Tödliche Klamm

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Das ist heute schon der zweite Anschlag auf mein Leben«, brüllte Florian seinem Freund Ewe entgegen, um den tosenden Lärm der Breitach hinter ihm zu übertönen.

»Tut mir echt leid«, schrie der Gerichtsmediziner. »Hast du die Leiche schon gefunden?« Er glitt den letzten Felsvorsprung hinunter, stand schließlich direkt neben Florian und löste den Karabiner an seinen Gurten. »Die Österreicher meinen, sie liegt etwas weiter flussabwärts.«

Den Anblick hätte er sich gern erspart. Das, was sie schließlich fanden, das, was der Wanderer als Leiche erkannt haben will, sah alles andere als menschlich aus. Florian hatte eine Person erwartet, die tragischerweise beim unerlaubten Klettern abgerutscht war und seit zwei oder drei Tagen unentdeckt in einer Felsspalte lag. Das, was sie fanden, war zuerst nur ein Schädel. Ein menschlicher Schädel ohne Nase, ohne Augen. Eine Gesichtshälfte war zerfetzt und von teils ledriger, teils schleimiger Haut bedeckt. Die andere Hälfte war blanker Knochen. Etwa einen Meter entfernt lag der Torso, ebenfalls nahezu vollständig skelettiert und fast gänzlich zerstört. Nur wenige der zahlreichen Knochen waren nicht gebrochen und zersplittert. Das rechte Bein fehlte komplett.

»Wer hat den Kerl bloß so zugerichtet? Das ist ja grauenvoll«, stöhnte der Hauptkommissar und musste sich abwenden. »Wie lange liegt der wohl schon hier?«

»Höchstens ein paar Stunden«, erklärte Ewe. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe glitt über die zertrümmerten Knochen. An einigen größeren Brüchen hielt der Gerichtsmediziner inne und sah sie sich genauer an.

»Ein paar Stunden? Willst du mich verarschen? Der ist doch bereits total verrottet«, rief Florian angewidert und wies jetzt wieder auf den Schädel. »Keine Haut mehr dran, außer das bisschen im Gesicht.«

»Na ja, das stimmt ja jetzt nicht«, brüllte Ewe und versuchte das Grollen des rauschenden Flusses zu übertönen. »Hautfetzen, Sehnen und Muskelstränge liegen hier doch überall zwischen den Knochen. Wird eine Scheißarbeit, alles einzusammeln. Das werden wir erst morgen bei Tageslicht machen können.«

»Ja, gut«, würgte Florian, der froh war, dass er diese beschriebenen Hautfetzen und Sehnen nicht sehen konnte. Aber die Vorstellung reichte bereits, in ihm Übelkeit und Abscheu hervorzurufen, und er trat vorsorglich ein paar Schritte zurück. Nicht, dass er unwissend womöglich noch auf irgendwelchen Leichenteilen stand. Hier allerdings war er dem reißenden Fluss so nahe, dass aufspritzendes Wasser, das unaufhörlich mit großer Geschwindigkeit gegen einen Fels schlug, ihm in wenigen Sekunden die Kleidung durchnässte. Er wischte sich die unzähligen Wassertropfen aus dem Gesicht und suchte sich eine trockenere Position.

»Und wie viele Stunden, schätzt du, ist der Kerl tot?«

»Stunden? Der Tod trat vor vielen Monaten oder sogar Jahren ein. Ich muss das alles erst genau untersuchen, bis ich es präzise sagen kann«, erklärte Ewe und blickte etwas verwirrt zu Florian auf. »Wie kommst du denn bei diesem Anblick darauf, dass die Person erst ein paar Stunden tot ist?«

»Das hast du mir doch gerade gesagt, du Idiot«, polterte Forster wütend. »Du hast gesagt, der Mann liegt erst ein paar Stunden hier unten.«

