Vernunft und Offenbarung

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Leo Baecks Theorie des Judentums als Vollendung der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik
I.

In den Arbeiten Leo Baecks über das Judentum hat die Theorie Wilhelm Diltheys, bei dem Baeck mit einer Arbeit über Spinoza promoviert hatte, ihren idealen Anwendungsfall gefunden. Dilthey hatte um die Jahrhundertwende den sich inzwischen konsolidierenden Geisteswissenschaften nicht nur ein methodologisches Gerüst, sondern damit zugleich eine Theorie ihres Selbstverständnisses geboten. Darin wollte er vermittels einer empirischen Transformation von Hegels Theorie des Geistes die Ausprägungen kultureller Gehalte in ganzen Lebensvollzügen sowohl in ihrem inneren Zusammenhang als auch insbesondere in ihren Auswirkungen auf die Individuen, die einer solchen Kultur angehörten, verdeutlichen. Wenn über Baecks Beziehung zu Dilthey gehandelt wird, wird meist Diltheys Theorie der Polaritäten, das heißt einander entgegengesetzter geistiger Strömungen, in den Mittelpunkt gestellt sowie dessen Methode eines nachvollziehenden Verstehens der Sinngehalte einer Kultur beziehungsweise der ihre Individuen motivierenden geistigen Kräfte. In Diltheys Argumentationsfigur des hermeneutischen Zirkels – gemäß dem sich Selbstverständnis und Handeln der Individuen aus dem Ganzen der Kultur, in der sie leben, erschließen lassen, während sich umgekehrt der Sinngehalt einer ganzen Kultur nur aus den Lebensvollzügen ihrer Individuen erschließen läßt – wurde Hegels spekulative Theorie der Volksgeister, das heißt übergeordneter geistiger Strukturen, in ein einzelwissenschaftlich bearbeitbares Forschungsprogramm umgewandelt.

Leo Baecks nicht nur wissenschaftliches Verständnis des, seines Judentums basiert auf diesem Programm einer romantischen, weil einfühlenden Hermeneutik auch noch dort, wo er sich selbst äußerst kritisch mit dem, was er für Romantische Religion hält, auseinandersetzt. Auch die in dieser Schrift getroffene Unterscheidung zwischen klassischer und romantischer Religion ist noch dem romantischen Programm verhaftet, wonach die gelingende Einfühlung – und was anderes ist das als ein methodisch eingesetzter Affektgebrauch? – Typen und Strukturen geistigen und das heißt wirklichen Lebens erschließt. Diesem Programm ist Leo Baeck, der seit 1894 bei Wilhelm Dilthey studiert und nur ein Jahr später bei ihm mit einer Arbeit über Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland 1895 promoviert wurde, Zeit seines Lebens treu geblieben. In seinen Hauptwerken – angefangen mit dem Wesen des Judentums aus dem Jahr 1905, bis zu Dieses Volk. Jüdische Existenz, das in seiner abschließenden Fassung 1957 erschien – bleibt er einer ansonsten eher impliziten methodischen Maxime treu, die er jedoch im Vorwort zur zweiten Auflage des Wesens des Judentums, erstmals erschienen 1906, dann wiederaufgelegt im Jahre 1921, folgendermaßen entfaltet hatte. Im Ausgang von der platonisch klingenden Annahme, daß, wer das Wesen erkennen wolle, etwas als das Ganze betrachten und den Blick auf die Entwicklung einer Grundkraft richten solle, die das Treibende des in den einzelnen Erscheinungen wirkenden geschichtlichen Lebens bewirke, charakterisierte Baeck das Wesen des Geschichtsforschers:

„Er will zusammenschauen, auf das Offenbarende und Bestimmende, auf das Organische den Blick richten, auf das, wovon alles Wachstum, alle Entwicklung kommt und was in allem Wachsen und aller Entwicklung sich entfaltet; er will das Treibende, die Grundkraft erfassen, die in einzelnen Erscheinungen eines großen geschichtlichen Lebens wirkt. Die Einheit und damit der Zusammenhang in einem geistigen Geschehen, sein Prinzip soll dargelegt werden. Das Historische und Systematische, das Wissen von den Tatsachen und die Erkenntnis der Ideen, verbinden sich hierzu miteinander und führen einander…“55

II.

