen.“ Er verschwand mit dem Buch im Hinterzimmer. Theodore, der jüngere der beiden Brüder, vergaß ganz sein ungeduldiges Auf-und-ab-Wippen. Er starrte Edmund Porter nach, bis Nathaniel ihn mit dem Ellbogen anstieß und er seine Aufmerksamkeit wieder den Regalen um sich herum zuwandte. Als er bemerkte, dass Mira sie beobachtete, zuckte er zusammen, entblößte dann aber hastig seine blitzweißen Zähne zu einem Grinsen.



Schnell senkte Mira ihren Blick wieder auf ihr Buch. Hinter ihr ging der Wachmann quer durch den Raum und betrachtete jetzt ein anderes Regal eingehend.



„Hier, bitte schön.“ Edmund Porter war zurückgekehrt und reichte Nathaniel und Theodore ihr Buch. „Ich wünsche viel Freude damit.“



„Danke.“ Der Kleinere schnappte sich das Buch, und seinem älteren Bruder blieb nichts anderes übrig, als Edmund schnell eine kleine, ausgestanzte Rationskarte auf den Tresen zu werfen und dem Jüngeren hinterherzueilen. Das Glöckchen bimmelte, und Mira sah den beiden durch die Glastür nach. Nathaniel hatte seinen Bruder eingeholt, nahm ihm das Buch ab und begann mit ziemlich ärgerlicher Miene auf ihn einzureden. Mira beobachtete ihren verbalen Schlagabtausch, bis sie außer Sichtweite waren.



Edmund Porter nahm die Rationskarte und steckte sie in seine Tasche. Er hatte sie nicht einmal angesehen, um etwa zu überprüfen, ob sie eine angemessene Bezahlung für ein geliehenes Buch war. Vielleicht gehörten die beiden Jungen genau wie Mira zu Edmunds Stammkunden und genossen eine gewisse Sonderbehandlung. Vielleicht war Edmund Porter aber auch einfach insgesamt nachlässig mit dem Entgegennehmen seines Lohns. Mira hatte oft gesehen, wie er im Tausch für ein Buch Verbrauchswaren statt Rationskarten angenommen hatte; Butter und Eier etwa oder den süßen Tabak, den er regelmäßig in seiner Pfeife rauchte. Auch besaß er nicht einmal einen der kleinen, silbernen Scanner, unter die man in jedem anderen Geschäft, das Mira kannte, sein Armband mit der neunstelligen Identifikationsnummer halten musste. Für jeden anderen Handel musste sie sich auf diese Art ausweisen, selbst wenn sie nur einen halben Laib Brot kaufen wollte.



„Nun?“ Sie zuckte zusammen, als Edmund Porters warme Bassstimme plötzlich dicht neben ihr erklang. „Du bist auch fündig geworden?“



„Ähm …“ Mira sah auf das Elefantenbuch hinunter. Sie hatte noch keinen vollständigen Satz gelesen. Vorsichtig hielt sie über die Schulter nach dem Uniformträger Ausschau. Er stand nahe genug, um jedes Wort zu hören, das sie mit Edmund wechselte.



Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, riss Edmund Porter ihr das Buch aus den Händen. „Ich trage es für dich ein“, erklärte er freundlich.



Ein leichter Anflug von Ärger breitete sich in Mira aus. Sie hatte den ganzen Tag darauf gewartet, hierherzukommen. Und jetzt komplementierte Edmund Porter sie einfach so wieder hinaus. Dabei hätte er sich denken können, dass ein Wachmann hier sein würde. Sie hatten ein sehr aufmerksames Auge auf die Buchhandlung und die Menschen, die hierherkamen. Er hätte wissen müssen, dass er Mira hier keine Informationen würde geben können.



Frustriert wartete sie auf seine Rückkehr und nahm ohne große Begeisterung das Buch mit dem Elefanten entgegen. Sie vergaß sogar ganz, Edmund dafür die Brotrationskarte zu überreichen, die sie mitgebracht hatte. Brotrationen gab ihr Vater nur selten und sehr ungern her. Meist bezahlte Mira Edmund mit den Sonderrationen, die Gerald Robins ihr ohne große Nachfragen überließ, und die waren so wertvoll, dass sie danach für eine ganze Weile nichts mehr mitzubringen brauchte.



