Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik

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Multilaterale EntwicklungszusammenarbeitEntwicklungszusammenarbeitmultilateral

Lösungen für die immer dringender werdenden globalen Entwicklungsprobleme mit weltweiten Ursachen und Auswirkungen können nicht von einzelnen Staaten alleine gefunden werden, sie erfordern multilaterale Zusammenarbeit.

Die wichtigsten Institutionen der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit, die die Bundesregierung finanziell unterstützt, sind

 der Europäische EntwicklungsfondsEuropäischer Entwicklungsfonds und das Entwicklungszusammenarbeitsbudget der Europäischen Union,

 die WeltbankgruppeWeltbankgruppe,

 die Asiatische, Lateinamerikanische, Karibische und die Afrikanische Entwicklungsbank (Regionalbanken),

 die UNFonds und ProgrammeUNFonds und Programme (wie z.B. UNDP, UNFPA, UN Women, UNICEF, WFP, UNHCR und UNHabitat),

 der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und MalariaGlobale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria.

EntwicklungspolitikEntwicklungspolitikim weiteren Sinne im weiteren Sinne (globale Strukturpolitikglobale Strukturpolitik)

Entwicklungspolitik im weiteren Sinne wird als globale Strukturpolitik bezeichnet. Unterschieden werden vier Arten von Globalisierung, die

 ökonomische Globalisierung,

 soziale Globalisierung,

 ökologische Globalisierung und

 politische Globalisierung.

Wenn sich Probleme globalisieren, muss sich auch die Politik globalisieren, d.h. globale Verantwortung übernehmen und Strukturen aufbauen, die globales Handeln ermöglichen. Der Versuch zur Bewältigung von globalen Herausforderungen heißt Global GovernanceGlobal Governance (globale Ordnungspolitik). Global Governance hat die Aufgabe, die Globalisierung politisch so zu gestalten, dass deren Risiken minimiert und deren Chancen optimiert sowie Ungerechtigkeiten abgebaut werden. Entwicklungspolitik wird also als globale Strukturpolitik definiert, deren Ziel es ist, die wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse in den Entwicklungsländern zu verbessern und einen Beitrag zur Mitgestaltung der globalen Ordnungspolitik zu leisten. Dabei lassen sich vier Ansatzpunkte unterscheiden:

 Ökonomische Globale OrdnungspolitikGlobale OrdnungspolitikökonomischeGlobale Ordnungspolitik: Regeln für eine gerechtere Welthandelsordnung, internationale Regeln gegen das Unterwandern nationalstaatlicher Steuergesetze, die Einführung internationaler Steuern und Abgaben.

 Soziale Globale OrdnungspolitikGlobale Ordnungspolitiksoziale: Internationale Sozialstandards, Kernarbeitsnormen, Kampf gegen Kinderarbeit, Sozialklauseln, Soziale Gütesiegel, Global Compact.

 Ökologische Globale OrdnungspolitikGlobale Ordnungspolitikökologische: Insbesondere Klimarahmenkonvention, Artenvielfaltkonvention, Montrealer Protokoll zur FCKWMinderung, Wüstenkonvention.

 Politische Globale OrdnungspolitikGlobale Ordnungspolitikpolitische: Internationaler Strafgerichtshof, reformierter Weltsicherheitsrat, Idee: UNSicherheitsrat für wirtschaftliche und soziale Rechte.

Schließlich hat die Entwicklungspolitik den Auftrag, einen Beitrag zur „Weltinnenpolitik“, die Carl-Friedrich von Weizsäckervon Weizsäcker, Carl-Friedrich in den 1960er-Jahren bereits vorgedacht hat, zu leisten.

❋ ErfolgskontrolleErfolgskontrolle

Entwicklungszusammenarbeit ist nur dann erfolgreich, wenn die finanziellen und personellen Mittel sinnvoll und effektiv eingesetzt werden. Daher überprüft das BMZ nicht nur regelmäßig die ordentliche Verwendung der eingesetzten Haushaltsmittel, sondern lässt die entwicklungspolitische Wirksamkeit seiner Vorhaben zusätzlich im Rahmen sog. EvaluierungEvaluierungen überprüfen. Das Ministerium verfügt über ein umfangreiches Instrumentarium, mit dem es die Vorhaben auswertet. Hierzu zählen Feldforschungen, Wirkungsanalysen, Befragungen, ExpostAnalysen und internationale Vergleiche. So kann es aus Rückschlägen lernen und Erfolge auf andere Vorhaben übertragen. Zur Stärkung der Unabhängigkeit der Evaluierung hat das BMZ ein eigenes Evaluierungsinstitut mit Sitz in Bonn gegründet – das Deutsche Evaluierungsinstitut der EntwicklungszusammenarbeitDeutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval).

