Die Sanduhr in meinem Kopf

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Die Königin bin ich
Maria Stuart und Elisabeth I.

Der See schaut von leichten Nebelschwaden überzogen wie eine ruhige silberne Fläche aus. Die Wellen gurgeln kaum hörbar über die Kieselsteine am Ufer. Höre ich sonst gern dem See zu, sind meine Gedanken heute hunderte Kilometer weiter im Osten, genau gesagt in Weimar.

Ein alter Freund hat mit einigen wenigen Zeilen, von seinem Smartphone gesendet, meine gedachte Zeit völlig durcheinandergebracht. Ich habe keine Zweifel daran, dass er mir eine Freude hat machen wollen mit seiner Mitteilung, er würde am Abend im Nationaltheater Maria Stuart sehen. Welche Seite er damit bei mir berührt, kann er sich vielleicht denken, aber nicht mit Gewissheit voraussetzen.

Tatsächlich sitze ich auf der Bank am See, während sich mein Geist in Weimar befindet, diesem magischen Ort für jeden Theaterbesessenen, also auch für mich, den man ebenso in Gedanken betreten und erleben kann.

Was sind das für Schritte, die ich auf den Steinen höre, die näher kommen? Sind es meine, auf dem Weg über die Esplanade hin zum Schillerhaus? Oder ist es Friedrich Schiller auf dem Spaziergang hinüber zu Freund Goethe? Ich weiß es nicht. Langsam verklingen die Schritte, weichen den Erinnerungen.

Wann habe ich zum letzten Mal Maria Stuart gesehen? Ist es fast zehn Jahre her, was kaum zu glauben ist? Meine Augen sehen auf das abgegriffene Reclam-Heft in meiner Hand. Noch ist die gelbe Farbe des Umschlags zu erkennen. Ich habe das gelbe Büchlein aus Dutzenden anderen in meinem Bücherregal gezogen. Der Inhalt trägt die Spuren der Schulzeit sowie meine Randbemerkungen aus den Tagen als Novize am Theater. Es sind Reminiszenzen, die hell sind, doch auch ein wenig von der süßen Traurigkeit haben, da sie nicht zurückzuholen sind.

Maria Stuart, Friedrich Schillers Trauerspiel, ist eine doppelte Landmarke auf meiner langen Tournee an den deutschsprachigen Theatern. Zum einen ist es das erste Stück, an dem ich beteiligt war, wenn auch noch so gut wie unsichtbar. Zum zweiten war das Drama Jahre später meine erste Regiearbeit.

Schon während der Schulzeit war ich ein Junge mit einem kaum zu bändigenden Drang zum Theater. Den fruchtbaren Boden dafür hatte der Großvater bereitet. Nein, mich zog es nicht auf die Bühne, meinen Platz träumte ich mir vor oder hinter die Bühne.

Die Theaterluft hatte mich unwiderstehlich am Kragen, als ich jedes Jahr in den großen Ferien das Mädchen für alles in unserem Stadttheater sein durfte. Das war noch zu den Zeiten, als die meisten Bühnen in den Sommermonaten nicht ihre Pforten schlossen.

Gleich nach dem Abitur verhalf mir Großvater zu der Volontärstelle bei den Städtischen Bühnen. Ich sehe mich noch über den weiten leeren Platz vor dem Theater schauen. Es war ein trüber Tag, als ich den Platz überquerte und mich beim Portier meldete. Bis heute ist es ein sonniger Moment in meiner Erinnerung, wie er mir den Weg wies, indem er nach vorne zeigte. Ich nahm das als gutes Omen.

Damit begann meine Zeit als Laufbursche, als derjenige, nach dem alle riefen, brauchten sie einen Dummen, der das machen sollte, was keiner tun wollte. Mir war das erst einmal egal, denn ich war dort, wo ich sein wollte. Hinter den Kulissen bekam ich alles mit, auch darum, weil ich für die anderen selbst Teil der Kulissen war.