Mit dieser methodologischen Einlassung trifft Baeck eine folgenschwere Vorentscheidung: historische Phänomene wie Religionen, Nationen oder Kulturen sollen letzten Endes auf eine Grundkraft, ein Prinzip reduziert werden oder umgekehrt: das, was sich in einer gegebenen Kultur als vielfältig oder sogar unübersichtlich erweist, gilt als Epiphänomen, als Oberflächenphänomen, hinter dem sich ein nachvollziehbares und verstehbares, aus einem Prinzip resultierendes Geschehen verbirgt. Es ist kein Zufall, daß Baeck hier Metaphern des Organischen bemüht: Kulturen und das hinter ihnen stehende Prinzip verhalten sich ebenso zueinander, wie der Phänotyp von Lebewesen, etwa Pflanzen, zu ihrem Genotyp. Für ein kulturwissenschaftliches und historisches Forschungsprogramm bedeutet die Wahl dieser Metaphorik nichts anderes als den systematischen Ausschluß der wechselseitigen Beeinflussung von Kulturen, die Betonung ihrer inneren Abgeschlossenheit und Vollständigkeit sowie die Negation einer möglichen Überdeterminiertheit und damit Kontingenz ihrer Artikulationen. Für eine mindestens dem Anspruch nach auch empirisch orientierte Kulturwissenschaft ist damit der Weg der Konstruktion gewiesen, gerade so wie noch die Geschichtsphilosophie, namentlich Hegel, einzelne Volksgeister idealtypisch bestimmt und als relative Wirklichkeit postuliert hatte. Der Gewinn der historizistischen Wende der Droysen, Ranke und Dilthey, die gegen die Konstruktion eines Volksgeistes alleine aus dem Gedanken, mindestens auch das Eigengewicht der Quellen und anderer Zeugnisse der Vergangenheit zu ihrem Recht kommen lassen wollten.

Freilich will der Schüler Diltheys dem historischen Material seinem konstruierenden Zugriff entgegen doch so viel Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er die Stimmen der Quellen zumindest zur Kenntnis nimmt und das heißt – wiederum in der Sprache der Schule – sich um ein Verstehen des Materials bemüht. Dieses Verstehen deutet Baeck psychologisch:

„Es ist die Geschichtspsychologie, die sich an dieser Aufgabe erweisen will. Dem Ganzen, das sie mit ihrer Methode zu erschließen sucht, kann irgend ein Einzelnes, irgend eine Zeit oder irgend eine Gestaltung widersprechen, so wie ein Schritt oder auch ein Pfad der Richtung widersprechen kann, die zuletzt doch festgehalten bleibt und weitergeht.“56

Aber auch die vermeintlich empirische Methode des individuellen Nachvollzugs geistiger Gebilde bleibt letzten Endes dem Konstruktionsprinzip verhaftet und damit von einer empirischen Überprüfung ausgeschlossen. Wenn gegenläufige Tendenzen im Material von allem Anfang an als unerheblich und in ihrer widersprüchlichen Richtung als quantité negligéable angesehen werden, lastet alles auf der Konstruktionskunst des Historikers beziehungsweise auf seinen kritischen und wegweisenden Fähigkeiten, also darauf, wie er dem geschichtlichen Ganzen seinen Sinn zumißt:

„Das Wesen aufzeigen, bedeutet daher zugleich, den Weg aufweisen, der allein der Weg der Zukunft sein kann. Jede Selbsterkenntnis befaßt auch immer eine Forderung an sich selbst, sie spricht das Gebot des Lebens, das Gebot der Geschichte aus; ein Erinnerndes, ein Vorwärtsführendes ist in ihr. Das gilt vom Individuum und es gilt von allem großen geistigen Leben, von der Religion auch, wenn anders sie ihr Wesen, ihr Schöpferisches hat.“57