„Ich möchte wetten“, lächelte Edmund Porter, als hätte er ihre missmutige Miene gar nicht bemerkt, „dass wir uns spätestens übermorgen wiedersehen.“



Mira sah von dem Elefanten zu Edmund Porter, der ihr für den Bruchteil einer Sekunde verschwörerisch zublinzelte. Dann wandte er sich dem Wachmann zu, der immer noch die Regale inspizierte: „Und kann ich Ihnen vielleicht auch behilflich sein?“



„Danke“, erwiderte der Mann so steif, wie er sich bewegte. „Ich sehe mich nur um.“ Natürlich tat er das. Allerdings gewiss nicht, um sich ein Buch zu leihen. Er war einzig und allein hierher beordert worden, um einen Laden, in dem mit so fragwürdiger Ware wie Büchern gehandelt wurde, im Auge zu behalten.

 



„Aber vielleicht kann ich Ihnen etwas empfehlen.“ Edmund Porter nickte Mira zu und ließ sie stehen. „Manchen dieser Bücher sieht man gar nicht an, was in ihnen steckt, ehe man sie nicht geöffnet hat.“



Obwohl er sie bei diesen Worten keines Blickes würdigte, fühlte Mira Aufregung in sich aufsteigen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass der Wachmann beschäftigt war, dann klappte sie den Deckel des schweren Buches in ihren Händen auf. Und tatsächlich: Auf der ersten gelblichen Seite lag ein kleiner, weißer Zettel, auf dem nur eine einzige Zeile notiert war: ein Tag, eine Uhrzeit und ein Ort.



Als sie an diesem Abend mit ihren Eltern zu Abend aß, fiel es Mira schwer, an etwas anderes zu denken als an die handschriftliche Notiz, die sie in ihrem geliehenen Buch gefunden hatte. Das war besonders gefährlich, weil ihre Aufmerksamkeit gefragt war. Ihr Vater fragte sie über den Abendbrottisch hinweg in Staatsgeschichte ab, während ihre Mutter sicherzustellen versuchte, dass Mira genug aß. Im Hintergrund schrubbte Iliona die Anrichte und behielt dabei Teller und Gläser der Familie im Auge, um rechtzeitig Nachschub zu bringen.



„Wem haben wir den Erlass zum Verbot konspirativer Kleinstgruppen zu verdanken?“, fragte Miras Vater zwischen zwei Bissen Schwarzbrot mit dünnen Schinkenscheiben, die ihre Mutter diese Woche von den Fleischrationskarten gekauft hatte.



„Joachim Burkhardt. Burkhardthausen ist nach ihm benannt“, antwortete Mira, konnte ihre Gedanken aber nicht von dem kleinen Zettel losreißen. „Mittwoch, 18 : 00 Uhr, Westturm“, hatte auf dem Papier gestanden, das Edmund Porter in den dicken Wälzer gelegt hatte, der das erste Buch sein würde, das Mira ungelesen zurückbrachte.



Mira hatte gewusst, dass sie unter der ständigen Überwachung und dem Schutz ihrer Eltern aufgewachsen war. Aber die Erwähnung des Westturms hatte ihr verdeutlicht, wie behütet sie wirklich lebte. Sie hatte das sichere Innenstadtviertel noch nie verlassen und war deshalb niemals auch nur in die Nähe des Westturms am Stadtrand gekommen. Er lag zwischen den Randvierteln und den Feldern. Niemals hätten ihre Eltern sie einen Fuß in eine solche Gegend setzen lassen.



Ihre Mutter, die schon eine Weile dabei zugesehen hatte, wie Mira ihr Brot auf dem Teller hin und her schob, runzelte die Stirn. „Iss endlich dein Schinkenbrot, Miriam. Du bist schon ganz schmal.“



„Zu welchem Zweck?“, fragte Miras Vater.



