Vernunft und Offenbarung

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VI.

Unter dieser durchaus biblisch begründeten und belegten Überzeugung gewinnt das Programm einer geisteswissenschaftlichen Hermeneutik eine überraschende, in keiner Weise willkürliche Plausibilität. Daß das jüdische Volk diesen Gottesgedanken hervorbrachte, zeichnet es vor allen anderen Völkern aus; freilich spielen – neben den schöpferischen Individuen – bei Baeck auch Völker, nun ganz im Sinne der von Dilthey verwandelten Idee des Hegelschen Volksgeistes, eine systematisch zentrale Rolle, sind sie doch die Träger dessen, was der geisteswissenschaftlichen Forschung ihr Thema gibt, nämlich der Geschichte, wie sie zu Beginn der 1940 unter den grauenvollen Bedingungen von Theresienstadt verfaßten, letzten großen Schrift Dieses Volk vorgestellt wird:

„Geschichte zu erwerben, Geschichte zu haben, ist die Aufgabe eines jeden Volkes. Und wenn ein Volk dann eine Idee, einen bestimmten, echten Gedanken in sich entdeckt und ihn festhält, dann hebt die Zeit einer großen Geschichte an – auch die kleinen Völker, ja meist sie, sie mehr als die großen Völker, haben große Geschichte zu eigen gewonnen, von ihnen ist Weltgeschichte ausgegangen.“73

In dieser Perspektive gerät das jüdische Volk mit seinem prophetischen Blick, der über das jeweilige Hier und Jetzt hinausweist, zum geschichtlichen Volk par excellence, das diesen Sinn für die Geschichte wiederum aus einem sittlichen Lebenswillen zieht.

Dem Begriff des Volkes widerfährt eine sorgfältige Analyse. Mehr als ein leerer Begriff zu sein, verweist es im konkreten Fall des jüdischen Volkes auf das Gebot Gottes, das an ausnahmslos jeden Einzelnen gerichtet ist. Daher – so deutet Baeck die prophetische Gerechtigkeitspredigt – spielen in diesem Volk soziale Rangordnungen grundsätzlich keine Rolle, da jeder, der dem Volk angehört, durch das Hören der Weisung gleichsam geadelt wird. Das Verhältnis des Gottes Israels zu seinem Volk ist daher grundsätzlich ein Verhältnis Gottes zu den erwählten Einzelnen, die wiederum für eine sittliche Lebensführung einstehen. Anders als der Individualismus der Griechen, den Baeck als einen Individualismus des kosmischen Maßes ansieht, ist der Individualismus Israels gemeinschaftsbildend und verleiht zudem dem Einzelnen besondere Bedeutung, Würde, Verantwortung und damit die Aufgabe des sittlichen Fortschritts. Monotheismus der Moral und „bisweilen trotziger Individualismus“ verbinden sich so zu einem unauflöslichen Ganzen. Individualität und Wille zur Gesamtheit ergänzen einander wiederum, gemäß dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels. Am Beispiel der Ehe läßt sich zeigen, daß sich die im Alltag gelingende Offenbarung der Individualität zweier Menschen zu einer neuen, übergeordneten und weitertreibenden Offenbarung entwickelt. An diesem Modell soll die besondere Offenbarungsfähigkeit des jüdischen Volkes klar werden. Mit diesen Überlegungen sind Konsequenzen für das Volk als Ganzes, für seine kollektive Individualität angezielt. In der Geschichte des jüdischen Volkes nämlich, in den geschichtsprägenden Worten der Propheten zumal wird nun gerade der Mensch, ja, die Menschheit im Ganzen, von geschichtlicher Dynamik ergriffen; man könnte sagen, daß Baeck Geschichtlichkeit und jüdische Existenz beinahe einander gleichsetzt. Im Fall der Juden schießen Individualität und Existenz zusammen: es ist die Individualität des jüdischen Volkes, dessen Existenz Baeck an und für sich bereits als eine Leistung ansieht. Seine Existenz in der Zeit wiederum, seine vollzogene Geschichte, gerät daher folgerichtig zur Weltgeschichte:

„Durch seinen Auszug aus Ägypten ist es zum Volke der Geschichte, zu einem Volke der Menschheit geworden. Was war, spricht darum ihm von dem, was kommen wird. Es ist ein Volk der Geschichte und darum ein messianisches Volk. Es ist das eine, weil es das andere ist, weil es keine Geschichte anerkennt, die nicht Weltgeschichte ist.“74