Dabei ist sich Baeck durchaus der Heterogenität des historischen Materials bewußt. Anläßlich einer Überlegung über den Eingang „fremder Vorstellungen“, kurz, von Worten und Begriffen, die das Judentum im Lauf seiner Geschichte aufzunehmen hatte, erkennt er den nichtisraelitischen Ursprung des Wortes „Nabi“ (Prophet), jedoch nur, um zu betonen, welche „originale Kraft“ und welchen „Gedankenbesitz“ es in Israel erhalten habe. Diese Kraft zur Assimilation heterogener Inhalte und Begriffe schreibt Baeck der „gestaltenden Kraft des israelitischen Genius“58 zu, der sich kaum an Fremdes verloren, sondern seinen eigentümlichen „Charakter“ im Lauf der Zeiten nicht geändert habe. Die israelitische Religion, die Baeck nicht klar vom Judentum trennt, war durch eine vorgezeichnete Grenze von allem Fremden getrennt, gegen das sie oft einen langen und harten Kampf zu kämpfen gehabt hatte, der keineswegs immer mit dem gleichen Erfolg geführt worden sei. Zeiten der Gefahr und Versuchung seien im Gegenteil Zeiten der weiteren Herausbildung der religiösen Eigenart gewesen. Diese Eigenart bestimmt Baeck vor allem, ohne es hier schon namentlich zu nennen, in Abhebung vom Christentum, das durch den Glauben an Geheimnisse und Dogmen gekennzeichnet sei, durch ein von höheren Autoritäten verbürgtes „Glaubensgut“. Im Unterschied dazu kenne das Judentum weder Heilstatsachen noch Gnadengaben, noch einen einmaligen, Erlösung verbürgenden Glaubensakt, sondern sei eine wesentlich undogmatische Religionsphilosophie, der auf der anderen Seite das Gebot, das Rechte zu tun, entspreche. Der Inhalt, das Thema dieser Religionsphilosophie, der monotheistische Gedanke jedoch – und hier hat Baecks Geschichtspsychologie ihren Ort –, sei vor allem von „Persönlichkeiten“ geprägt: „Israels nicht unwesentlichste Selbständigkeit“.59 Persönlichkeiten aber sind Menschen, die nicht das bleiben, was sie geworden sind, sondern etwas aus ihren Erkenntnissen und Vorzügen erwachsen lassen. Die Lektüre der Heiligen Schrift, namentlich der Erzväter und der großen Schriftpropheten verweist auf den Gedanken einer durch „Persönlichkeiten bestimmten Entwickelung“, womit das Programm einer historischen Psychologie angesprochen ist, das Baeck aber als solches nicht entfaltet hat, sondern am konkreten Beispiel der „prophetischen Religion“ entwirft.

III.