»Das stimmt ja auch«, nickte Ewe und Florian konnte sein breites Grinsen im Licht des Scheinwerfers sehen. »Aber von einem Mann habe ich nicht geredet. Das hier«, er deutete auf die Knochen vor sich, »ist eine Frau. Das erkennt man deutlich unter anderem an den Beckenknochen. Erwachsen, aber das Alter möchte ich hier im Dunkeln nicht schätzen.«

»Boah, Mann. Willst du mich heute mal richtig wütend machen, oder was?« Florian war kurz davor, auf seinen Freund loszugehen, ihn am Kragen zu packen und vom Boden hochzureißen. Vielleicht würde er ihm dann auch gleich eine Kopfnuss verpassen. Jedenfalls fehlte dazu nicht mehr viel und nur der Gedanke an die herumliegenden Leichenteile hielt ihn von diesem Vorhaben ab.

»Die Brüche sind alle ganz frisch, soweit ich das erkennen kann. Ich vermute also, die Leiche hat bereits seit geraumer Zeit weiter oben gelegen. Vermutlich sogar vergraben.«

Der Lichtkegel der Taschenlampe leuchtete kurz nach oben.

»Der Erdrutsch muss den Torso mitgerissen haben. Durch den Sturz sind die Knochen gebrochen und jetzt liegt die skelettierte Leiche hier unten seit ein paar Stunden«, betonte Ewe und brach in schallendes Gelächter aus.

4

Die stickige Heizungsluft in seinem Büro im ersten Stock des Präsidiums bekam ihm gar nicht. Wenn er den ganzen Tag nicht an die frische Luft konnte, bekam er spätestens zu Mittag Kopfschmerzen. Das Problem an den alten Heizkörpern hier im Gebäude war, dass sie entweder gar nicht funktionierten oder sich nicht regulieren ließen und permanent heiße Luft produzierten. Sein Büro hatte inzwischen bereits 25 Grad. Florian stützte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Nach ein paar Minuten stand er genervt auf, lief zum Fenster und öffnete es. Ein Schwall frischer, eiskalter Luft und viele große weiße Schneeflocken strömten in das aufgeheizte Zimmer. Der weiße Puder legte sich auf die Fensterbank und schmolz augenblicklich.

Das Team der Spurensicherung war zusammen mit den Mitarbeitern der Gerichtsmedizin und heute mit den Helfern der bayerischen Bergwacht erneut zum Tatort gefahren, um die Leiche zu bergen. Da wäre er völlig fehl am Platz. Also musste er hier warten und hoffte, dass noch heute die ersten Ergebnisse vorliegen würden. Da Ewe ihm nicht sagen konnte und auch keine grobe Schätzung abgeben wollte, wie lange die Frau bereits tot war, blieb Florian nichts anderes übrig, als mehr oder weniger wahllos die ungeklärten Vermisstenmeldungen der letzten Jahre durchzusehen. Da er die Region schlecht eingrenzen konnte – die Frau konnte schließlich auch aus Berlin oder Hamburg stammen, schließlich war das Allgäu eine beliebte Ferienregion –, war die ganze Angelegenheit zum Scheitern verurteilt. Ewe hatte zwar gestern Abend bereits einige Proben genommen, die ihnen helfen würden, eine DNA zu ermitteln, aber auch hier lagen dem Hauptkommissar aus dem Labor noch keine Ergebnisse vor.

Nachdem Florian ein paarmal tief die frische Winterluft eingeatmet hatte, schloss er das Fenster und klopfte sich die Schneeflocken vom Pullover.

»Mein Gott, ist das kalt hier in deinem Büro«, hörte er eine Stimme hinter sich und fuhr erschrocken herum. In der Tür stand Christian Hanke, der Profiler aus München, mit dem er im letzten Jahr für mehrere Monate zusammengearbeitet hatte und der ihm dann zum Dank seine Freundin Jessica ausgespannt hatte. Florians Gesicht verfinsterte sich, doch Hanke schien es nicht zu bemerken.