Auf der Website www.deval.org kann das Evaluierungsprogramm, aktuelle Evaluierungen und Berichte eingesehen werden.

❋ Grafiken


Abb. 1: Motive der Entwicklungspolitik


Abb. 2: Gründe für Flucht und Migration


Abb. 3: Instrumente der Entwicklungspolitik

2 Die mühseligen Anfänge der deutschen Entwicklungspolitik (1953–1961)

Die ersten entwicklungspolitischen Versuche im Wirtschaftsministerium und im Auswärtigen Amt sowie Gründung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

❋ Beschreibung und Wertung

Die Anfänge der Entwicklungszusammenarbeit waren mühselig, mutig und verwirrend zugleich. Sie gehen auf den Beginn der 1950er-Jahre zurück.

Die Bundesrepublik Deutschland hat erstmals im Jahre 1953 Entwicklungshilfe geleistet. Im Haushaltsplan dieses Jahres wurde aus Gegenwertmitteln des MarshallplanMarshallplans1 ein Betrag von 500.000 DM für Entwicklungshilfe ausgewiesen, und zwar im Etat des Bundesministeriums für Wirtschaft als „Zuschüsse für die Förderung des Erfahrungsaustausches mit weniger entwickelten Gebieten“.2 Bemerkenswert ist, dass diese Mittel aus dem ERPSondervermögen stammten, obwohl nach dem Gesetz über die Verwaltung des ERPSondervermögens ERPMittel nur zur „Förderung der deutschen Wirtschaft“ ausgegeben werden durften. Als Hilfsbrücke diente die Bezeichnung „Erfahrungsaustausch“.3 Was Deutschland von den Amerikanern an Hilfe erfahren hatten, wurde weitergereicht an Entwicklungsländer – aus „Nehmenden“ wurden „Gebende“. Die Einschätzung, dass die Entwicklungshilfe als genuiner Bestandteil der Außenwirtschaftspolitik zu betrachten sei, ließ das neue Sachgebiet wie selbstverständlich in die Kompetenz des Bundesministeriums für WirtschaftBundesministerium für Wirtschaft (BMWi) fallen.4 Dem Drängen des BMWi auf eine Erhöhung der Mittel folgte der Bundestag im Bundeshaushalt 1956 mit einem Titel von 3,5 Mio. DM mit der Zweckbestimmung „Hilfeleistungen für den wirtschaftlichen Aufbau von weniger entwickelten Ländern“5, diesmal im Haushalt des AA.

In der Zwischenzeit hatte sich im Bundestag ein interfraktioneller Konsens unter entwicklungspolitisch motivierten Abgeordneten herausgebildet, die sich mit ihrer Forderung nach Erhöhung der Entwicklungshilfebeiträge allerdings nur langsam gegen die Haushalts und Finanzexperten der Fraktionen durchsetzen konnten. Gleichzeitig wirkten die USA über diplomatische Kanäle massiv auf eine Erhöhung der Beträge hin. Die USA begründeten ihr Drängen mit der notwendigen Aufteilung der Verteidigungslasten, zu denen sie auch die Kosten der Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion in der Dritten Welt rechneten.6, 7

Folgerichtig wurde im gleichen Haushaltsjahr 1956 ein Titel von 50 Mio. DM angesetzt, der im Auswärtigen Amt den Zweck „Förderung wirtschaftlich unterentwickelter Länder“ auswies. Dieser Impuls kam vom sozialdemokratischen Abgeordneten Helmut KalbitzerKalbitzer, Helmut. Mit diesen 50 Mio. DM begann im Auswärtigen Amt die deutsche Entwicklungshilfepolitik.8