Zu dieser Zeit liefen die ersten Vorbereitungen für die Proben einer neuen Inszenierung von Friedrich Schillers Maria Stuart. Natürlich bekam ich die Spannungen zwischen unseren Königinnen mit. Zunächst hielt ich diesen offenen Zwist für eine Auseinandersetzung um das Rollenverständnis. Doch schon bald war mir klar, die beiden Damen waren sich tatsächlich nicht grün. Auf wessen Seite meine Sympathie war? Keine Frage, ich war Marias Mortimer, ihr mit Leib und Seele verfallen, ohne dass sie es ahnte, denn sie hatte keinen Blick für mich. Friedrich Schiller hat die Figur des Mortimer geschaffen, um mit ihr die Ohnmacht der träumerischen Ideale zu zeigen. Auch wenn ich Maria mein Herz zu Füßen legen würde, wusste ich, es würde mir wie Mortimer ergehen. Mit dieser warmen Sehnsucht betrat ich jeden Tag das Theater und ich denke noch heute gern daran zurück, an dieses melancholische Gefühl.

Mein Reclam-Heft hatte ich ständig bei mir, um gleich nachzuschlagen, schnappte ich zufällig auf meinen Wegen durch das Haus einen kurzen Dialog von der Bühne auf, wo noch ohne Kostüme geprobt wurde.

Über die Entstehung der Maria Stuart hatte ich inzwischen einiges Wissen gesammelt. So wusste ich, dass sich Friedrich Schiller schon 1783 während seines Aufenthaltes in Bauerbach mit den historischen Hintergründen des Konflikts zwischen den Königinnen beschäftigt hatte. Ich hatte allerdings nicht herausgefunden, warum er von einem Tag zum nächsten seine Studien abbrach und den Don Carlos in Angriff nahm.

Ich glaube fest, obwohl es dafür keine Belege gibt, dass sich der Dichter in den Jahren bis er sich mit Lust und Freude, wie er Goethe wissen ließ, an das Opus der Maria machte, immer wieder mit dem Thema, den Hintergründen dieses Schauprozesses befasste. Ich kann mir lebhaft vorstellen, habe dafür auch Quellen gefunden, dass Schiller als Historiker die entsprechende Zeit der Geschichte Englands interessiert studiert hat. Belegt ist, dass er Schleiermachers Reden über die Religion las, die ihm für das seelische Erleben seiner Figuren wichtig sein durfte, ihn passende Gedanken für die inneren Konflikte finden ließ.

Im Hoftheater Weimar ist der letzte Teil der Wallenstein-

Trilogie Wallensteins Tod gerade uraufgeführt worden. Nach nur wenigen Wochen der Entspannung, wobei ich den hochgewachsenen Dichter auch auf langen Spaziergängen in den Wäldern sehe, sitzt er schon am 4. Juni 1799 an seinem Tisch und beginnt Maria Stuart zu schreiben. Wir wissen das genaue Datum, weil er Goethe in einer kurzen Mitteilung davon Kenntnis gibt. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Wallenstein fühlt er so viel Euphorie und Kraft, um sich umgehend an ein neues Werk zu machen.

Friedrich Schiller verarbeitet in seinem Trauerspiel das historisch belegte Drama zwischen der englischen und der schottischen Königin, zwischen Elisabeth I. und Maria Stuart.

Die Fakten sind die folgenden: Maria hat durch ihren Lebenswandel, die Anstiftung zur Ermordung ihres Gatten, ihre schnelle Heirat des Mörders und einen verlorenen Krieg den Rückhalt in ihrem Volk verloren. Sie flieht nach England, wo sie sich die Unterstützung von Elisabeth erhofft, einer königlichen Schwester. Doch die illegitime Tochter Heinrichs VIII. weiß um ihren eigenen, zweifelhaften sowie den berechtigten Anspruch Marias auf den englischen Thron.

Elisabeth fackelt nicht lange und lässt die vermeintliche Rivalin ohne Grund auf Schloss Fotheringhay internieren. Erst viel später wird Maria vorgeworfen, an Intrigen und Vorbereitungen zu einem Attentat auf die königliche Gegnerin beteiligt gewesen zu sein. In einem Schauprozess wird Maria wegen Hochverrat angeklagt und zum Tode verurteilt. Nach fast zwanzig Jahren Gefangenschaft spricht ein Kreis hoher Adliger Maria schuldig, ohne dass sie auch nur den Hauch einer Chance erhalten hat, für sich zu sprechen oder sprechen zu lassen.