»Ich dachte, ich könnte mich hier kurz aufwärmen und einfach mal Hallo sagen«, redete der Profiler unbeirrt weiter, schloss die Tür hinter sich und kam mit weit geöffneten Armen auf Florian zu. »Schließlich haben wir uns ein paar Monate nicht gesehen. Ich war gerade in der Gegend«, erklärte er weiter, blieb dann aber abrupt stehen und ließ die Arme sinken. Mit diesem wütenden Gesicht und den vor der Brust verschränkten Armen würde Florian seine angedeutete Umarmung sicher nicht erwidern.

»Ist irgendwas?«, fragte Christian jetzt leicht verunsichert.

Florian hyperventilierte fast vor Wut, biss die Zähne fest zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du hier hereinspaziert kommst«, zischte er und es klang bedrohlich, »und dann so tust, als wäre nichts gewesen.«

Hanke hätte verwunderter nicht aussehen können, ging zwei Schritte zurück und ließ sich auf den Stuhl vor Florians Schreibtisch sinken. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte zaghaft. »Geht es wieder um Jessica?«, fragte er schließlich vorsichtig, denn bereits im letzten Jahr war der Hauptkommissar phasenweise extrem eifersüchtig auf den Profiler gewesen, obwohl es dafür natürlich nie einen Grund gegeben hatte. Genauso wenig wie es jetzt einen gab, denn Christian Hanke hatte Jessica genau wie Florian seit Monaten nicht gesehen. »Hat sie dich wieder einmal abserviert?«

»Du verdammtes Arschloch«, war alles, was er hörte, bevor ihn ein gezielter Schlag mit der Faust in sein Gesicht vom Stuhl fegte und er der Länge nach auf dem Boden lag. Sofort stemmte er sich hoch und riss die Arme in die Höhe, um einen erneuten Schlag abwehren zu können. Doch Florian stand jetzt wieder am Fenster, hatte ihm den Rücken zugewandt und starrte hinaus, seine Arme über dem Kopf, die Hände in seinen Haaren am Hinterkopf vergraben. Er hörte ihn unverständlich fluchen und schwer atmen.

»Ich schließe aus deiner Reaktion«, sagte Hanke ruhig, aber leicht gereizt und sich das schmerzende Kinn reibend, »dass du und Jessica mal wieder eine Beziehungspause eingelegt habt. Liege ich mit der Vermutung richtig?«

»Eine Beziehungspause?«, fauchte Florian, fuhr wutentbrannt herum und wäre dem Profiler am liebsten an die Gurgel gegangen. »Was stimmt nur nicht mit dir, du elender Sauseckl, blödes Riesenarschloch. Stell di itt dümmer, wia d’ bisch!«

Christian Hanke dachte nach und starrte den Hauptkommissar dabei unverwandt an. Schließlich setzte er sich wieder auf seinen Platz auf den Holzstuhl vor dem Schreibtisch, ließ Florian aber nicht aus den Augen.

»Ich bin jetzt seit knappen drei Wochen wieder in Deutschland, davor war ich vier Monate mit meiner Frau und meiner Tochter in Neuseeland und davor«, betonte er, »warst du noch sehr glücklich mit deiner Jessica, soweit ich mich erinnere. Wann, bitte schön, soll ich dir mit deiner Freundin denn was auch immer angetan haben? Wenn du andeuten willst, ich und Jessica …«, er unterbrach sich und seufzte laut. »Ich schwöre, ich habe niemals auch nur das geringste Interesse an Jessica gehabt, das über eine freundschaftliche Ebene hinausgeht.«

 

Florian brummte verächtlich. Er glaubte Hanke kein einziges Wort. »Halt deine verdammte Klappe und verschwinde einfach!«

Es klopfte zaghaft an der Tür und Christian sah den Hauptkommissar fragend an, machte aber keine Anstalten, das Büro zu verlassen.

