Emil aus der Drachenschlucht

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Kunststückchen vollführen konnte, aber eines Tages rutschte es quer auf seinen Schna-

bel und er war erstaunt, wie groβ man ganz kleine Dinge damit sehen konnte. Fortan

stülpte er es fast täglich über und beeindruckte seine Artgenossen nicht nur mit seinem

scharfen Verstand sondern auch mit seinem sprichwörtlich scharfen Blick. Und da sich

seine Bildung bei den Rabenvögeln bald herumsprach, verlieh ihm der groβe Corvus

den Titel Professor.

Mit der Brille vor den Augen stolzierte er nachdenklich vor dem Drachen hin und her.

„Kräh, kräh, dann wird es wohl das Beste sein, wenn ich Corvus ersuche, den Rat der

Rabenvögel einzuberufen. Wir müssen überlegen, kräh, kräh, was wir mit dir anstel-

len.“ Insgeheim dachte er, ein Drache von dieser geringen Gröβe kann schnell ein Op-

fer der Menschen werden.

Professor Jakoble verlieβ die Höhle und flog kurz Richtung Süden, wo er beim Einflug

in die Schlucht einen Eichelhäher gesehen hatte. Ihm erteilte er jetzt den Auftrag, Cor-

vus zu suchen und ihn in seinem Namen zu bitten, alle Raben des Rabenrates und des

Rabenvolkes hier in die Schlucht einzubestellen. Es gibt ganz wichtige Dinge zu be-

sprechen.

Die Brille fest auf dem Schnabel flog der Professor zu Emil zurück.

Binnen weniger Stunden waren die Bäume in der Schlucht überfüllt mit Raben und

Krähen, denn es hatte sich auch ohne die Nachricht des Eichelhähers herumgespro-

chen, dass hier mittlerweile ein Drache hauste und den wollten alle unbedingt sehen.

Der Rabenrat

Corvus, der gröβte und älteste aller Raben, saβ auf dem dicken Ast einer Buche. Er war

ein Kolkrabe und trug eine Augenklappe. Man erzählte sich bei den Schwarzgefieder-

ten, er soll sogar fünfzig Jahre oder gar noch älter sein. Wieder andere wussten zu be-

richten, dass er vom Geschlecht des Hugin abstammte, der neben Munin dem obersten

Wikingergott Odin diente. Sei es wie es sei, seit Corvus zum Oberhaupt aller Rabenvö-

gel gewählt worden war, herrschte Frieden zwischen ihnen. Sein Spruch „Eine Krähe

hackt der anderen kein Auge aus“ wurde zum ehernen Gesetz unter allen Krähenvö-

geln, egal welcher Art sie auch waren.

Missmutig beobachtete er mit seinem scharfen Auge das Geplapper und Gekrächze der

ganzen Schar, die gleich einer Armee arbeitsamer Ameisen auf dem Versammlungs-

platz hin und her liefen. Schlieβlich bereitete er dem Durcheinander ein abruptes Ende.

Doch lauschen wir den Raben selbst.

„Kraa, kraa“, krähte Corvus mit mächtiger Stimme, seinen Kopf bedeutsam in die Höhe

stoβend, „Rrrrrrrrruhe jetzt!“

Sofort wurde es still und die Raben, Krähen, Elstern und Dohlen flogen, ein jeder nach

Rang und Namen, auf einen kleinen, dünnen oder dicken, festen Ast. Die alten Raben

setzten sich auf höhere Äste, die jüngeren auf untere. Ganz oben, fast in der Spitze einer

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schlanken, hochgewachsenen Buche formierte sich der oberste Rat der Raben. Neben

Corvus nahmen die wichtigsten Ratsmitglieder Platz. Dazu zählten: Fräulein Schmü-

cker, eine überaus hübsche Elsterdame, die Goldringen und Perlenketten nicht wider-

stehen konnte; Vogelscheuchenzerrupfer, eine furchtlose, tollkühne Rabenkrähe, die

nicht einmal davor zurückschreckte Schäferhunden auf den Rücken zu fliegen und in

die Köpfe zu hacken und die Saatkrähe Körnerklau, ein ganz gerissener Vogel, der in

seiner Dreistigkeit eine ganze Schar Jungkrähen in eine Stadt der Menschen führte, wo

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sie allerlei Übel und Unrat verursachten und selbst die Küken der Hofhühner stahlen.