Doch läßt sich das angestrebte hermeneutische Wechselverhältnis von Individuum und anderen Individuen nicht durchhalten – in letzter Instanz kann sich auch Baeck dem romantischen Kult des schöpferischen Genius, den er über Dilthey und Schleiermacher rezipierte, nicht entziehen, lasse sich doch die Geschichte des jüdischen Volkes nicht ohne den Geist, ohne die „Kraft eines Genialen“75 verstehen. Freilich bleibt aus gutem Grund unbestimmt, ob der Geist, die Individualität, die hier beschworen wird, die einer Person oder des Volkes als Ganzem ist:

„Man kann die Geschichte und die Existenz dieses Volkes, diese Geschichte eines Geistes und diese Existenz durch den Geist, nur dann ganz begreifen, wenn man erkannt hat, wie hier die Kraft eines Genialen durchgebrochen und sich durchgesetzt hat, wie hier eine Revolution am Werke war und am Werke blieb. Ein genialer, ein revolutionärer Geist begann seinen Weg… Es war der Einbruch einer anderen Welt, der sich hier die Bahn schuf, in Menschen und durch Menschen, dieses Volk sie schuf…“76

Leo Baecks geisteswissenschaftliche Theorie des Judentums gipfelt so in einem den Hermeneutikern seit Schleiermacher teuren Prinzip: dem Entstehen des Neuen im Prozeß des Verstehens. Nun hat Baeck keine Theorie divinatorischen Verstehens vorgelegt, sondern den Gedanken des hermeneutischen Zirkels aus seiner Verbannung in Methodologie wieder in die Bereiche sachhaltiger Geschichtsbetrachtung zurückgeholt, mehr noch, am Beispiel des jüdischen Volkes das einzigartige Ineinanderübergehen von Text und individueller Lektüre, von Einzelnem und Gemeinschaft, von überhistorischer Wahrheit und erfülltem Kairos, von Tradition und Einbruch des Neuen demonstriert. Daß er dieses geisteswissenschaftliche Programm, das in gewisser Weise hinter Dilthey auf Hegel zurückgeht, in einem einzigen Fall entfaltet und diesen einzigen Fall zugleich als beispielhaft für die Analyse aller anderen geschichtlichen Existenz angesetzt hat, mag ironisch erscheinen. Die Philosophie des Idealismus, namentlich Hegels, nämlich sah die Juden zunächst als ein der Geschichte verlorengegangenes Volk an, Dilthey als Leser Hegels wiederum versuchte, die reale Dialektik der Geschichte methodologisch zu zähmen und so für sachhaltige historische Forschung zu retten. Leo Baeck schließlich gelang es, wenn auch unter stark normativen Vorzeichen, die Realdialektik ausgerechnet in der Geschichte des jüdischen Volkes zu retten. Daß der systematische Kern dieser Realdialektik in einer Theorie der sittlichen Persönlichkeit wurzelte, sollte man dem prominentesten Vertreter einer im besten Sinne bürgerlichen, klassischen Religion nicht ankreiden. Ob die von ihm angestrebte Synthese eines Kantianismus der Moral mit einer hermeneutischen Lebensphilosophie – selbst genial an der Existenz des jüdischen Volkes entfaltet – in Theorie und Sache aufgeht, wird sich nur durch eine erneute Analyse der von Baeck bemühten und bewunderswert sicher verarbeiteten Quellen erweisen lassen.

Modernes Judentum und antitotalitärer Konsens
I.

Die politische Debatte im wiedervereinigten Deutschland hat zur Renaissance einer Theorie geführt, die in den fünfziger Jahren in aller Munde war, in den siebziger Jahren massiv kritisiert und in den frühen achtziger Jahren fast vergessen wurde. Heute gewinnt diese Theorie angesichts der Notwendigkeit, sich mit den Folgen zweier durchaus ungleichartiger Diktaturen in Deutschland, mit dem Nationalsozialismus und der Parteiherrschaft der Kommunisten, auseinanderzusetzen, neue Aktualität.