»Ja?«, sagte Florian nach kurzem Zögern und die Tür wurde vorsichtig aufgeschoben.

Jessicas Kopf erschien. Sie schaute suchend im Raum umher und entdeckte schließlich Christian und kurz danach Florian. »Christian? Was machst du denn hier? Bist du zurück aus Neuseeland?« Sie stürmte fast ins Zimmer und fiel dem Münchener Profiler zur Begrüßung spontan um den Hals. »Schön, dich zu sehen.« Dann löste sie sich aus der Umarmung und sah unsicher zu Florian hinüber.

»Was willst du hier?«, blaffte dieser sie rüde an. Jetzt erst sah er die Zettel, die Jessica in der Hand hielt.

»Das Labor hat erste Ergebnisse zu deinem Leichenfund in der Breitachklamm geschickt. Leider an Kommissar Kern und nicht an dich.« Ob sie bedauerte, dass sie hergeschickt wurde und so nicht vermeiden konnte, ihm zu begegnen, oder ob es lediglich eine Floskel war, die man halt so sagte, wenn das Labor mal wieder Faxnummern vertauscht hatte, konnte er nicht ausmachen, doch er nickte und nahm Jessica die Zettel ab.

Als die junge Hauptkommissarin grußlos sein Büro verlassen wollte, rief Christian ihr hinterher: »Hast du deinem Freund denn nicht ausgerichtet, dass ich ein paar Monate in Neuseeland und nicht erreichbar war? Er denkt jetzt, du würdest ihn mit mir betrügen.« Er lief zu ihr, baute sich vor Florians Ex-Freundin auf und versperrte ihr den Weg zur Tür.

Jessica schaute erst zu Florian, dann direkt in Christians Augen und zog fast unmerklich den Kopf ein. Dann nickte sie. »Ja, Christian, genau das sollte er auch denken«, flüsterte sie. »Es tut mir leid.« Dann drängte sie sich an ihm vorbei und verließ fluchtartig das Büro. Die Tür fiel krachend ins Schloss und Florian blieb völlig fassungslos zurück.

»Schick di, Alma!« Mit der flachen Hand schlug sie der Buntgescheckten auf ihr knochiges Hinterteil, drängte sich an der Kuh vorbei, trat in den Gang und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Dann zog sie ihr Kopftuch zurecht, wischte die Handflächen an ihrer Jeans sauber und machte sich auf den Weg ins Freie.

Die Arbeit im Kuhstall war anstrengend und sehr schweißtreibend. Nicht nur, weil die Mistgabel schwer war, sondern vor allem, weil die ganze Gülle und die großen Körper der Rindviecher die Luft im Stall aufheizten und man vor lauter Gestank kaum atmen konnte. Doch wider Erwarten mochte sie die Kühe, und auch das Melken und Misten machten ihr nichts aus. Kühe waren freundliche Wesen ohne jegliche Arglist oder Falschheit. Eben durch und durch positiv, trotz der widrigen Umstände, in denen sie lebten. Alma und die anderen Kühe hassten den Stall und wollten zurück auf die Weide, doch sie fügten sich mit stoischer Gelassenheit ihrem Schicksal. Im Februar war es einfach noch viel zu kalt da draußen.

Die Hühner dagegen waren anders. Dummes, flatterndes Federvieh, das zu nichts taugte, außer zum Eierlegen. Der Hahn konnte mit seinem penetranten Gekrähe Tote aufwecken, die Hühner scharrten den ganzen lieben langen Tag im Dreck und suchten Körner. Strunzdumm, das Geflügel. Sie mochte die Hühner nicht. Doch das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Ein paar unliebsame Begegnungen mit dem Flattervieh hatten ihre Schwiegermutter schließlich dazu bewegt, sie von dieser Arbeit zu befreien.