Allerdings häuften sich im Auswärtigen AmtAuswärtiges Amt damit zugleich die Probleme. Für das neue Aufgabenfeld fehlte es an einem geeigneten Verwaltungsapparat. Dennert vergleicht zutreffend die damalige Situation des Auswärtigen Amtes mit der eines Mannes, „dem unverhofft ein Elefant geschenkt wird“,9 denn es fehlten Entwicklungshilfefachleute ebenso wie sachkundig durchgeprüfte Projekte und vor allem eine mit den Einzelproblemen und Eigenheiten der Entwicklungshilfe vertraute Administration.10 Um die neue Staatsaufgabe administrativ zu bewältigen, griff die Bundesregierung zunächst auf vorhandene Arbeitseinheiten der obersten Bundesverwaltung zurück, insbesondere auf die des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für Wirtschaft und des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.11

Um die Interessen und Prioritäten aller beteiligten Ressorts gebührend zu bündeln, wurden die sog. interministeriellen Koordinierungsausschüsse auf Ministerialebene gebildet. Es war dies vor allem der interministerielle Ausschuss für Entwicklungspolitik, allgemein Lenkungsausschuss genannt, und die beiden interministeriellen Referentenausschüsseinterministeriellen Referentenausschüsse (IRAs) für Technische Hilfe und Kapitalhilfe.12, 13

 

Der Lenkungsausschuss bestand aus Vertretern der beteiligten Ministerien, und zwar unter wechselndem Vorsitz des AA und des BMWi. Er entschied unter Vorbehalt der Zuständigkeit des Kabinetts in allen Fragen der Entwicklungshilfe von grundsätzlicher Bedeutung. Ihm oblag die Bestimmung des Mitteleinsatzes, während die Durchführung der Projekte von den jeweils zuständigen Fachressorts übernommen wurde (etwa dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, dem Bundesarbeitsministerium oder dem Bundesverkehrsministerium). Doch die Kompetenzkonflikte häuften sich. Vor allem das AA und das BMWi gerieten in einen permanenten Zuständigkeitskonflikt, der sich noch dadurch verschärfte, dass andere, sachlich an einzelnen Projekten beteiligte Ressorts ebenfalls Zuständigkeiten beanspruchten. Ordner um Ordner füllten Regale mit „Zuständigkeitsunterlagen“.14

Die Anstöße zur Errichtung eines Entwicklungsministeriums als Koordinationsorgan gingen nicht von der Verwaltung, sondern gegen Ende der dritten Bundesregierung unter Konrad AdenauerAdenauer, Konrad von Abgeordneten des Deutschen BundestagesDeutscher Bundestag aus.15,16 Insbesondere die Sprecher der oppositionellen SPD sowie der entwicklungspolitische Sprecher der FDP, Walter ScheelScheel, Walter, forderten immer wieder ein eigenes Entwicklungsministerium.17 Walter ScheelScheel, Walter: „Die Kompetenz sollte in einer Hand, in einer politisch verantwortlichen Hand konzentriert sein. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum man bei Finanzhilfen, bei Investitionshilfen neun Ressorts braucht. Das halte ich für baren Unsinn“.18 Niemand hat stärkeren Einfluss auf die Gründung des BMZ ausgeübt als ScheelScheel, Walter selbst.19

Im Parlament herrschte die Ansicht vor, dass der viel beklagte Mangel an Koordination der Hauptnachteil der deutschen Entwicklungshilfe sei. Die Verstärkung der Kompetenzkonflikte im Zuge der rapiden Steigerung der finanziellen Mittel könne durch „ein Koordinierungsministerium“ am besten aufgefangen werden. Die Bedeutung der Entwicklungshilfe sei durch eine selbstständige Vertretung im Kabinett zu unterstreichen, zumal das Mittelvolumen für Entwicklungshilfe bereits dasjenige bestehender Ministerien überstieg. Die Existenz eines eigenen Ressorts sollte den Willen der Bundesrepublik Deutschland zur praktischen Entwicklungshilfe manifestieren, das Image der deutschen Maß­nahmen verbessern und die Kontakte zu den Entwicklungsländern konzentriert in geordnete Bahnen lenken.20 Der BundestagDeutscher Bundestag kann also mit Recht die Entwicklungspolitik als sein ureigenes Kind betrachten. Von Anfang an sah das Parlament in der Entwicklungspolitik eine Sache sui generis.21

Zur Gründung des BMZ trug bei, dass sich die Landkarte auf dem Nachbarkontinent Afrika beträchtlich änderte, viele Entwicklungsländer waren erstmals als solche präsent, viele standen kurz vor der Unabhängigkeit.