Der Dichter lässt sein Theaterstück drei Tage vor Marias Hinrichtung beginnen. Während Maria eine Schönheit ist, sind die Züge Elisabeths auf den Gemälden eher herb, wohl auch durch den übertriebenen Anspruch keine Gefühle zeigen zu dürfen. Nicht allein Marias Aussehen, auch ihr ganzes Wesen muss die Männer regelrecht betört haben. Mehrere, unter ihnen der junge Mortimer, wollen Maria aus ihrem erzwungenen Exil befreien.

Maria überredet ihren Bewacher Paulet, einen reinen Befehlsempfänger, dessen Neffe Mortimer ist, der Königin einen Brief zu überbringen. In diesem Schreiben bittet Maria um ein Treffen mit Elisabeth.

Mortimer erwägt indessen Möglichkeiten, die Angebetete aus der Gefangenschaft zu befreien. Um mehr Spielraum zu bekommen, auf Zeit spielend, nimmt er sogar einen nicht klar ausgesprochenen Auftrag der Königin an, Maria in ihrem Gefängnis umzubringen. Da er die innere Spannung kaum ertragen kann, spricht er mit dem Grafen von Leicester. Von ihm erhofft er sich Unterstützung, da er weiß, dass der Graf ein enger Vertrauter der Königin ist. Was er nicht ahnt, Leicester selbst ist in Maria verliebt.

Tatsächlich stimmt die Königin einem Treffen mit Maria zu, einer als Zufall getarnten Begegnung im Park vor dem Schloss nach einer Jagd. Maria hatte gedacht, sie könne Elisabeth mit ihrem Schicksal rühren. Doch sie muss erkennen, dass sie das kalte Herz ihrer Rivalin nicht erreichen kann. Sie hatte gehofft, dass beide sich als Ebenbürtige gegenübertreten könnten. Doch Elisabeth, ganz mit bewusster Attitüde die Königin bin ich, demütigt ihre Gefangene, nennt Maria eine Heuchlerin und Mörderin. Damit erwacht Marias Stolz, der zu Zorn wird, und sie wirft der Königin nicht nur Scheinheiligkeit vor, sondern auch ihre zweifelhafte Herkunft.

Unversöhnlich gehen die Frauen auseinander, beide zutiefst von der Richtigkeit ihres Verhaltens und ihrer Gewissheiten überzeugt.

Maria geht nicht auf Mortimers verzweifelten Vorschlag ein zu fliehen, weist ihn brüsk zurück. Zur gleichen Zeit versucht ein Freund Mortimers, Elisabeth umzubringen. Das Attentat misslingt und die Verschwörer müssen die Flucht ergreifen. Mortimer bleibt, wird von dem Opportunisten Leicester festgesetzt und bringt sich mit dem eigenen Dolch um, aller Hoffnungen beraubt, Maria retten zu können.

 

Elisabeth erkennt, dass sie handeln muss, sieht ihren Thron in Gefahr, und unterzeichnet, innerlich zerrissen, mit einem Akt der Staatsraison, wie sie es sieht, das Todesurteil Marias. Da ihr bewusst ist, dass sie sich weder nach dem Gesetz noch von moralischer Seite über Maria zu erheben vermag, gibt sie das Urteil ohne klare Anweisungen weiter, schiebt damit bewusst die Verantwortung anderen zu.

Damit ist der Lauf der Dinge nicht mehr aufzuhalten und das Urteil wird vollstreckt. Damit wird Maria zur Märtyrerin. Und Elisabeth muss erfahren, dass alle ihre wichtigen Berater sich von ihr zurückziehen. Sie bleibt mit ihrer Schuld alleine.