Der Hof, auf dem sie seit etwa einem Jahr lebte, war klein. Günther, ihr Mann, besaß gerade einmal acht Kühe, 20 Hühner, ein paar Gänse und zwei Schweine. Das meiste an Fleisch, Eiern und Milch diente dem Eigenbedarf, der klägliche Rest wurde im hofeigenen Laden verkauft, neben Marmelade, selbst geräucherter Wurst, Käse, Obst und Gemüse. Auch den Hofladen betrieb einzig und allein ihre Schwiegermutter Erna, ein herrisches altes Weib, das unzufrieden und immer griesgrämig aus der Wäsche guckte. Es war ein Wunder, dass der Laden so gut lief und sie nicht mit ihrem unhöflichen und unfreundlichen Auftreten die Kundschaft vergraulte. Hier in der Gegend kannte man halt Erna vom Lochbichlerhof.

Doch ohne die kleinen Aushilfsjobs, die ihr Mann Günther in der Umgebung verrichtete, würde der Hof nicht genug abwerfen, um zu dritt einigermaßen sorgenfrei zu leben. Er half anderen Landwirten bei der Ernte und war durchaus talentiert, die eine oder andere Landmaschine, die ihren Geist aufgegeben hatte, mit wenig Aufwand wieder zum Leben zu erwecken. Er hatte sich hier in der Gegend unentbehrlich gemacht, war allseits beliebt und seine Arbeitskraft wie auch seine Gesellschaft war gern gesehen. Neben dem ortsansässigen Schützenverein war er Mitglied im Kegelclub, spielte regelmäßig Karten am Stammtisch im Dorfgasthof und erledigte seine Aufgaben als gelernter Jagdhelfer. Wegen all dieser Tätigkeiten hielt er sich nur selten auf dem Hof auf, und das war es, was sie am meisten an ihm schätzte.

5

»Und ist deine Schätzung denn wirklich korrekt?« Florian hob die Hand und winkte der Kellnerin, die zwei Tische weiter ein älteres Ehepaar bediente, ihm jetzt aber freundlich zunickte und ihm so signalisierte, dass sie gleich an ihren Tisch kommen würde.

»Wenn ich eine Aussage treffe, ist das keine Schätzung, sondern eine exakte Bestimmung des Todeszeitpunktes. Außerdem wollten wir hier nicht über die Arbeit sprechen«, bemerkte Ewe leicht genervt und trank schnell den letzten Schluck des Bieres aus, denn die Kellnerin war schon auf dem Weg zu ihnen.

»Noch ein Weizen, bitte«, rief er ihr entgegen und sah dann zu seinem Freund.

»Für mich auch«, brummte Florian und hielt der jungen Frau an ihrem Tisch wortlos sein leeres Glas entgegen, ohne sie anzusehen.

Erwin Buchmann schüttelte verständnislos den Kopf. »Was ist denn los mit dir? Noch nicht einmal zwei Wochen bei der Arbeit und schon wieder urlaubsreif«, bemerkte er belustigt, als die Bedienung mit den leeren Gläsern und den Tellern abgezogen war. »In Zellamsi warst du eindeutig netter zu den hübschen Kellnerinnen. Und die eben war doch ganz süß.« Ihr gemeinsamer Urlaub im schönen Ort Zell am See in Österreich hatte eigentlich nur aus täglich zwei Stündchen Skifahren und vielen feuchtfröhlichen Stunden Après-Ski auf diversen Hütten bestanden. Florian konnte sich gar nicht erinnern, ob er in den zwei Wochen überhaupt mal richtig nüchtern gewesen war. Jedenfalls ist der liebevolle Begriff »Zellamsi« aufgrund der ständig schweren Zunge und der vielen arabischen und asiatischen Touristen, die es nicht besser wussten, einfach hängengeblieben.