In Deutschland jedenfalls waren es zum Teil ehemalige DDR-Bürgerrechtler wie Wolfgang Templin, die – über den Mangel der Bereitschaft der westdeutschen Gesellschaft, die STASI-Vergangenheit der DDR und der heutigen PDS zu kritisieren, erschrocken – nach einem politischen Gleichgewichtsmodell im Sinne Aristoteles suchten und sich dabei aktiv mit der Neuen Rechten eingelassen haben. Die neurechte Intelligenz selbst – versammelt etwa im Sammelband Die selbstbewußte Nation – proklamiert diesen antitotalitären Konsens immer wieder, um sich damit ein Entreebillet zu schaffen und ihre Ausgrenzung zu überwinden. Dabei spielt der Kampf gegen die „Political Correctness“ eine bedeutende Rolle. Ansonsten war es fast ausnahmslos Jürgen Habermas, der in seinen Überlegungen zur „Nachgeholten Revolution“77 und in der Replik auf Anfragen vor allem ostdeutscher Bürgerrechtler im Rahmen einer Enquetekommission der Bundesregierung von einem „wahren antitotalitären Konsens“ sprach. Schon das Epitheton „wahr“ deutet darauf hin, daß Habermas seinen antitotalitären Konsens von dem herkömmlichen Antitotalitarismus des doktrinären Antikommunismus unterscheiden will. Worin könnte das Unterscheidungskriterium liegen – und vor allem: wäre auch ein solcher „wahrer“ Antitotalitarismus, der nicht auf Kosten einer Apologie des Faschismus vor allem den Kommunismus kritisiert, für die neue Rechte anschlußfähig? Damit erweist sich die Frage nach dem wahren antitotalitären Konsens zugleich als die Frage nach der Möglichkeit einer demokratischen Rechten. Ließe sich zeigen, daß das Konstrukt einer ebenso wahrhaft demokratischen wie wahrhaft rechten Partei widerspruchsfrei darstellbar ist, wäre der antitotalitäre Konsens herzustellen und auch eine von ihrer totalitären Vergangenheit befreite Linke in der Lage, zwar nicht Seit an Seit, aber doch im Prinzip mit politischen Kräften zusammenzuwirken, die für die Aufhebung rechtsstaatlicher Freiheitsgarantien, gegen jede Immigration, für eine rein ethnische Bestimmung der Staatsbürgerrolle und für eine plebiszitäre Stärkung der Exekutive in Gestalt charismatischer Einzelpersonen sind.

Neben Autoren wie Carl J. Friedrich, Raymond Aron, Karl Friedrich Bracher und Juan Linz bezieht sich die einschlägige Debatte vor allem auf Hannah Arendts politisches Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das, Ende der vierziger Jahre in den USA verfaßt, stark gekürzt zuerst 1955 in der Bundesrepublik erschien.78 Dieses Buch stellt ein Hauptwerk des Jahrhunderts dar, eine Arbeit, die neben Lukacs Geschichte und Klassenbewußtsein, Heideggers Sein und Zeit, Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung und Sartres Das Sein und das Nichts steht. Im Unterschied zu den vorgenannten Arbeiten trägt es jedoch eine zusätzliche Signatur. Mit Arendts Elementen und Ursprüngen liegt neben einem philosophischen Hauptwerk politischen Denkens nicht weniger vor als die bisher radikalste Form jüdischer Selbstvergewisserung in der Moderne.

 

So sehr Elemente und Ursprünge nämlich ein Resümee der ersten Hälfte dieses mörderischen Jahrhunderts darstellt, so sehr läßt es sich auch als eines der gewichtigsten Werke lesen, das das moderne Judentum in einer seiner säkularen Varianten, nämlich des Zionismus, hervorgebracht hat. Cum grano salis ließe sich sagen: Wenn der moderne Zionismus es überhaupt zu einer systematischen, philosophischen Begründung gebracht hat, dann liegt sie hier vor, und zwar dem Umstand zum Trotz, daß Hannah Arendt unmittelbar nach dem Kriege zu den schärfsten Kritikern des politischen Zionismus zählte. Daß Hannah Arendt dabei das Grundproblem jüdischer Existenz in der Moderne mit den theoretischen Mitteln eines Denkens angeht, das der klassischen Antike und der deutschen Existenzphilosophie ungleich stärker verpflichtet ist als der Überlieferung des Judentums, erweist sich weniger als Ausdruck einer historischen Ironie denn jener paradoxen Situation, in der sich alle Juden befanden, die seit der Emanzipation der Auffassung waren, das Judentum auf die Höhe ihrer Zeit bringen zu sollen. Daß Arendts Buch einen Januskopf trägt, liegt indes nicht allein an ihrem individuellen jüdischen Lebenslauf, sondern vor allem daran, daß sie selbst einem genau benennbaren und bestimmbaren Entwurf jüdischen Lebens in der Moderne folgte: dem deutschen Zionismus. Ich versuche, diese Überlegung zunächst in drei Schritten zu den Themen 1. Jüdische Selbstkritik in den Elementen und Ursprüngen; 2. Hannah Arendt und der deutsche Zionismus sowie 3. Die Grenzen des deutschen Zionismus und Hannah Arendts zu entfalten, um schließlich den Ertrag dieser Überlegungen für das, was heute in der Bundesrepublik Deutschland als „wahrer antitotalitärer Konsens“ gefordert wird, in Anschlag zu bringen.