Je näher damals die Generalprobe und die erste Vorstellung kamen, die Darsteller mit ihren Rollen verschmolzen, desto faszinierender war es für mich, den beiden Frauen zuzusehen. Durch oder wegen ihrer persönlichen Abneigung kamen sie mit ihrer Darstellung Schillers Intention meiner Ansicht nach erstaunlich nahe. Maria, so schön und anziehend, zeigte bis zum Schluss das Strahlen der inneren Freiheit, die sie in ihrer langen Gefangenschaft gewonnen hat. Elisabeth, mit hartem Gesicht, dem Antlitz der Macht, erkannte, wie abhängig sie tatsächlich und wie groß ihre Schuld war.

Im Juni hat Friedrich Schiller das Drama zu schreiben begonnen und im gleichen Monat des nächsten Jahres, am 14. Juni 1800, wurde das Stück im Hoftheater Weimar uraufgeführt. An seinen Freund Christian Gottfried Körner schrieb er: »Vorgestern ist sie gespielt worden, und mit einem Succeß, wie ich ihn nur wünschen könnte.«

Das Reclam-Heft nicht einmal aufgeschlagen, erhebe ich mich von der Bank. Der leichte Dunst über dem Wasser hat sich verflüchtigt, der Blick ist weit, geht bis zu den klaren Bergen hin. Heute Abend wird das unsterbliche Drama auf der Bühne des Nationaltheaters in Weimar seinen Lauf nehmen. In Gedanken werde ich dort sein.


Vierhändige Scherze am Klavier
Die Wiener Komponistin Marianna von Martines

Stellen wir uns das Wien der klassischen Musik vor, sehen wir zunächst die Namen Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven. Verlassen wir diese Giganten und blicken uns weiter im musikkulturellen Wien dieser Zeit um, reiht sich in unsere imaginäre Schau eine Frau ein. Richtig gehört: eine Frau. Marianna von Martines. Von Freunden und Verehrern auch Nannette genannt.

Marianna war im Musikkosmos Wiens ein bekannter Name. Sie war ein ebenso leuchtender Stern am Himmel der Töne wie Amadeus. Mit ihm spielte sie immer wieder, war er gekommen, bei ihren musikalischen Soireen.

Warum ist von diesen vierhändigen Scherzen auf dem Klavier nichts überliefert? Ich stelle mir vor, wie sie sich strahlend und spielerisch auf den Tönen haben treiben lassen wie auf einem weiten See. Dieses Spiel war doch sicher nicht nur bei den Musikfreunden Tagesgespräch?

Die Antwort mag auf der Hand liegen. Weil ihr Zusammenspiel keine Seltenheit, also auch keine erwähnenswerte Kostbarkeit gewesen ist. Ein regelmäßig wiederkehrender Kunstgenuss wird zwangsläufig alltäglich, wenn auch im allerbesten Sinne.

Als Pianistin, Cembalistin, Sängerin und Komponistin war Marianna eine herausragende Persönlichkeit in Musikkreisen der Hauptstadt. Charles Burney, ein Engländer auf Reisen, berichtete als Augen- und Ohrenzeuge in seinem Tagebuch vom Spiel der Künstlerin:

Sie übertraf wirklich noch die Erwartung, die man mir von ihr beigebracht hatte. Sie sang zwo Arien von ihrer eigenen Komposition über Worte von Metastasio, wozu sie sich selbst auf dem Flügel akkompagnierte, und zwar auf eine wohlverstandne, meisterhafte Manier; und aus der Art, wie sie die Ritornelle spielte, konnte ich urteilen, dass sie sehr fertige Finger hätte.

Spätere Kritiker sahen da nicht mehr hin, hörten erst recht nicht zu. Allerdings schrieben sie mit zynischer Feder, ganz von oben herab. Die Leistung Mariannas wurde regelrecht in den Dreck gezogen. Ungestraft durften die Herren ihren Schmarrn absondern; die Frauen hatten eben keine Stimme. In ihren Texten waren Vokabeln wie »mittelmäßig«, wenn es um Mariannas Musik ging, beinahe lobend.

Ungeprüft wird in einem Buch über die Wiener Musik ohne jedes Bedenken gesagt, Mariannas Kompositionen seien verschollen. Das ist nur bedingt richtig, es ist mehr ein anderes Wort für vergessen.