„Weil es ungesund ist, sich nicht ausgewogen und ausreichend zu ernähren!“, rief ihre Mutter, die Mira immer noch musterte, als könne sie jeden Moment aufgrund von Mangelernährung ohnmächtig oder tot vom Stuhl kippen.



„Meine Güte, Rose!“ Gerald Robins schüttelte unwillig den Kopf und nahm sich noch eine Scheibe Schinken. „Zu welchem Zweck das Verbot erlassen wurde.“



Mira antwortete lieber, als zu essen. Sie hatte beim Gedanken an Mittwochabend einen dicken Kloß im Hals und befürchtete, keinen Bissen hinunterzubekommen.



„Kleinstgruppen sind Minderheiten, deren Einstellungen nicht mit den Grundfesten unseres Staates einhergehen“, antwortete sie, als hätte sie das Staatsgeschichtsbuch verschluckt. „Gibt man solchen Gruppen die Gelegenheit, sich im Privaten zu treffen, ist das Risiko eines Aufstandes groß.“



„Was sind die Merkmale solcher Gruppen?“, fragte Gerald Robins weiter, was bedeutete, dass er mit Miras Antwort zufrieden war. Wenn er nicht nachhakte, war das meist ein Zeichen seiner Zustimmung.



„Kritik an Staat und König, regelmäßige Zusammenkünfte“, zählte Mira auf.



„Das Schinkenbrot“, erinnerte ihre Mutter und lehnte sich zurück, damit Iliona ihr Glas mit mehr trübem Apfelsaft füllen konnte.



„Unsinn, Rose! Was hat denn nun das Schinkenbrot damit zu tun?“



„Internationalitätsgedanken, Rituale, traditionelles Lied- und Schriftgut“, ratterte Mira weiter herunter. „Aufstellen eigener Anführer und Verehren anderer Autoritäten als dem König. Warum ist es eigentlich verboten, in die Außenviertel zu gehen?“, fragte sie dann, ohne Atem zu holen, möglichst beiläufig.



Iliona hielt beim Nachschenken inne, und ihr Vater ließ sein Schinkenbrot sinken. „Hat das etwas mit Staatsgeschichte zu tun?“, fragte er misstrauisch.



„Nein“, gab Mira zu. „Mir ist nur aufgefallen, dass ich noch nie dort draußen war.“



„Über welch unnütze Dinge du dir Gedanken machst, Miriam. Wozu solltest du dich denn dort draußen herumtreiben wollen?“ Er hob sein Schinkenbrot wieder an, als wäre die Sache damit erledigt.



„Es gibt sogar eine Mauer. Und Wachposten, die verhindern, dass jemand sich nach dort draußen verirrt“, beharrte Mira.



„Die Mauer“, sagte ihr Vater und fixierte Mira über den Tisch hinweg mit einem durchdringenden Blick, „ist in erster Linie dazu da, die Außenstädter davon abzuhalten, in die Innenstadt zu kommen, und nicht umgekehrt.“ Sein Blick wanderte zu Iliona, die das Glas hastig bis zum Rand füllte und sich dann wieder hinter die Anrichte zurückzog.



„Iliona kommt aus den Außenvierteln!“, stellte Mira fest, und das Mädchen zuckte beim Klang ihres eigenen Namens ertappt zusammen.



„Iliona arbeitet in der Innenstadt“, entgegnete ihr Vater. „Sie hat einen Passierschein.“



„Und den braucht man nur, wenn man von draußen hineinwill?“ Mira nahm den ersten richtigen Bissen von ihrem Schinkenbrot, um der Frage damit etwas Beiläufiges zu geben.



Ihr Vater seufzte. „Den brauchen nur die Außenstädter. Die Innenstädter haben überhaupt keinen Grund, nach dort draußen zu gehen.“



„Es ist ja auch viel zu gefährlich“, schaltete sich Miras Mutter ein.



„Muss man sein Ausweisband scannen, wenn man hinausgeht?“, fragte Mira, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie viel von der Antwort auf diese Frage abhing. Wenn sie ihre Identifikationsnummer brauchte, um das Stadttor zu passieren, konnte sie ihrem Vater ebenso gut gleich Bericht erstatten, wohin sie ging. Alle Daten wurden gesammelt – wer wann wie viele Rationskarten erhielt, gegen Lebensmittel oder Kleidung eintauschte, zur Arbeit oder zur Schule ging oder sich etwas zuschulden kommen ließ. Ihr Code würde eine nur allzu leicht verfolgbare Spur hinterlassen.