II.

Als Anfang der sechziger Jahre – anläßlich des Erscheinens von Eichmann in Jerusalem – der Zorn der jüdischen Welt über Hannah Arendt ob ihrer These von der Kollaboration der Judenräte bei der Massenvernichtung zusammenbrach, konnte sie nur mit Unverständnis reagieren. Substantiell hatte sie nämlich nichts anderes getan, als die Konsequenz aus Argumenten zu ziehen, die spätestens in den Ursprüngen und Elementen theoretisch angelegt waren. Bekanntlich analysiert Arendt die Wurzeln des Totalitarismus, zu denen der Antisemitismus – im Unterschied zum Judenhaß – wesentlich gehört, am Problem der Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegründeten und schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts niedergehenden Nationalstaaten. Der durch die Expansion des Kapitals verursachte Übergang vom Nationalismus zum Imperialismus führte in den afrikanischen und asiatischen Kolonien vor allem Englands und Frankreichs zu einer Form politischen Handelns, in der die zivile Kontrolle von Polizei und Bürokratie prinzipiell aufgegeben wurde, während sich in den Mutterländern das bisher privatistisch verstehende Bürgertum im Sinn des Imperialismus radikalisiert. Der Antisemitismus entsteht in diesem Zusammenhang als massenhafte Reaktion auf die zunehmende Intransparenz politischen Handelns, die Undurchsichtigkeit der Beziehungen zwischen Parlament, Kapital und Regierung. Als Massenbewegung entzündet sich der Antisemitismus an einer gesellschaftlichen Frage, die Hannah Arendt für ein objektives Problem hält: an der „Judenfrage“. Sie bestand nach Arendt darin, daß „die Juden fortfuhren, einen mehr oder minder geschlossenen Körper innerhalb der Nation zu bilden“, während „das gesellschaftliche Vorurteil in dem Maße wuchs, in welchem Juden aufgrund ihrer Assimiliertheit in die bürgerliche Gesellschaft einzudringen wünschten.“79

Nach Arendts Überzeugung waren jüdische Familien mit ihren internationalen Verbindungen erst die Geldgeber der fürstlichen Begründer des Territorialstaats, fungierten dann als Finanziers der kolonialen Ausdehnung, um im Zeitalter des Imperialismus ihrer Rolle verlustig zu gehen. Der so entstandene Reichtum und Einfluß ohne Macht stempelte sie zu Zielscheiben des Ressentiments der Massen. Daß die Juden sich der entsprechenden Angriffe nicht angemessen erwehrten, lag an ihrer Distanz zu jeder – auch ökonomischen – Macht, was sich nach Arendts wirtschaftshistorischer Überzeugung in der Tatsache niederschlug, daß die Juden sich nur selten bereit fanden, ihr Kapital in industrielle Unternehmungen zu investieren – eine Überzeugung, die als Tatsachenbehauptung durchaus bestreitbar ist. Nicht nur jüdische Unternehmer im russischen und rumänischen Eisenbahnbau (Poliakoff, Strausberg), in der polnischen Hüttenindustrie (Bliokh und Kronenberg) sowie in der böhmischen Waffenindustrie (die Petscheks) belasten Arendts These. Die vermeintliche Distanz der Juden zur Macht aber und die nach Arendts Meinung damit verbundene Unfähigkeit, den Antisemitismus zu verstehen, führte dazu, daß die Juden als Volk eine politische Anomalie darstellten. Diese Anomalie