Baecks Methode läßt sich also als ein auf historisches Material gestütztes, konstruktives Verfahren kennzeichnen, das den Eigensinn mindestens des jüdischen Volksgeistes beziehungsweise der jüdischen Religion durch den Eigensinn inspirierter, an einem oder zwei zentralen Gedanken orientierter Persönlichkeiten erklären will, wobei die Frage, wie diese Persönlichkeiten zu ihren Gedanken kommen, beziehungsweise unter welchen Umständen diese Persönlichkeiten zu dem werden konnten, was sie schließlich geworden sind, offen bleibt, oder vielmehr durch sich selbst erklärt wird: „Die Religion ist ihnen der Sinn, der erste innerste Kern ihres Daseins, nichts Äußerliches und nichts Hinzugekommenes, nichts Erworbenes und nichts Gelerntes.“60 Der Glaube als seelisches Leben vermochte die Propheten deshalb zum unnachgiebigen und unerschütterlichen Verkünden ihrer Botschaft zu bewegen, weil dieser Glaube – so drückt sich Baeck aus – seine Sicherheit und Rechtfertigung in sich selbst trug. Dabei bleibt freilich offen, was es heißen soll, daß ein Glaube seine Rechtfertigung in sich selbst trägt. Kann die Rechtfertigung eines Glaubens wirklich in sich selbst bestehen? Es scheint als verwechsele Baeck hier in folgenreicher Weise ein je subjektiv gefühltes Evidenzerlebnis mit einer wie auch immer von Gott erlassenen und dadurch beglaubigten Botschaft. So jedenfalls berichten es die biblischen Schriften selbst. Am Übersehen dieses Umstandes, am Übergehen der in dieser Hinsicht unbezweifelbaren Textgrundlage wird deutlich, wie hoch der Preis ist, den Baeck für seine von Dilthey übernommene Psychologisierung entrichten muß. Wie die meisten jüdischen Religionsphilosophen jener Epoche, namentlich Hermann Cohen, sieht auch Baeck das Wesen des Judentums minder in einem spekulativen Monotheismus, denn in einer gefestigten, universalistischen Sittlichkeit begründet. Indem er aber die auf dieser Einstellung sockelnde Religion umstandslos in den Begriff des „Lebens“ überführt, und dieses Leben nicht als Leben des Geistes, sondern als Leben des Einzelnen – in diesem Fall jenes prophetischer Menschen – bestimmt, ist er gezwungen, einen nicht weiter reduzierbaren Kern jeder menschlichen Persönlichkeit zu beschwören, die indes systematisch unbestimmt bleiben muß: „Es ist der über alles Wissen und allen Witz erhabene Rest, worin jeder wahre Mensch sein innerstes Persönliches hat.“61 Die methodische Maxime zum Verstehen der biblischen Schriften besteht daher darin „Menschen zu begreifen“. Wie aber, so möchte man fragen, soll das möglich sein, wenn der innerste Kern dieser Persönlichkeiten seinerseits einem rationalen Verstehen nicht zugänglich ist? Des Rätsels Lösung ist wiederum der Begriff des Lebens, des Weges Gottes zum Menschen, der auf die Klarheit, den Weg des Menschen zu Gott trifft. Hier wird deutlich, daß der Begriff des Lebens, ohne jemals präzise ausgewiesen zu sein, die Funktion eines theoretischen Passepartouts spielt, der stets dort, wo die Kette rationaler Argumentation abreißt und Glaubenssätzen den Raum überläßt, einspringen muß. Dabei hat Baeck später, 1932, zugunsten dieser lebensphilosophischen Argumentation in Theologie und Geschichte vorgebracht, daß es der Gedanke der Aktualisierung und Vergegenwärtigung des Glaubens über die Erstarrung des Historismus hinweg sei, der zur damals auch im Protestantismus aufbrechenden Vergegenwärtigungstheologie nötigte.62

 

IV.

Nun hat Baecks Werk, trotz einer beeindruckenden Einheitlichkeit, doch eine Entwicklung durchlaufen, weshalb an einer seiner durchdachtesten und systematischsten Arbeiten, der 1922, zehn Jahre vor Theologie und Geschichte entstandenen Romantischen Religion zu überprüfen ist, ob die im Wesen des Judentums angelegten theoretischen Kurzschlüsse im Sinn einer stringenteren Argumentation behoben sind.