Dabei war Marianna ein Star der Musikszene, wie man heute sagen würde, der weibliche Gegenpart zu Superstar Amadeus. Ganz natürlich, sie gehörte ja dazu, bewegte sie sich in der Hautevolee der Hauptstadt. Seit Jahren wurde sie vom Hof, auch durch Boten mit Briefchen der Kaiserin, eingeladen, um bei Empfängen die Gäste mit ihren musikalischen Talenten zu unterhalten. An manch einem Abend, wenn es etwas intimer zuging, stand Joseph II., Sohn und Mitregent seiner Mutter und wahrer Freund der Musik, neben ihr am Klavier und blätterte die Noten um.

Schon bevor die Familie Martines in den Adelsstand erhoben wurde, gab es für Marianna allein durch die Musik keine Berührungsängste mit dem hohen und höchsten Adel. Zwischen Bürgertum, Aristokratie und dem kaiserlichen Hof verflüchtigten sich die früher so strengen Standesgrenzen. Marianna war ein solch bekanntes Gesicht, dass sie nicht einmal von den Wachen in Schönbrunn daran gehindert wurde, den Schlosspark, wann immer sie es wollte, zu betreten. Dort spazierte sie an manch schönem Tag, hin und wieder sogar in Begleitung eines jungen Kavaliers, über die gepflegten Wege. Das Licht, in dem sie bei der Kaiserin und auch Joseph stand, war so hell, dass sie manch jungem Musiker oder Maler mit ihrer Empfehlung eine Chance zu ermöglichen vermochte.

Marianna kam am 4. Mai 1744 in Wien zur Welt und wurde auf den Namen Anna Catharina getauft. Ihre Eltern waren Theresia und Nicolò Martines. Der Vater stammte aus einer neapolitanischen Familie mit spanischen Wurzeln und kam 1730 nach Wien. Er war einflussreicher Zeremonienmeister des apostolischen Nuntius in Wien.

Das Ehepaar hatte elf Kinder, von denen nur sechs das Erwachsenenalter erreichten. Joseph, der älteste Sohn, ebnete der Familie den Weg zum Hof und sogar zur kaiserlichen Familie. Er machte sich in der Hofbibliothek einen so hervorragenden Namen, dass er zum Lehrer des späteren Kaisers Joseph II. ernannt wurde. In dieser Aufgabe war er so erfolgreich, dass die Familie Martines 1774 in den erblichen Ritterstand erhoben wurde und damit vor den Namen das von setzen durfte, was in der Gesellschaft eine Freikarte bedeutete.

Nicolò Martines fand, als er in Wien eintraf, Unterkunft bei seinem Freund Pietro Metastasio im großen Michaelerhaus am Kohlmarkt. Die Freunde teilten sich die 3. Etage des Hauses. Die Literatur ist sich nicht einig darüber, wer bei wem Untermieter in der großen Wohnung war, Nicolò bei Pietro oder andersherum. Es ist auch ziemlich einerlei, denn sie scheinen sich so gut verstanden zu haben, dass sich in den vielen Jahren, auch als Nicolòs Familie immer größer wurde, keiner von beiden nach einer anderen Wohnung umschaute.

Es finden sich Hinweise, dass der Komponist und Gesangslehrer Nicola Porpora zumindest zeitweilig ebenfalls ein Mitbewohner der 3. Etage war. Im Dachgeschoss wohnten, wohl nur für eine Zeitspanne, der Sänger und Komponist Johann Michael Spangler und der junge Josef Haydn.

Pietro Metastasio, der sich diesen Namen als Dichter und Librettist zulegte, stammte aus Rom. Er wurde als Hofdichter Kaiser Karls VI. nach Wien berufen. Seine Beziehungen zum Hof waren mehr als gut, auch war er als Librettist gefragt, so schrieb er zum Beispiel für Amadeus.

Metastasio hat an Marianna einen Narren gefressen. Er nennt die Kleine Nannette. Diesen Namen wird Marianna später übernehmen, um sich von denen so nennen zu lassen, die ihr nahe stehen. Ihre jungen Begleiter in späteren Jahren müssen sich diese Auszeichnung erst verdienen.