„lag in der Tatsache, daß hier ein Volk in eine politische Rolle gedrängt wurde, das selbst keine Repräsentanz hatte […] Als Fremde und auf Grund ihrer politischen Traditionslosigkeit wußten die Juden weder etwas von dem Unterschied zwischen Volk und Regierung, noch von der nationalstaatlichen Spannung zwischen Staat und Gesellschaft.“80

Deshalb gehöre es zu den wesentlichen Bestandteilen jüdischer Geschichte im imperialistischen Zeitalter, „daß sie weder je wirklich wußten, was Macht war, auch nicht, als sie sie fast in den Händen hatten, noch je wirklich Interesse an Macht hatten.“81 Arendts Analyse des jüdischen Schicksals geht somit von zwei normativen Voraussetzungen aus: erstens davon, daß die Juden im ethnischen Sinne ein Volk darstellen, und zweitens davon, daß alleine die in sich paradoxe Konstruktion des homogenen Nationalstaats als Ausdruck des territorial und damit politisch begrenzten Willens demokratischer Rechtssetzung in der Lage ist, dem Individuum der Moderne nicht nur den Schutz des Rechts zu gewähren, sondern „sich in einer gemeinsam errichteten Welt sichtbar zu bewähren und so einzurichten, daß jede große Leistung und außerordentliche Handlung einer Nachwelt zuverlässig überliefert werden kann.“82

Mit Arendts Kritik an Assimilationismus, jüdischem Chauvinismus und einer Flucht des jüdischen Bildungsbürgertums ins Menschheitliche überhaupt korrespondiert in Elemente und Ursprünge der Hinweis, daß erst der „westeuropäische Zionismus“ die objektive Realität der Judenfrage nimmer verleugnet habe und es zudem der „postassimilatorische Zionismus gewesen sei, der mit seinem Einfluß auf die jüdische Intelligenz das deutsch-österreichische Ausnahmejudentum vor den schlimmsten Auswüchsen des Antisemitismus der dreißiger Jahre bewahrt habe.“83 Wenn sie schließlich in einer prinzipiellen Überlegung feststellt, daß der Verlust der nationalen Rechte im zwanzigsten Jahrhundert in allen Fällen den Verlust der Menschenrechte nach sich gezogen habe und diese „wie das Beispiel des Juden und des Staates Israel zeigt, bisher nur durch die Etablierung nationaler Rechte wiederhergestellt werden können“84, beglaubigt sie die Stimmigkeit zionistischer Politik sowohl im Hinblick auf die Rettung eines Teils der deutschen Juden seit 1933 als auch bezüglich jüdischer Fortexistenz nach der Massenvernichtung.

Arendts Bezug auf den postassimilatorischen Zionismus trägt in ihrem Buch einen Namen: Kurt Blumenfeld.

Geboren 1884 in Treuberg, Ostpreußen, gestorben 1963 in Jerusalem, studierte er in Berlin, Freiburg und Königsberg Jura. Seit 1904 im organisierten Zionismus aktiv, gehörte Blumenfeld zu den Gründern des Keren Hajesod, des zionistischen Bodenankauffonds. Blumenfeld präsidierte der Zionistischen Vereinigung für Deutschland ununterbrochen seit 1923, um 1933 ins damalige Palästina zu emigrieren. Nicht zuletzt seiner Schwierigkeiten wegen, die hebräische Sprache zu erlernen, gelang es ihm nach seiner Immigration kaum noch, die zionistische Politik des Jischuw wesentlich zu beeinflussen. In den vierziger Jahren wurde er Mitglied des linkszionistischen, auf einen binationalen Staat setzenden „Brith Schalom“ des Gründungsrektors der Hebräischen Universität, Jehuda Magnes, und Martin Bubers, einer Gruppe, die er reumütig noch vor der Staatsgründung verließ. In seinem 1976 in Deutschland erschienenen Buch Im Kampf um den Zionismus ist der Brief vom Februar 1949 wiedergegeben, in dem Blumenfeld David Ben Gurion eingesteht, sich in seinem Einsatz gegen die Staatsgründung geirrt zu haben.85