Im Vorfeld der Gründung des BMZ war 1959 – auf Initiative von Dr. Gerhard Fritz – die Deutsche Stiftung für EntwicklungsländerDeutsche Stiftung für Entwicklungsländer (DSE)22 in BerlinTegel errichtet worden, die die Aufgabe hatte, die Beziehungen der Bundesrepublik zu den Entwicklungsländern auf der Grundlage gegenseitigen Erfahrungsaustausches zu pflegen, insbesondere durch Tagungen, Seminare, Exkursionen und die Vorbereitung von Fachkräften für eine Tätigkeit in Entwicklungsländern. Die DSE war eine Art Vorhut des späteren Entwicklungsministeriums.

Bei der Bundestagswahl vom 15. September 1961 verlor die Union die absolute Mehrheit. In den Koalitionsverhandlungen mit der FDP Mitte November 1961 fiel die Entscheidung, ein eigenes Fachressort für Entwicklungshilfe bzw. politik zu gründen. Noch kurz davor, am 10. November 1961, hatten Außenminister Heinrich von Brentanovon Brentano, Heinrich und Wirtschaftsminister Ludwig ErhardErhard, Ludwig mit ihren Spitzenbeamten versucht, mit einer gemeinsamen Kabinettvorlage zu „Fragen der Zusammenarbeit und Organisation der Entwicklungshilfe“ dies zu verhindern, mit der Argumentation, dass das Ausschusssystem die optimale Lösung darstelle.23 AdenauerAdenauer, Konrad entschied jedoch gegen ihr Votum und gründete das BMZ.

❋ Stimmen von Zeitzeugen: Walter KieferKiefer, Walter, Dr. Günther OldenbruchOldenbruch, Günther

Walter KieferKiefer, Walter

1953–1956 Assistent am UNESCOInstitut für Jugendfragen, 1956–1959 Geschäftsführer des Kath. Akademischen AusländerDienstes (KAAD), 1959–1963 stellvertretender Geschäftsführer von Misereor und seit 1962 Vorstandsmitglied der Kath. Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE), 1963–1966 Leiter der Projektabteilung des DED, 1966–1973 Vorstand der Kübel-Stiftung und GF der Gesellschaft für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, 1973–1990 GF der Carl Duisberg Centren, 19911996 GF der SEQUA.

Erwachende Solidarität: Die Kirchen als Wegbereiter der Entwicklungszusammenarbeit

Auf der Jahresversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda im August 1958 trug Kardinal FringsFrings, Kardinal Joseph in einem großangelegten Referat einen mutigen Plan zur Gründung von Misereor vor. Frings: „Bei dem zu gründenden Werk geht es nicht um ein Mittel der Mission, sondern um die Teilnahme an der Leibsorge des Herrn. Es geht nicht darum, den Gefahren auf politischem und religiösem Gebiet zu begegnen, also auch nicht um eine Aktion, um dem Bolschewismus zuvorzukommen, sondern schlicht um die Betätigung der christlichen Barmherzigkeit“. Die Not Christi in seinen Brüdern zu erkennen, am Erbarmen Christi für sie teilzunehmen, das waren die Leitmotive, die Kardinal Frings dem Werk Misereor mit auf den Weg gab. Als Grundsatz galt: MisereorMisereor sucht sich den zu Helfenden nicht nach seiner Religion oder seiner politischen Orientierung aus.

Einen so großzügigen und großherzigen Plan zu verwirklichen, wie ihn Kardinal FringsFrings, Kardinal Joseph vor Augen hatte, musste Ende der 1950er-Jahre – also rund 13 Jahre nach Ende des Krieges – als Wagnis und Risiko erscheinen. Dass die Bischöfe dennoch zustimmten, dass der Durchbruch erzielt werden konnte, dass auch die Evangelische Kirche – ausgelöst durch eine Hungersnot in Indien – die gleiche Idee aufgriff und ihre Aktion „Brot für die WeltBrot für die Welt“ ins Werk setzte, darauf dürfen die katholischen und evangelischen Christen diese Landes mit einiger Dankbarkeit und einigem Stolz zurückblicken.