In der Romantischen Religion wird nun das, was noch im Wesen des Judentums als von innen her treibende Kraft jeder Religion postuliert wurde, auf die Objektseite gerückt, freilich so, daß eine bestimmte Art religiöser Erfahrung als „romantische“ kritisiert wird, während die Ausdrucks- und Erlebnisformen der „klassischen“ Religion gerechtfertigt werden. Einen um Objektivität auch nur bemühten, methodologischen Standpunkt jenseits von „romantischer“ und „klassischer“ Religion kann Baeck nicht vorweisen – seine Kritik der romantischen Religion setzt sogleich material ein, ohne sich vergewissert zu haben, daß sie genau jenes vermag, ohne das der geisteswissenschaftliche Forscher nicht auszukommen im Stande ist. Die Romantik sei besonders geeignet, den Stimmen früherer Tage zu lauschen, daß sie „mit ihrer Empfindungsfülle allem Menschengemüt in seinen Falten und Geheimnissen nachzusinnen, sich in die Individualitäten hineinzufühlen vermag.“63 Diese nun die historische Wissenschaft allererst ermöglichende Haltung wird aber später, wo sich Baeck ausdrücklich mit „jeder Romantik“ auseinandersetzt, der Unfähigkeit geziehen, das „Kulturproblem“ zu lösen. Romantik, das ist in Baecks Augen Selbstsucht und Genußsucht, eine ethisch unverantwortliche Haltung, die sich alleine der Hinwendung zum Fühlen der einzelnen Individuen, dem Selbstgenuß widmet und dabei das Arbeits- und Kulturleben, ja jeden Lebenszusammenhang entwertet. Der romantischen Religion, für Baeck am reinsten im paulinischen Typ der Frömmigkeit sowie in Luthers Glaubenserfahrung verkörpert, fehle jedes Motiv und jede Notwendigkeit, sich dem Staats- und Wirtschaftsleben zuzuwenden und damit sei sie aus internen, strukturellen Gründen unfähig, das „Kulturproblem“ zu lösen:

„Immer bleibt die lebendige Kultur ein Draußen, ob nun deshalb, weil sie, wie dort, bestritten wird, oder, wie hier, weil kein gerader gewiesener Weg zu ihr hinführt… Der eigentlich romantische, paulinische Glaube mit seiner Heteronomie des Lebens, mit der Passivität, auf die er sich gründet, kann einer Kultur, zumal der sozialen, die ihre Daseinskraft in dem Gebote der Verwirklichung hat, das an den Menschen ergeht, nur fremd gegenüberstehen. Er kann nicht prinzipiell, sondern nur nachträglich den Aufgaben gerecht sein, die die soziale Aufgabe dem Menschen stellt.“64

Die romantische Religion, die Baeck am reinsten im Christentum mit Ausnahme des Calvinismus verkörpert sieht, kulminiert im Glauben an den einzigartigen Tod Jesu, die Heiligung von Sakramenten, damit an Autorität und Dogmen wie Sentimentalität. Dogmen und Autorität fungieren mit all ihren freiheitseinschränkenden Elementen als notwendiges Gegengewicht wider eine religiöse Haltung, die jedes bestimmende innere Gesetz ablehnt. Daher rührt auch die Zentralität des Erlösungsbegriffs in der romantischen Religion, die freilich mit den „Mühen und Aufgaben des inneren Lebens“65 nichts zu tun habe und von innerem Ringen und Gewissenskämpfen nichts wisse, ebensowenig wie von menschlicher Freiheit. Indem die romantische Religiosität den Erlösungsgedanken in die Gottheit selbst hineintrage, verlängere sie die menschliche Selbstsucht und komme so zu einem Gott, der paradoxerweise in seinem Kreisen um sich selbst den Menschen nicht beistehen könne. Dabei weiß der Kritiker dieser Metaphysik, daß jedenfalls bei Paulus selbst erhebliche Bestandteile der alttestamentlichen Ethik vorhanden sind. Diese Analyse scheint mit dem missionarischen Auftrag der Kirche, sich um das Wohl nicht nur des Nächsten, sondern aller Menschen zu kümmern, auf den ersten Blick unvereinbar. Baeck zögert nicht, diesen Missionierungsdrang den jüdischen Wurzeln des Christentums und die Fortsetzung der Mission nach dem dritten Jahrhundert dann vor allem den Eigeninteressen dieser Institution, Zwang und Kontrolle auszuüben, zuzuschreiben. Der Umschlag von Empfinden in Zwang schließt nach Baeck notwendig einen Kreis:

„Daß das Empfinden alles bedeuten soll, darin liegt das Eigentümliche, das Wesentliche der Romantik. Es kann ihre Kraft sein, daß sie sich versenkt, daß sie aus starken Gefühlen schöpft, und es ist ihre Zartheit, daß sie das Schwebende, Webende erfährt.“66