Kurt Blumenfeld läßt sich mit gutem Recht als der Idealtyp eines politisch zwar aufgeklärten, aber gleichwohl auf dem Vorrang ethnischer Politik beharrenden deutschen Zionisten bezeichnen, eines Ideologen, der dem Westjudentum „Wurzellosigkeit“ und „Zwitterseelentum“ vorhielt, in den zwanziger Jahren die „Behaglichkeit der Juden in Deutschland“ angriff, sich aber zugleich wünschte, daß der Zionismus „die Kräfte des jüdischen Volkes in Palästina zur Weltweite entwickeln“ werde. Für diesen deutschen Zionismus war – wie Judith Klein im Jahr 1982 in ihrer Studie zu dieser politischen Bewegung gezeigt hat86 – eine eigentümliche Verbindung von Universalismus und Partikularismus, oder – in den Worten des deutschen Zionisten Salomon Bernstein – von „übernationalem Nationalismus“ beziehungsweise „Menschheitsnationalismus“ typisch. Kurt Blumenfeld sprach gar von der „Weltbürgermission der Juden“87.

Hannah Arendt lernte Blumenfeld gemeinsam mit ihrem Freund Hans Jonas anläßlich eines Vortrages im Zionistischen Studentenverein in Heidelberg 1926 kennen. Nach dem Vortrag – so berichtet die Biographin Arendts, Elisabeth Young-Bruehl in ihrer Biographie Hannah Arendt, Leben, Werk und Zeit – „verhielt sie sich Blumenfeld gegenüber sowohl kokett als auch töchterlich. Blumenfeld und Arendt sangen – Arm in Arm – Lieder, rezitierten Gedichte und lachten ungestüm – während Jonas hinterhertrottete.“88 Derlei anekdotische Mitteilungen wird nur gering schätzen, wer Arendts persönliche Gabe zur und die aus ihrer aristotelischen Philosophie gespeiste Hochschätzung der Freundschaft nicht berücksichtigt.

Der jüngst von Ingeborg Nordmann herausgegebene Briefwechsel zwischen Blumenfeld und Arendt89, der durch das immer wieder unterbrochene Werben des weitaus älteren, verheirateten Mannes um die ihm intellektuell überlegene Frau gekennzeichnet ist, zeugt immerhin davon, daß Arendt – wie an einem großen Geburtstagsgedicht für Blumenfeld deutlich wird – tatsächlich eine dankbare, wenn auch bisweilen herablassende Freundin war. Blumenfeld wurde nach der gegenwärtigen Quellenlage nicht nur – neben Karl Jaspers – zu einem von Arendts wichtigsten Briefpartnern, sondern auch – ihrem eigenen brieflichen Bekenntnis an Blumenfeld nach – zu ihrem Lehrer bezüglich des Judentums.90

Das in Elemente und Ursprünge scharfsinnig entfaltete Kategorienpaar von „Paria“ und „Parvenü“, mit dem sie ihre Analyse des deutschen Judentums betrieb, stammte tatsächlich von Blumenfeld, der den Pariabegriff seinerseits Max Weber entlehnt hatte. Endlich hatte Blumenfelds Einfluß Hannah Arendt dazu gebracht, als offizielle Nichtzionistin im Jahre 1933 illegal für die ZVfD tätig zu sein. Ihre Tätigkeit für die Jugendalyah, die sie dann als Emigrantin in Frankreich aufnahm, ist in diesem Kontext zu verstehen. Auch diese Freundschaft zerbrach wahrscheinlich – wie viele andere – an Arendts Buch über Eichmann. Ohne Arendts einschlägige Beiträge selbst gelesen zu haben, war der 1961 schon schwer erkrankte Blumenfeld über die ihm kolportierten Thesen empört. Wir wissen nicht, ob es schließlich noch zu einer Versöhnung gekommen ist – aus dem Briefwechsel läßt sie sich nicht belegen. Ein gemeinsamer Freund, Pinhas Rosen, vormals Felix Rosenblüth, israelischer Justizminister von 1948 bis 1961, ebenfalls ein deutscher Zionist, schrieb ihr nach dem Tode Blumenfelds: „Schade, daß Sie das jüdische Volk nicht lieben, sondern nur ihre Freunde.“91

 