„Nein“, sagte ihr Vater jedoch. „Was für eine Verschwendung wertvoller Technik. Die Innenstädter gehen nicht nach dort draußen. Sie haben in den Außenvierteln nichts zu suchen, und kein Wachmann, der noch ganz bei Verstand ist, würde jemanden ohne einen sehr guten Grund passieren lassen.“



Unwillkürlich huschte Miras Blick zu Iliona, die den Lappen so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei wagte sie nicht ein einziges Mal, den Blick zu heben. Vielleicht, weil sie nicht wollte, dass jemand die zornigen Tränen sah, die sich bei Gerald Robins abfälligen Worten in ihren Augen angesammelt hatten.



Mira versuchte mühsam, das Stückchen Brot, auf dem sie seit geraumer Zeit herumkaute, hinunterzuschlucken. Es kratzte in ihrer trocken gewordenen Kehle. Sie hustete und hätte am liebsten gefragt, was mit den Menschen in den Armenvierteln so verkehrt war. Immerhin war auch Miras Familie nicht sonderlich reich. Niemand war das. Sie alle waren auf die Rationen angewiesen, die ihnen vom Staat zugeteilt wurden. Und Miras Familie beschäftigte doch selbst jemanden aus den Außenvierteln.



Aber solche Fragen konnte Mira nicht stellen. Auch dann nicht, als sie den Bissen endlich hinuntergeschluckt hatte und wieder genug Luft bekam. Wenn sie ihrem Vorhaben für Mittwochabend keine Steine in den Weg legen wollte, war es sicher nicht klug, weiterhin so reges Interesse an den Armenvierteln zu äußern.



Am Dienstagmorgen im Unterricht studierte Mira ihr Staatswirtschaftsbuch besonders genau. Im hinteren Teil des Buches waren verschiedene Landkarten und Stadtpläne abgedruckt, darunter auch einer ihrer Heimatstadt Leonardsburg. Mira war weiterhin wild entschlossen, morgen Abend um sechs Uhr zum Westturm zu gehen, was auch immer sie dort erwartete. Was ihr noch fehlte, war ein handfester Plan, wie sie unbemerkt an den Wachposten vorbeikommen sollte, die an den Stadttoren stationiert waren.



„Wir sind auf Seite 93“, raunte Vera ihr zu, die sie aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie hatte mit keinem Wort nach ihrem gestrigen Besuch in „Porters Höhle“ gefragt, und so hatte Mira Mittwochabend und den Westturm auch mit keinem Wort erwähnt. Je weniger Leute davon wussten, desto besser. Außerdem war es Veras eigene Schuld; sie hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen.



„Ich weiß“, flüsterte Mira zurück und studierte weiter den Stadtplan. Die Innenstadt von Leonardsburg war ein ovaler Kern, der vor allem im Norden und Westen von einem breiten Band aus Randvierteln gesäumt war. Dahinter kamen nur noch Felder und dann brachliegendes Land.



„Ich meine nur“, wisperte Vera hinter vorgehaltener Hand, „weil du auf Seite 148 bist. Aber wir sind auf Seite –“



„Sie halten es nicht für nötig, meinem Unterricht zu folgen – nicht wahr, Frau Petersen?“



Vera sank beim Klang von Professor Winkelbauers Stimme in sich zusammen.



„Sie beherrschen Staatswirtschaft bereits aus dem Effeff. Ist dem nicht so?“, fragte Winkelbauer boshaft. „Weshalb Sie mir gewiss auch sagen können, welche Güter man jahrhundertelang unnütz importiert hat, obwohl man sie problemlos ersetzen oder hier anbauen kann.“ Er wandte sich zur Tafel um und schrieb: „Unnütze Importe.“



Vera schluckte vernehmlich. „Ja“, brachte sie dann heraus und starrte Winkelbauers knochigen Rücken an, den er ihnen beim Schreiben zuwandte. „Ähm … das Erdöl und …“ Sie sah Hilfe suchend zu Mira.