Niemand unterlag damals der Versuchung, zu meinen, mit den beschränkten Mitteln der Kirche könnten Hunger und Not in der Welt beseitigt werden. Die Kirchen wollten mit ihrer Hilfe ein Beispiel geben. Ihr regelmäßiger Aufruf sollte der Öffentlichkeit das Unrecht in der Welt vor Augen stellen. So verstand sich MisereorMisereor als ein ständiger Mahner an das eigene Volk und die Regierung, um im Sinne der Sozialenzyklika „Mater et Magistra“ zu handeln, das heißt Armut und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.

Das eigentliche Abenteuer, das Misereor bis heute darstellt, besteht in der Verbindung des Impulses christlicher Liebe, christlicher Solidarität mit rationalem und pragmatischem Handeln zugunsten der Armen. Die Kirchen waren somit auch die Wegbereiter der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Daran gilt es zu erinnern.

Dr. Günther OldenbruchOldenbruch, Günther (†)

Von 1967 bis 1999 Leiter der Zentralstelle für Auslandskunde der DSE. Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam und an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl. Seit 1999 Vorsitzender des Bonner Chapter der Society for International Development (SiD).

Der lange Weg zum Uhlhof – die Vorbereitungsstätte der DSE

Im Frühjahr 1956 verbrachte ich auf Einladung einer ägyptischen Familie drei Monate in Ägypten. Ohne mich sonderlich auf diese Zeit vorzubereiten, trank ich das Wasser, aß, was auf den Tisch kam, lebte völlig integriert in dieser Familie. Die Amöbenruhr war mir sicher. Die Frau meines Gastgebers war Leiterin der Ballettfakultät. Als ich mich in eine ihrer Sportlehrerinnen verliebte, wies sie mich darauf hin, dass, wenn ich „so weitermachte“, ich sie heiraten müsste. Das sei hier so üblich. Und ich hatte plötzlich das unendliche Bedürfnis nach einem deutschen Essen.

Später übersetzt in die Kategorien von „Vorbereitung für eine Tätigkeit in Entwicklungsländern“ hieß das „Kenntnis über und Respekt vor der anderen Kultur“ und „Kenntnis der eigenen kulturellen Prägung als Voraussetzung für eine gelingende interkulturelle Kommunikation“.

Ich bewarb mich um ein Promotionsstipendium beim DAAD. Die Fragen des Kunsthistorikers Prof. Lützeler, des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses, über Indien habe ich anscheinend nicht so richtig beantwortet, was ihn zu der Schlussfrage veranlasste, ob ich denn wohl wenigstens (!) den Unterschied zwischen Hinduismus und Christentum kennen würde. Wenn schon nicht vorbereitet, dann wenigstens forsch: „Ich bin DiplomKaufmann und fahre ja deswegen dorthin.“

Wir trafen uns wenige Wochen später auf einem Frachtdampfer von Rotterdam nach Indien wieder. In den vier Wochen der Reise waren Lützeler und ich sehr auf einander angewiesen. Und ich lernte viel. Und ich kam gut vorbereitet in Indien an.

Ich verbrachte einige Tage im „German Social Center“ des Stahlwerks Rourkela. Ein wichtiges Thema: Wie muss und kann man die deutschen Fachkräfte auf diese Arbeit vorbereiten?

Die Deutsche Stiftung für EntwicklungsländerDeutsche Stiftung für Entwicklungsländer war 1959 zur Erhöhung der BerlinPräsenz des Bundes in Berlin gegründet worden. Ich lernte ihren Ableger „Auslandkunde“ in Bonn kennen. Und habe in der Folge ca. 30 einwöchige Kurse für RourkelaPersonal durchgeführt.

Als dieser Ableger einen neuen Chef brauchte, machte ich das Rennen. Und stellte mich einschlägig im BMZ vor. Dort musste ich die Frage beantworten, was ich denn von solch einwöchigen Kursen hielte: „Nicht viel“. „Wie lange müsste denn eine sorgfältige Vorbereitung dauern?“ „Drei Monate – mit Sprache“. „Dann machen Sie doch mal einen Vorschlag“: Dieser wurde angenommen.