Tatsächlich löst der Briefwechsel von Arendt und Blumenfeld Erwartungen, die an ihn geknüpft sein mochten und die auch noch Arendts Biographin, die oben erwähnte Elisabeth Young-Bruehl geweckt hatte, nicht ein. Während Arendts Briefwechsel mit Jaspers etwa von einer deutlichen Devotion und Bewunderung ihrerseits gekennzeichnet ist und sich fast in jedem Brief ernsthaften politischen und philosophischen Erwägungen mindestens ansatzweise zuwendet, erscheint der Briefwechsel zwischen Arendt und Blumenfeld als ein Ausdruck dessen, was Arendt jedenfalls ihrer Theorie nach immer verachtete, einer zwar bequemen, aber ebenso unverbindlichen wie sich zu keiner geistigen Höhe emporschwingenden Privatbeziehung, die – wenn überhaupt – nur ein zentrales Thema kannte, nämlich die gemeinsame Trauer über das untergegangene deutsche Judentum und seine Möglichkeiten. In diesem Briefwechsel wird schlußendlich deutlich, daß mindestens die späte Hannah Arendt die jüdische Herkunft, zu der sie sich immer bekannte und um die es ihr auch immer ging, letztlich doch als einen vorpolitischen Familienzusammenhang verstand.

Damit komme ich zu meiner dritten und letzten Bemerkung, in der es um die Angemessenheit und Adäquanz des deutschen Zionismus und vor allem von Arendts theoretischer Analyse gehen soll. Für Hannah Arendt war bei allem im Nachkriegsbriefwechsel mit Blumenfeld zutage getretenen jüdischen Privatismus klar, daß sie – so in einem Brief an Jaspers vom Dezember 1946 – politisch „immer nur im Namen der Juden sprechen“ könne.92 In diesem Zusammenhang war sie übrigens davon überzeugt, daß die Juden – ähnlich wie die Ungarn – ein europäisches Volk asiatischer Herkunft seien, weswegen sie schließlich – unmittelbar nach der Erfahrung der Massenvernichtung – den politischen Zionismus einer radikalen Kritik unterzog. Dabei hielt sie dem Zionismus nicht nur vor, mit dem Imperialismus paktieren zu müssen, sondern auch die Sinnlosigkeit einer Staatsgründung angesichts des Umstandes, daß „Rommels Armee die Juden in Palästina mit genau dem gleichen Schicksal bedroht wie in den europäischen Ländern“ – so in einem Aufsatz „Zionism reconsidered“ aus dem Herbst 1945, auf deutsch in dem 1975 erschienenen Band über die Verborgene Tradition abgedruckt.93 Die Konzentration der Zionisten auf Palästina erschien ihr damals als nichts anderes denn „die kritiklose Übernahme des Nationalismus in seiner deutschen Version.“94 In den Ursprüngen und Elementen räumte sie dem Zionismus immerhin ein, die Judenfrage gelöst zu haben, freilich unter der fatalen Bedingung „eines inzwischen erst kolonisierten und dann eroberten Territoriums…, daß wie nahezu alle Ereignisse unseres Jahrhunderts auch nur zur Folge gehabt hat, daß eine neue Kategorie, die arabischen Flüchtlinge, die Zahl der Staaten- und Rechtlosen um weitere 700 000 bis 800 000 Menschen vermehrte.“95 Mit Arendts nationaljüdischer Kritik am politischen Zionismus, die nüchtern den Umstand vermerkt, daß einerseits nur ein Nationalstaat Menschenrechte schützen kann, andererseits aber jeder Nationalstaat Menschenrechte verletzt, erweist sich ihr an einem republikanischen Freiheitsideal orientierter Nationalstaatsbegriff im übrigen als genaues Gegenteil jener Nationalstaatsidee, welche die neu aktualisierte Totalitarismustheorie heute bemüht.

Fragt man freilich, warum Arendt nun ausgerechnet dem jüdischen Volk, anders als allen anderen Völkern letztlich die Sinnhaftigkeit eines herkömmlichen Nationalstaats ausreden will, so gerät man wieder an die Tradition des deutschen Zionismus. Diese Tradition, die Tradition einer Minderheit in der Minderheit, zeugt von nichts anderem als der offen gehaltenen Wunde eines emanzipatorischen Ideals. Es ist kein Zufall, daß sie alle, Martin Buber, Robert Weltsch und Gerhard Scholem, Felix Rosenblüth, Kurt Blumenfeld und der aus Prag stammende Hans Kohn letzten Endes national-staatskritische Universalisten waren, die sich – wenn überhaupt – zur jüdischen Staatsbildung nur aus dem dürrsten aller Motive bereit fanden: dem unmittelbaren Schutz von Leib und Leben.

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