Der Wissenschaftler und jegliche Gewalt verabscheuende Professor Jakoble war von

einem ganz anderen Schlag. Er ernährte sich ausschlieβlich von Nüssen und Früchten

und lieβ sich mit seiner berühmten Brille auf dem Schnabel direkt neben Corvus und

Fräulein Schmücker nieder. Man konnte also mit Fug und Recht behaupten, dass hier

ein ziemlich bunt gemischter Haufen beisammen saβ, selbst wenn die Gefiederfarben

der Anwesenden in der Hauptsache schwarz waren.

Der groβe alte Corvus als Ratsoberhaupt ergriff als erster das Wort: „Kraa, kraa, wie ihr

vielleicht schon alle wisst, lebt seit kurzem ein Drache hier in der Schlucht, der seine

Mutter sucht.“

Als ob es Corvus geahnt hätte, krächzten nun alle durcheinander.

„Kraa, kraa, Rrrrrrruhe! Wir müssen entscheiden, ob wir ihm bei seiner Suche helfen

wollen oder nicht!“

Ein lautstarkes Gemisch aus kraa, kräh, rrrhaa, krrrahhh erhob sich und erfüllte die

ganze Schlucht. Einige Raben krähten „Helfen!“, andere krächzten „Nicht helfen!“

„Gräh, gräh“, erhob sich nun ein feines Stimmchen, es klang wie durch die Nase ge-

sprochen und gehörte Fräulein Schmücker. „Also ich bin dafür, dass wir ihm helfen.

Ich selbst bin erst vor ein paar Tagen Tante geworden und kann nachvollziehen, wie es

ist, seine Mutter zu verlieren, gräh, gräh, auch wenn es vielleicht nur eine Rabenmutter

ist.“

Fräulein Schmückers Worte fanden besonders bei den jüngeren Raben Gehör, denn

etliche von ihnen hatten ein Auge auf die hübsche Elster mit dem prächtigen schwarz-

weiβen Gefieder und den überaus langen Schwanzfedern geworfen.

„Kraa, kraa, rrrrhaa, rrrrhaa helfen, helfen!“, krähten sie und schlugen heftig mit den

Flügeln, um der Elster zu imponieren.

Sichtlich vergnügt über die Reaktion auf ihre Worte strich sie sich bedeutungsvoll mit

dem Schnabel durchs Gefieder.

Nun meldete sich Professor Jakoble zu Wort. „Kräh, kräh, ich kann unserem liebreizen-

den Fräulein Schmücker nur beipflichten, kräh, kräh, und habe nach reiflicher Überle-

gung und wissenschaftlicher Begutachtung folgenden Vorschlag zu machen: Bevor

wir mit der Suche nach Emils Mutter beginnen, sollten wir den kleinen Drachen erzie-

hen. Lasst mich seine Ausbildung übernehmen, denn ich befürchte, dass er bald bei den

Menschen groβen Schaden anrichten wird, sofern wir ihn nicht gut unterrichten. Wenn,

kräh, kräh, die eine oder andere Scheune der Bauern in Feuer aufgeht, werden sie frü-

her oder später Jagd auf ihn machen und wir, die Raben und Krähen, werden dann

auch nicht mehr sicher sein.“

Das allgemeine Gekrächze begann von neuem.

„Kraa, kraa, Rrrrrrhuhe“, schaltete sich Corvus lautstark erneut ein, „Professor Jakoble

hat Recht. Wir sollten ihn mit der Erziehung des kleinen Drachen beauftragen. Wer

dafür ist, der stoβe jetzt ein dreifaches Kraa-kraa-kraa aus.“

Da Corvus als der weiseste und stärkste Rabenvogel galt, folgten ihm alle anderen Vö-

gel, und es erhob sich ein gewaltiges dreifaches Kraa-kraa-kraa. Damit war es beschlos-

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