»Zwölf Jahre liegt die Leiche der Frau schon in der Breitachklamm?« Florian ging auf die Bemerkung seines Freundes gar nicht ein. »Und die Todesursache?«

»Mein Gott, Florian, jetzt reicht’s aber.« Ewe sah ihn ärgerlich an. »Ja, zwölf Jahre. Todesursache war ein Genickbruch, DNA ist bestimmt. Steht alles im Bericht, den du dann morgen lesen kannst.«

»Aber …«

»Schluss jetzt. Trink!«, befahl Ewe, als die junge Kellnerin das Bier brachte und Florian zuzwinkerte. Der lächelte nur etwas gequält, griff nach dem Glas auf dem Tisch, aber anstatt einen Schluck zu nehmen, stellte er es zurück und ließ es gleich wieder los. Dann rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht.

»Mit der Arbeit lenkst du dich nur ab«, stellte Florians Freund besorgt fest. »Was ist los mit dir?«, wiederholte er, hob sein eigenes Glas und stieß es sanft klirrend gegen das zweite. »Trink!«

»Christian hat mich heute auf dem Präsidium besucht«, erwähnte Florian schließlich fast tonlos.

»Dass das Arschloch sich noch in deine Nähe traut, nach allem, was er dir angetan hat.« Ewe schüttelte fassungslos seinen Kopf. »Der ist sich wohl nicht bewusst, wie wir Allgäuer so etwas regeln. Der hätte sich leicht eine fangen können, der Idiot.«

»Hat er ja.«

»Was hat er?«

»Hab ihm voll eine …!« Ganz unbewusst rieb sich Florian die rechte Hand, die zur Faust geballt war, starrte dann auf seine Hände und fuhr sich schließlich nervös durchs Haar.

Als er aufsah, lächelte Ewe zufrieden und nickte. »Er hat es verdient«, schloss der junge Gerichtsmediziner und nickte zur Bekräftigung seiner Worte. »Niemand spannt einem Allgäuer ungestraft seine Freundin aus.«

»Das ist ja das Problem«, fuhr Florian nach kurzem Zögern fort. »Die Sache mit Jessica ist nie passiert.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ach, scheiße, Mann. Jessica hat mich nicht betrogen. Das hat sie nur behauptet, um mich ganz schnell loszuwerden. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum.«

»Versteh mir einer die Frauen«, sagte Ewe nach kurzem Zögern und versuchte noch einmal, seinen Freund zum Trinken zu animieren, indem er sein Weizenglas anhob und ihm zuprostete.

»Wem sagst du das.« Florian nickte heftig. »Ich hab ja schon Schwierigkeiten, die Allgäuer Frauenwelt zu verstehen, aber die norddeutschen Frauen sind um Längen schlimmer. Es ist, als würde man eine andere Sprache sprechen.« Dann griff er endlich nach seinem Bierglas, hielt aber erneut inne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass er angestrengt nachdachte. Schließlich nickte er erneut. »Es ist tatsächlich eine andere Sprache, die wir sprechen. Es ist nicht gut, sich mit Frauen einzulassen, die eine völlig andere Mentalität haben als man selbst. Schluss mit der Sache. Prost, Ewe.«

Der Gerichtsmediziner trank einen großen Schluck aus seinem Glas und sah seinen Freund dann lange und durchdringend an. Er begriff, dass Florian mit der Angelegenheit noch nicht abgeschlossen hatte und Jessica nicht so leicht aufgeben konnte, wie er behauptete.

»Du bist mein Freund, also darf ich es geradeheraus sagen: Du bist ein Idiot, wenn du nicht siehst, dass du und Jessica, dass ihr euch ähnlicher gar nicht sein könnt. Beide Sturschädel, beide rechthaberisch, beide starke Persönlichkeiten, die sich nie etwas sagen lassen. Gleiche Mentalität – gleiche Art Probleme zu lösen, nämlich durch Vermeidung und Weglaufen. Daran kann es also wirklich nicht liegen! Ihr sprecht absolut die gleiche Sprache!«