Die dreimonatige Vorbereitung in der neu der DSE zur Verfügung gestellten alten Villa Mauser, dem Uhlhof, in Bad Honnef hatte das Licht der Welt erblickt.

Womit die Konflikte begannen. Der Höhepunkt: Vier Wochen nach Beginn ihrer Vorbereitung erklärte eine Teilnehmerschaft die Vorbereitung für beendet. Unser Bild von Entwicklungsländern und Entwicklungshilfe war nicht das ihre. Dort wollten sie nicht hin.

Erst mit der von BM EpplerEppler, Erhard am 11. Februar 1971 vorgestellten „Entwicklungspolitischen Konzeption für die zweite Entwicklungsdekade“ bekamen wir Boden unter die Füße: Entwicklungshilfe dient nicht nur dem wirtschaftlichen Wachstum, sondern auch dem sozialen Fortschritt. Es war ein mühseliger Anfang.

3 Entwicklungspolitik im Dienste der Deutschlandpolitik

Minister: Walter ScheelScheel, Walter (1961–1966)


Walther Scheel * 1919 †2016

❋ Beschreibung und Wertung

Als „Geburtstag“ des BMZ gilt der 14. November 1961, der Tag, an dem Walter ScheelScheel, Walter mit 42 Jahren im Kabinett von Bundeskanzler Konrad AdenauerAdenauer, Konrad zum ersten Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ernannt wurde – übrigens gegen massive Bedenken von Ludwig ErhardErhard, Ludwig.1 Für Walter ScheelScheel, Walter sprachen verschiedene Faktoren: Zum einen war er im Europaparlament seit 1958 Vorsitzender des Entwicklungshilfeausschusses und brachte von dorther die erforderliche fachliche Kompetenz mit, zum anderen war er der prominenteste Sprecher der FDP in Sachen Entwicklungspolitik2, und schließlich spielten koalitionspolitische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle.3 AdenauerAdenauer, Konrad, den die FDP im Wahlkampf aufs Altenteil schicken wollte, brauchte, um die Widerspenstigen doch noch ins Boot zu holen, ein Ministerium für Walter ScheelScheel, Walter. Anekdoten zufolge soll ScheelScheel, Walter selbst nicht zuletzt deshalb an einem Amt des Entwicklungshilfeministers gelegen haben, weil er sich ein Ressort wünschte, das ein überschaubares Maß an Aktenarbeit und viele Auslandreisen mit sich brachte.4

 

Wenn der damalige Kanzler AdenauerAdenauer, Konrad dem Minister Walter ScheelScheel, Walter, der auf Einrichtung dieses Ministeriums gedrungen hatte, eine „Dorne ohne Rosen“ verhieß5, so lag das vor allem an den Kompetenzüberschneidungen, die die Arbeit des Ministeriums erschwerten.

Der Aufbau des neuen Hauses selbst begann zunächst im Bundeshausrestaurant. Ehe die Bundestagsadministration ScheelScheel, Walter ein Ministerbüro zur Verfügung stellen konnte, tagte der Ressortchef mit seinen Mitarbeitern an einem Esstisch. Erst nach einigen Wochen konnte man in mehreren Räumen der Amerikanischen Botschaft und anschließend in eine Baracke auf dem Gelände des Finanzministeriums umziehen.6 Das BMZ nahm mit 34 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seine Arbeit auf. Ein eigenständiges Ministerium für Entwicklungsaufgaben – das war ein Novum in ganz Europa. Die Tatsache, dass ScheelScheel, Walter trotz aller widrigen Umstände in kurzer Zeit einen Stab hervorragender Fachleute zusammen bekam, hatte eine Ursache wohl auch in den Aufstiegschancen, die ein neues Ministerium nun einmal zu bieten hat.7

Bei der bilateralen Hilfe gab es zwei wichtige Stränge: mit der KapitalhilfeKapitalhilfe, meist zinsgünstige Kredite, wurden überwiegend große Infrastruktur und Industrievorhaben finanziert (Häfen, Flughäfen, Straßen, Staudämme, Wasserkraftwerke, Stahlwerke, Düngemittelfabriken, Zementfabriken etc.). Neben dieser Projekthilfe wurden in begründeten Einzelfällen auch Kredite bewilligt, um die Einfuhr dringend benötigter Rohstoffe, Maschinen und Ersatzteile zu finanzieren (Warenhilfe). Bei der Technischen HilfeTechnische Hilfe (Zuschüsse) standen technischgewerbliche Ausbildungsstätten, Mustereinrichtungen und Demonstrationsprojekte im Vordergrund.