Der Dichter übernahm die Ausbildung seiner Nannette. Er muss ein guter Lehrer gewesen sein, denn als sie sich viele Jahre später als Musikpädagogin selbst um den Nachwuchs kümmern wird, wird Pietro noch immer ihr Vorbild sein. Er sorgte nicht nur dafür, dass sie in Literatur und Musik die besten Grundlagen erhielt, sie lernte auch mehrere Sprachen, sich in besten Kreisen zu bewegen und verschiedene Musikinstrumente. Natürlich konnte Pietro nicht alles selbst übernehmen. Er suchte die Lehrer aus, behielt dabei die Zügel in der Hand.

In ihren Erinnerungen, leider nicht viel mehr als eine flüchtige Skizze, schreibt Marianna neben Pietro nur von Josef Haydn und Guiseppe Bonno als ihren Lehrern. Es müssen sicher noch andere gewesen sein.

Josef Haydn gab dem Mädchen Klavierunterricht, durfte dafür an den Mahlzeiten der Familie teilnehmen. Der junge Mann, der wegen seines Stimmbruchs nicht mehr im Chor des Stephansdoms mitsingen durfte, war leicht zur Hand, da er im gleichen Haus wohnte.

Nannette saugte mit ihrer wachen Intelligenz alles auf, was ihr an Kenntnissen geboten wurde, machte in allen Fächern erfreuliche und schnelle Fortschritte. Haydn soll sich erstaunt geäußert haben, wie gut seine Schülerin schon spielte, als er ihr die erste Stunde gab.

Ihre Neugierde ging sogar so weit, auch alles aufzuschnappen, was mit Musiktheorie zu tun hatte. Als Pietro das nicht mehr übersehen konnte, bereitete er ihr den Weg zur Komponistin. Nach den ersten Auftritten, sogar unbenannt mit eigenen Stücken, wurde sie bald als Wunderkind in der Gesellschaft, die immer neue Gesichter auf der Bühne sehen wollte, herumgereicht.

Der Vater und der Mentor hatten beide sehr gute Beziehungen in Wien und nutzten sie für Marianna. Heute würde man sagen, sie knüpften ein Netzwerk. Die junge Frau lernte jeden kennen, der in der Stadt zu den besseren und einflussreichen Kreisen zählte, wurde eingeladen, spielte in den feinen Häusern, auch weil sie als Frau eine besondere Attraktion war.

Durch ihre dritte Messe wurde sie der Öffentlichkeit auch als Komponistin bekannt. Sie war 17 Jahre alt, als in der Hofkirche St. Michael ihre Komposition aufgeführt wurde. Es war ein Erfolg und die Kritiker fanden nichts zum Kritisieren, nur Lob. Sie spielte und sang auch fast regelmäßig bei Hofe und auch vor der Kaiserin. Sie wurde nicht nur als Pianistin, auch am Cembalo und als Sängerin geschätzt. Ihre eigene Musik fand Anklang, war angenehm zu hören, befand sich auf gutem Niveau. Immer mehr wurde sie zu einer anerkannten Künstlerin in der Hauptstadt.

Nachdem sie ausgewählte Arbeiten an den namhaften Komponisten Padre Martini schickte und ihre Werke von ihm gelobt wurden, dauerte es nicht lange, bis sich der Nürnberger Musikverleger Johann Ulrich Hafner meldete. Mariannas Klaviersonaten E-Dur und A-Dur kamen 1760 in seinem Verlag heraus. Für die Zukunft sah alles hell und vielversprechend aus.

Wie sich dann zeigen sollte, wurden, so lange sie lebte, keine weiteren Arbeiten mehr von ihr veröffentlicht. Daher verbreiteten sich ihre Kompositionen weiterhin durch Abschriften unter ihren Freunden. Was die Gründe dafür waren, dass nicht mehr von Marianna gedruckt wurde, konnte ich nicht ermitteln. Ich vermute, dass Kompositionen von Frauen kein vielversprechendes Geschäft bedeuteten.