»Gibt es schon Neuigkeiten von der Staatsanwaltschaft?«, wollte Hauptkommissar Kern wissen. Er saß wie üblich in seinem bequemen Lederstuhl hinter seinem Schreibtisch und nippte vorsichtig an der Tasse mit dem heißen Kakao, den Jessica ihm aus der kleinen Teeküche im zweiten Stock mitgebracht hatte. »Sobald wir die Unterschrift haben, planen wir den Einsatz. Reischmann und Willig sind mir als Unterstützung zugeteilt.«

»Noch ist nichts gekommen. Ich kann noch mal anrufen«, bot Jessica an und griff schon nach dem Hörer.

»Himmel, nein. Es ist doch schon 14 Uhr«, fuhr Kern dazwischen. »Wenn wir den Wisch in der nächsten Stunde kriegen, dann müssen wir heute noch los.« Er schüttelte heftig den Kopf und lächelte dann wissend. »Sie müssen noch viel lernen, Fräulein Grothe.«

Jessica drehte sich um und rollte mit den Augen, atmete tief ein und aus und ging dann zurück zu ihrem Schreibtisch. Was dachte ihr Kollege sich nur dabei, sie »Fräulein« zu nennen. Sie war doch nicht seine Sekretärin oder gar Dienstmagd. Bereits mehrmals hatte sie daran gedacht, ihm das Du anzubieten, um diese ungeliebte Anrede zu umgehen, doch das konnte sie nicht tun. Er war beinahe doppelt so alt wie sie. Das gehörte sich einfach nicht.

»Wäre es nicht besser, wir würden abends die Razzia durchführen, Herr Kern?«, schlug sie zum wiederholten Male vor. »Immerhin geht es um einen Club. Da ist doch am Nachmittag noch nichts los.«

»Und das ist gut so«, bestimmte Hauptkommissar Kern und nickte. »Ich stürme bestimmt keinen Puff mit zwei Frischlingen und einer zierlichen Blondine, Fräulein Grothe. Haben Sie eine Vorstellung, was dort für ein Gesocks rumhängt? Da müsste ich um unser aller Sicherheit fürchten.«

»Erfahrungsgemäß kann ich da nur sagen, dass abends die Wahrscheinlichkeit höher ist, die großen Fische zu erwischen. Und das ist doch der Sinn der Sache, oder?«

»Nicht für mich«, sagte Kern lächelnd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ob wir jemanden verhaften oder nicht, ist völlig irrelevant. Die Kriminalitätsrate wird durch zwei oder drei Verhaftungen mehr kaum merklich sinken. Das ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. Sie müssen da viel entspannter werden, Fräulein Grothe.«

»Hören Sie verdammt noch mal auf, mich ›Fräulein‹ zu nennen«, explodierte Jessica urplötzlich. »Ich heiße Frau Grothe, oder eben Jessica, Herr Kern!«

 

Der Hauptkommissar stand langsam von seinem Platz auf und ging mit versteinerter Miene um den Schreibtisch herum, verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte seine junge Kollegin wortlos an.

Und Jessica starrte ungeniert zurück.

Dann lächelte Kern etwas überheblich. »Eine andere Anrede als diese müssen Sie sich bei mir erst einmal verdienen, Fräulein Grothe!«

Alexander Richter sah den Hauptkommissar kritisch von oben bis unten an.

»Falls du vorhast, am Training teilzunehmen«, begann er und grinste breit, »kann ich dir sagen: Gegen meine Jungs siehst du echt alt aus, Flo.«

»Sehr witzig, Alex.«

Die letzten zwei Arbeitstage waren hart gewesen. Das lag weniger daran, dass die Arbeit besonders stressig war, als vielmehr an der Tatsache, dass er nach dem Abend mit Ewe einfach zu wenig Schlaf bekommen hatte. Heute hatte er frei, hatte endlich mal wieder sieben Stunden am Stück geschlafen und genoss den Tag bei einer ausgiebigen Joggingrunde durch Durach und am Sportplatz vorbei. Die kalten Temperaturen machten ihm wenig aus. Es hatte seit zwei Tagen nicht mehr geschneit und die Wege waren gut geräumt und gestreut.