Nach dem Bundeskanzlererlass vom 29. Januar 1962 oblag dem BMZ im Wesentlichen die Koordinierung der Entwicklungshilfepolitik des Bundes. Die fachliche Zuständigkeit für Kapitalhilfe und Technische Hilfe als auch der Vorsitz und die Geschäftsführung der interministeriellen Referentenausschüsse für Kapitalhilfe und Technische Hilfe blieben dem BMWi und dem AA überlassen. Mit der Durchführung der Technischen Hilfe betraute das AA die „Treuarbeit“, die Deutsche Revisions und Treuhand GmbH, die sog. GAWiGAWi. Das Kürzel war vom Vorkriegsnamen der Organisation „GarantieAbwicklungsGesellschaftGarantieAbwicklungsGesellschaft“ übrig geblieben.8 Mit der Durchführung der Kapitalhilfe betraute das BMWi die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Mit anderen Worten: Das BMZ erhielt in summa nur das Recht, über alle Vorgänge auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik informiert zu sein.9

Die Koordinierungsprobleme bei der Entwicklungshilfe verschärften sich 1962/1963 weiter. Einem Gutachten des BundesrechnungshofBundesrechnungshofs vom Dezember 1963 zufolge war die Entwicklungshilfe schließlich auf 16 Ressorts mit zusammen 231 Referaten in der Ministerialbürokratie verteilt. In den interministeriellen Referentenausschüssen für Kapitalhilfe und Technische Hilfe befanden bis zu 45 Beamte aus bis zu 10 Ministerien über einzelne Projekte.10 Es war die Zeit des sog. „Verwaltungskrieges“, der alle Beteiligte Zeit und Kraft gekostet hat.11

Auf diese Situation reagierte der Bundeskanzlererlass vom 23. Dezember 1964. Er verbriefte zum ersten Mal die Eigenständigkeit der Entwicklungshilfepolitik.12 Dem BMZ wurde die Zuständigkeit für die Grundsätze und Programme der Entwicklungshilfepolitik sowie die Planung und Durchführung der Technischen ZusammenarbeitZusammenarbeittechnische übertragen, die bisher beim AA lag. Die Zuständigkeit des BMWi für die KapitalhilfeKapitalhilfe und die Verantwortung des AA für alle außenpolitischen Fragen der Entwicklungshilfe blieben unangetastet.13, 14 Walter ScheelScheel, Walter bekannte in der Haushaltsdebatte am 24. Mai 1965: „Nun ich muss sagen, dass bei der Neuregelung von Zuständigkeiten die Umsetzung einer Grundsatzentscheidung in die Praxis ein ungewöhnlich qualvoller Prozess ist. Aber dieser Prozess muss nun einmal durchgestanden werden.“15

Während seiner Amtszeit (1961–1966) erarbeitete Walter ScheelScheel, Walter die ersten Konturen der deutschen Entwicklungspolitik.

Vor über 60 Jahren kam der HallsteinDoktrinHallsteindoktrin eine besondere Bedeutung zu. Der HallsteinDoktrin zufolge wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen dritter Staaten mit der DDR von der Bundesrepublik aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruches für das gesamte deutsche Volk als unfreundlicher Akt angesehen und in der Regel mit dem Abbruch bzw. der Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen beantwortet. Entwicklungspolitik war ein Instrument zur Durchsetzung der HallsteinDoktrin.16, 17 Man drohte bei der Anerkennung der DDR mit der Einstellung der Entwicklungshilfe. Die Entwicklungshilfe wurde gezielt an Länder vergeben, um die Anerkennung der DDR durch Staaten der Dritten Welt zu verhindern.18 Der Erfolg dieser Politik war, dass außer Kuba und Kambodscha bis 1969 kein Entwicklungsland volle diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahm.19 Die Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik als Mittel der Deutschlandpolitik schlug sich in einer breiten Streuung der Entwicklungshilfe nieder („GießkannenprinzipGießkannenprinzip“)20. ScheelScheel, Walter schrieb dazu: „Der wichtigste Grund für die Ausarbeitung eigener Hilfsprogramme für jedes einzelne Empfängerland ist der, dass die Bundesrepublik, ähnlich wie die USA, nur mit einem sehr viel geringeren Hilfspotenzial gezwungen ist, praktisch alle Entwicklungsländer bei der Durchführung ihres Aufbauprozesses zu unterstützen. Die Bundesrepublik kann sich nicht – wie dies vor allem Frankreich und Großbritannien tun – ausschließlich oder überwiegend auf bestimmte Regionen konzentrieren.“21 Und an anderer Stelle: „Großbritannien arbeitete in den letzten Jahren mit 40 Entwicklungsländern zusammen, Frankreich mit 23, wir jedoch mit 71, im Bereich der Technischen Hilfe sogar mit 90. Die besondere politische Lage unseres Vaterlandes lässt es zunächst geboten erscheinen, möglichst viele Entwicklungsländer zu unterstützen“ und eine entsprechend „weitgestreute Entwicklungspolitik zu betreiben.“22