Das ist nicht ohne Wärme gesprochen und Baeck, der als Schüler Wilhelm Diltheys mit dem Werk Schleiermachers aufs Beste vertraut war, weiß wovon er spricht. Als ob er jedoch schließlich merkte, daß er mit seiner Kritik der romantischen Gefühlswelt auch seinem eigenen wissenschaftlichen Werk den Boden unter den Füßen hinwegzieht, sieht er sich schließlich genötigt, den eigenen, selbst proklamierten Klassizismus so zu modifizieren, daß die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses irrationaler Kräfte möglich wird. Der Preis für diese Rettung aus einem selbst zu verantwortenden Dilemma besteht in einer nun wahrlich irrationalistischen Lebensphilosophie, die ihren Halt alleine in der Eindeutigkeit des Gesetzes findet: Für die klassische Religion offenbare sich das Seiende „aus dem Irrationalen hervor, dem Ich zurufend, dieses Wirkliche und Gebietende, das, worin alles, was ist und sein soll, verwurzelt ist, das, worin Geschöpf und Schöpfer sich treffen. In ihr ist das Irrationale die tiefe Wahrheit des Lebens, der tiefe Grund darum auch des Gesetzes, die tiefe Bürgschaft der Gewißheit, der ‚Arm der Ewigkeit‘, der alles umfaßt. In ihr bedeutet es das Heilige, diesen Bund zwischen dem Ewigen und dem Menschen.“67

Gerade im Unterschied zur romantischen Religion komme so die klassische Religion zu einer angemesseneren Auffassung des Irrationalen, insofern sie in ihm jene wahrhaft unableitbare Größe, nämlich das Leben selbst, identifiziere. Sich in diesem Leben, Gottes Gebote verwirklichend, zu sittlichen Zielen zu bestimmen, verweist auf eine Zukunftsorientierung, der es der romantischen Religion, die nur auf ihren göttlichen Ursprung zurück hin ziele, ermangele. Inwieweit diese Charakterisierung dem Werk Paulus’ und Luthers wirklich angemessen ist, sei hier dahingestellt; daß zumindest das frühe Christentum, nicht anders als Teile des gleichzeitigen Judentums, die Zukunft durchaus, wenn auch in apokalyptischer Hinsicht, in den Blick nahm, konnte Baeck kaum entgangen sein.

V.

In seiner 1938 erschienenen Studie über Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, der wohl ersten von profunden Kenntnissen getragenen neutestamentlichen Studie eines gläubigen Juden, sieht sich Baeck vor der Aufgabe, Überlieferungsgeschichte und Überlieferungskritik so zu betreiben, daß der jüdische Charakter des Christentums unübersehbar wird. Das scheinbar paradoxe Entstehen der romantischen Religion par excellence, des Christentums, aus der klassischen Religion par excellence, dem Judentum, erklärt sich dieser jüdische Neutestamentler hier mit einer eigentümlichen Theorie der Tradition, in der sich das geisteswissenschaftliche Programm mitsamt seiner Feier der schöpferischen Individualität vollendet:

„Alle Tradition hat ihre Schicksale, und im Judentum jener Tage sind sie an ihr ganz eigentümlich aufgezeigt. Sie ist Menschen anvertraut, und sie geht damit durch menschlichen Geist, durch menschliche Individualität, an der sie sich bricht, hindurch. Ungewollt und unbewußt gibt der Überliefernde von dem Persönlichen, Eigenen, dem Kleinen oder Großen, das in ihm ist, von seinen Hoffnungen, seiner Sehnsucht und seinem Glauben das hinein, was er als Wort oder als Erlebnis des Meisters in seiner Erinnerung trägt.“68