»Warum trainierst du draußen? Ich dachte, Rugby ist so ein Ding mit auf den Boden werfen und sich im Dreck suhlen. Das könnte bei den Minusgraden und dem gefrorenen Rasen sehr schmerzhaft werden.« Florian beobachtete die Jungs, die in einer großen Runde am Rand des Spielfeldes entlangliefen und sich dabei lachend miteinander unterhielten. Keiner der jungen Männer war älter als 25 Jahre, schätzte er, doch nahezu alle waren muskelbepackt und extrem durchtrainiert und breitschultrig.

»Die Jungs laufen sich nur ein wenig warm, dann geht’s zum Krafttraining«, erklärte Alex und brüllte ein paar Befehle über den Sportplatz. »Außerdem verwechselst du diese Sportart wohl mit American Football. Rugby ist ein sehr taktisch geprägter Sport. Gibt es eigentlich schon etwas Neues im Wiedemann-Fall?«

Florian schüttelte den Kopf. »Auf den Überwachungsvideos, die du uns gegeben hast, ist nichts Verwertbares zu finden. Einmal sieht man einen Schatten, mehr nicht. Wieso ist die Haustür eigentlich nicht visuell überwacht, wenn doch ansonsten das ganze Haus von allen Seiten gefilmt wird?«

»Ja, das ist auch so eine Sache.« Alexander Richter lehnte sich rückwärts an den Zaun, der den Sportplatz von der Straße abtrennte, und rieb sich mit der rechten Hand über das Gesicht.

»Das Gerät ist zwei Tage vor dem Vorfall ausgefallen, ausgerechnet«, fluchte Alex und ballte die Hände zu Fäusten.

»Ist euch das bei Richter Security denn nicht aufgefallen?«, fragte Florian und begann, ein wenig auf der Stelle zu hüpfen. Wenn er sich bei diesen Temperaturen nicht bewegte, war es trotz langer Unterhose, Schal und Mütze in seiner Joggingkleidung ziemlich kalt.

»Natürlich ist es uns aufgefallen«, erklärte der Rugbytrainer. »Wir haben Dr. Wiedemann auch umgehend informiert, doch er wollte aufgrund seiner mehrtägigen Abwesenheit die Reparatur erst eine Woche später vornehmen lassen. Jetzt allerdings behauptet er, er hätte nicht einschätzen können, wie gefährlich so eine ausgefallene Kamera für die Sicherheit seines Hauses und seiner Frau ist. Er droht, Richter Security zu verklagen, weil wir die Situation unterschätzt und ihm nicht eindringlich genug die Risiken vermittelt hätten.« Nun seufzte er vernehmlich.

»Glaubst du, die Kamera ist absichtlich zerstört worden?«, fragte Florian. »Das würde hervorragend zu einem geplanten Einbruch passen.«

»Kann sein. Wir überprüfen das Gerät gerade. Aber ist denn überhaupt etwas gestohlen worden?«

»Monika Wiedemann, die Ehefrau, vermisst ihre Kette. Irgendein mit Diamanten besetztes Teil aus Platin. Ist laut Expertise über 25.000 Euro wert. Mehr fehlt scheinbar nicht.«

»Oh Mann, das ist nicht gut für das Image meiner Firma«, bemerkte Richter, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken und kniff die Augen fest zusammen. »Scheiße.«

»Wird schon, Alex.« Florian boxte ihm aufmunternd gegen den Oberarm. »Ich muss weiter. Ruf mich an, wenn du weißt, was mit der Kamera passiert ist, okay?«

Als Alexander Richter nickte, hob Florian zum Gruß noch einmal die Hand und setzte seine Joggingrunde fort.