„Baumwolle“, wisperte diese. „Tabak. Kaffee. Kakao und Zucker.“



Vera schüttelte panisch den Kopf und formte ein „Was?“ mit den Lippen.



Winkelbauer wandte sich wieder zu ihnen um, und sein Mund kräuselte sich zu einem gehässigen Lächeln. „Das ist alles?“



Schnell griff Mira in ihre Tasche und zog eine winzige Packung Ersatzschokoladenkekse heraus. „Kakao und Zucker“, flüsterte sie und deutete unter dem Tisch auf die Süßigkeit.



Vera wagte kaum, einen kurzen Blick zu Mira zu werfen. Dann zwang sie sich sichtlich dazu, sich zu entspannen, und sagte mit lauter und bemüht fester Stimme: „Ersatzschokoladenkekse.“



Daphné, die sich umgedreht hatte, um Vera besser im Blick zu haben, prustete los. Professor Winkelbauer fand Veras Antwort jedoch gar nicht lustig. „Zählen die … Ersatzschokoladenkekse“ – er zog das Wort mit herablassender Stimme in die Länge – „Ihrer Meinung nach zu den primären oder den sekundären Rohstoffen?“



Vera wurde tiefrot und machte den Eindruck, als wäre sie nicht sicher, ob Winkelbauer eine Antwort erwartete oder nicht.



„Wir sprechen uns nach der Stunde“, fuhr er jedoch schon fort und wandte sich wieder seiner Tafelanschrift zu, als wäre Vera auch nicht eine einzige weitere Sekunde wertvoller Unterrichtszeit wert. „Frau Baron, seien Sie so freundlich.“



Daphné fuhr sich durch das honigblonde Haar und wandte sich provokativ langsam wieder nach vorne. Offenbar war sie enttäuscht, dass die Vorstellung schon beendet war.



„Günstige, baumwollfreie Stoffe gehören schon lange zur Standardherstellung in der Textilindustrie“, sagte sie langsam und deutlich. „Zuckerrüben zählen neben rund fünf verschiedenen Getreidesorten zum Hauptertrag unserer Landwirtschaft.“



„In der Tat.“ Winkelbauer notierte die Schlagworte und drehte sich wieder zur Klasse. „Auch Tabak kann in unseren Breitengraden angebaut werden und ist ohnehin genau wie Kaffee und Kakao ein völlig unnützer Luxusartikel. Dennoch“, seine Lippen kräuselten sich gehässig, „stellen wir Ersatzkakao auf Haferbasis her, der sich in der Tat auch in Ersatzschokoladenkeksen befindet.“



Ein paar Mitschüler lachten verhalten, und Vera sah aus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Trotzdem stand sie bemerkenswert aufrecht, als sie nach der Stunde an Winkelbauers Schreibtisch trat. Mira hatte absichtlich lange mit dem Einpacken ihrer Sachen herumgetrödelt und war, abgesehen von Winkelbauer und Vera, die letzte Person im Raum.



„Sie haben sich heute selbst übertroffen.“ Winkelbauer verstaute seine Unterlagen sorgfältig in der schwarzen Ledertasche, ohne dabei auch nur zu seinem Gegenüber aufzusehen. „Ich würde an Ihre Eltern schreiben, wenn ich nicht wüsste, dass das bei Ihrer Familie vollkommen nutzlos ist.“



Mira war fertig mit dem Einpacken, und ihr gingen die Entschuldigungen aus, warum sie den Raum noch nicht verlassen hatte. Aber bei so viel Boshaftigkeit, der Vera dort vorne ausgesetzt war, wagte sie nicht, einfach zu gehen. Sie klappte ihre Box mit Stiften vorsichtig auf und warf einen kurzen Blick zu Winkelbauer und Vera. Es schepperte gewaltig, als die Dose auf dem Boden aufschlug und die Stifte in alle Richtungen flogen.

 



Vera fuhr vor Schreck zusammen. Winkelbauer warf Mira einen finsteren B