Marianna komponierte viel. Es war eine sehr produktive Zeit. Wo auch immer sie war, am Ufer der Donau, auf den Wegen eines Parks, hatte sie Notenpapier für spontane Einfälle zur Hand. Sie hörte die Musik in ihrem Kopf, brauchte kein Instrument. Sie schrieb Messen, Oratorien, Kantaten, auch Cembalomusik. Ihre Werke basierten zumeist auf geistlichen Themen, was damals angesagt war. Dabei war sie ein lebensfroher Mensch, nur bedingt von der herrschenden bigotten Moral beeinflusst.

Padre Martini sollte noch einmal die Komponistin fördern, ihr zu besonderen Ehren verhelfen. Der Padre, als der Organisator, lud sie in die Accademia Filarmonica di Bologna ein. Mit Bravour bestand sie die nicht einfache Prüfung. Für eine Frau war die Aufnahme eine ganz seltene Auszeichnung. Damit wurde sie auch offiziell eine Kollegin vom großen Amadeus.

Hartnäckig hält sich das Gerücht, der Superstar habe sein Klavierkonzert KV 175 für Marianna geschrieben. Tatsache ist, dass sie das Stück bei einem Gartenfest spielte. Er soll darüber erfreut und gerührt gewesen sein.

Nachdem ihr Vater Nicolò gestorben war, ihr Bruder Carl die Wohnung im Michaelerhaus übernommen hatte, begann Marianna mit ihren Soireen, zu denen sie einmal in der Woche einlud. Der Komponist und Kapellmeister Salieri, ein Rivale von Amadeus, war immer wieder als Gast anwesend.

 

Als ihr von der Universität Padua der Ehrendoktor verliehen wurde, freute Amadeus diese heute nicht mehr nachzuweisende Würdigung so, dass er sich wieder einmal spontan neben ihr ans Klavier setzte und übermütig mit ihr vierhändig spielte. Solche künstlerischen Höhepunkte müssen für die Anwesenden unvergesslich geblieben sein.

Für ihr Oratorium Sant’ Elena al Calvario schrieb ihr alter Förderer und Freund Pietro Metastasio das Libretto. Nach seinem Tod hinterließ er ihr zudem das Libretto für ihre bekannteste Komposition, das Oratorium Isacco figura del redentore. Zudem setzte er sie und ihre Brüder zu seinen Erben ein, was die Geschwister von allen finanziellen Sorgen befreite. Wichtig war Pietro vor allem, dass seine Nannette nicht gezwungen war, eine reiche Heirat anzustreben; sie war damit frei.

Einige Jahre nach Pietros Tod gründete sie eine Singschule für Mädchen. Als Musikpädagogin spielte sie Klavier, Cembalo und unterrichtete Gesang. Neben ihrer Arbeit als Komponistin wurde ihr die Schule immer wichtiger. Ihre Akademie gilt heute als Vorbild des Konservatoriums. Einige ihrer Schülerinnen machten sich als Sängerinnen einen glänzenden Namen.

Es sind keine Hinweise zu finden, die belegen könnten, dass Marianna während ihrer Lebensspanne auch nur einmal Wien verlassen hätte. Dort wurde sie geboren, dort wurde sie zu einer anerkannten Künstlerin, die zur Wiener Klassik der Musik zählt, und dort starb sie.

Nur zwei Tage nach dem Tod ihrer jüngeren Schwester Antonia, ging am 13. Dezember 1812 auch Mariannas Lebensweg zu Ende. Sie starb mit 68 Jahren an Tuberkulose. Ihre letzte Ruhestätte fand die Künstlerin auf dem St. Marxer Friedhof in Wien.

Schon in den Jahren nach ihrem Tod wurden ihr Name und damit auch ihre Musik vergessen. Erst in den letzten Jahrzehnten tauchte ihre Musik wie ein Phönix aus der Asche wieder auf.

Das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde Wien ist stolz auf den Besitz von Kompositionen, die von Marianna selbst geschrieben wurden. In guten Musikalienhandlungen sind CDs zu finden, auf denen uns hervorragende Interpreten ihre Werke zu Gehör bringen.

Marianna von Martines hat inzwischen wieder den Klang in der Musikwelt, der ihr angemessen ist.

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