Und weiter: „Wir können von den Entwicklungsländern Unterstützung in der Frage der Wiedervereinigung nur erwarten, wenn wir auf ihr eigenes vordringlichstes Interesse – die Förderung ihres wirtschaftlichen Aufstiegs – in dem gebotenen Maße eingehen. Durch Verständnis für die Sorgen der Entwicklungsländer müssen wir um Verständnis für unsere eigenen Probleme werben. Der Ostblock und nicht zuletzt die sowjetische Besatzungszonesowjetische Besatzungszone haben diese Zusammenhänge erkannt und konkurrieren mit uns um Sympathie und politisches Verständnis der Entwicklungsländer. Die sowjetische Besatzungszone ist in 23 Ländern der Dritten Welt mit insgesamt 33 Vertretungen (Generalkonsulate, Konsulate, Handelsvertretungen, Vertretung der Kammer für Außenhandel, der deutschen Notenbank, des Ministeriums für Außenhandel) tätig und versucht, durch steigenden Einsatz personeller und wirtschaftlicher Mittel und Kräfte ihre Anerkennung zu erreichen. Doch die HallsteinDoktrinHallsteindoktrin hat sich als eine Formel erwiesen, deren flexible Anwendung die formale Anerkennung der SBZ durch Entwicklungsländer bisher verhindern konnte.“23

Neben der Deutschlandpolitik wurde auch das Spannungsfeld zwischen Entwicklungspolitik und Außenwirtschaftspolitik in den 1960er-Jahren intensiv diskutiert.24, 25 ScheelScheel, Walter setzte sich mit Nachdruck für die Berücksichtigung außenwirtschaftlicher Interessen ein: „Es wäre eine fragwürdige Exporthilfe, wenn wir Kapitalhilfe nur deshalb geben würden, damit die deutsche Investitionsgüterindustrie exportieren kann. Es geht vielmehr darum, dass die deutsche Entwicklungspolitik, ohne sie zu einer simplen Exportförderungspolitik zu machen, zu einem Instrument entwickelt wird, das langfristig gesehen einen entscheidenden Beitrag zur Konsolidierung unseres Außenhandels mit der Dritten Welt leisten kann. So gesehen versteht sich Entwicklungspolitik als Basisinvestition für den lebenswichtigen Außenhandel der deutschen Wirtschaft. Durch eine geeignete Kombination von ausgewählten Maßnahmen und durch geschickte Wahl regionaler Schwerpunkte wird es möglich sein, die entwicklungspolitischen Zielsetzungen mit den außenwirtschaftlichen Interessen langfristig so miteinander in Einklang zu bringen, dass beide Seiten, Geber und Nehmer, den größtmöglichen Nutzen ziehen.“26

Wie alle Gebernationen stand auch die Bundesrepublik seit Beginn ihrer Unterstützungspolitik vor der grundsätzlichen Frage, ob sie den Entwicklungsländern über gemeinsam getragene multilaterale Organisationen helfen oder ob sie direkt mit den einzelnen Empfängerländern Verträge schließen sollte. Die offizielle ebenso wie die interne Diskussion vollzog sich weitgehend in der verengten Perspektive geberorientierter Interessenstandpunkte.