Die menschliche Individualität also schafft die Tradition – es sind weniger die vorgegebenen Inhalte und Themen denn die Art und Weise, wie die Individuen sie, bewußt oder eben unbewußt, verändern. Indem an dieser Stelle der Tradierungsprozeß auf unbewußte, ja, ungewollte Modifikationen seitens der Empfänger der Botschaft umgestellt wird, erhält zugleich das von Baeck gezeichnete Bild dessen, was eine Persönlichkeit ist, neue Konturen. Ganz im Einklang mit seiner lebensphilosophischen Theorie des Irrationalen werden Menschen, werden Persönlichkeiten damit zu in ihren Strebungen mindestens partiell verständlichen Autoren ihres Werks, aus dem sie letztlich ihre Bedeutung erhalten. Dabei ist die Frage nach dem eigentümlichen Spannungsverhältnis von vorgegebener Überlieferung und individueller Weiterentwicklung Baeck bewußt: dort, wo die Überlieferung nicht in einen strengen Rahmen gestellt ist, „hat nur zu leicht die Seele des Überliefernden hinzugefügt und hinweggenommen und umgeformt.“69 Über Wahrheitsansprüche der je nachdem geschlossen überlieferten oder individuell modifizierten Texte ist damit nichts gesagt – in der Logik des Programms läge es, sie in eben diesen individuellen Einschüssen zu sehen. Die Quellen werden genau dann verändert und damit neu geschrieben, wenn die jeweilige Überlieferung sich auf die „letzten und endgültigen Fragen des Lebens und damit zu dem Entscheidenden und Persönlichsten des Überlieferten hinbewegt.“70 Entscheidungszwang der Lebensführung und fromme, dichtende Phantasie schießen so zu neuen Verbindungen von Gedanken und Bildern zusammen, „wie er sich in jedem Geiste regt, und wie er dem jüdischen Denken damals besonders eigen war.“71 Die Analyse der neutestamentlichen Schriften gibt Baeck so die Gelegenheit, seine eigene Variante des von Wilhelm Dilthey methodologisch eingeführten hermeneutischen Zirkels zu entfalten. Widerstreit und Zusammenspiel von Individuum und vorgebenem Text, der seinerseits als Korpus mythischer Erzählungen Handlungsmöglichkeiten vorgab, ermöglichen es den jeweiligen Lesern und Hörern, ihr eigenes Geschick in bereits vorgegebenen Mustern zu deuten, während die vorgegebenen Texte durch die aktualisierende Interpretation neues Leben erhalten:

 

„Im Heute formte sich die alte Kunde, in dem Tag, durch den man schritt, gewann das, was die Bibel erzählte oder was man durch frühere Geschlechter gehört hatte, seinen Sinn und seine Zeichnung. Vergangenheit wurde zur Gegenwart, Gegenwart zur Vergangenheit, die Jahrhunderte waren überbrückt.“72

Baeck bemüht diese Theorie, um das Entstehen der neutestamentlichen Überlieferung aus dem biblischen Judentum heraus zu plausibilisieren und es wird zu überprüfen sein, ob er die gleiche Gedankenfigur auch auf den Prozeß der innerjüdischen Überlieferung anwendet, oder ob er diese auf unbewußte Aktualisierung hin angelegte Hermeneutik nur dort aufbietet, wo es darum geht, einen deutlichen, konfessionellen Bruch in der Überlieferung zu erklären. Bedingung der Möglichkeit der Entstehung dieser Schriften aber war – und das spricht dafür, diese Theorie nicht nur auf die Entstehung des Christentums anzuwenden – das jüdische Volk. In ihm habe die Bibel ihr „Gebietendes“ gehabt, sie sei der „Gerichtsstand allen Verstehens und Wissens.“ Als Wort des lebendigen Gottes in seiner Gegenwärtigkeit hatte sie gegenüber dem Alltag der Menschen „etwas Zwingendes“, ihr Wort tat dar, was wirklich und wahrhaft war. Was kann es dann aber heißen, daß das jüdische Volk das „Gebietende“ des Bibelwortes war, das seinerseits dem Leben dieses Volkes sein Maß gab? Doch nur, daß der Geist des lebendigen Gottes, wenn irgendwo, in diesem Volk seine Heimstätte hatte.