Quer Beet aufs Treppchen

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Quer Beet aufs Treppchen
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Michael Kothe

Quer Beet aufs Treppchen

Anthologie 2019/2020

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Zweiter Frühling

Die Babysitterin

Abserviert

Szenen einer Ehe – eher eine Szene!

Nikolaus

Boah ey! oder Münchhausens Schreckensfahrt

Retourkutsche

Wenn die Katze …

Kosten Sie!

Major Tom

Generation Hope

Rorre

Pädophil

Ich bin.

Parkour

Kanonenfutter

Großeltern

Rudolf

Ba-Ba-Banküberfall

Tod am Frühstückstisch

Der Tote am Wasserturm

Ein seltsames Duell

Ein letzter Monolog

Die Höhle

»Mehr Licht!« (ein Nachwort)

Über den Autor:

Vom selben Autor: Schmunzelmord

Vom selben Autor: Siebenreich

Impressum neobooks

Impressum

Verantwortlich: Michael Kothe

Copyright:

Inhalt, Text, Lektorat, Layout, Fotos,

Umschlaggestaltung: © 2020 Michael Kothe,

fremde Buchcover: © Verlag/Hrsg./Illustrator

Kontakt:

Deutschland: 85716 Unterschleißheim, Friedhofstr. 4

Spanien: 36980 O Grove/Pontevedra

Telefon mobil: 0034 744 480 080

eMail: autor.michael-kothe@gmx.de

Internet: https://autor-michael-kothe.jimdofree.com

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Autor Michael Kothe


Michael Kothe

Quer Beet aufs Treppchen

Anthologie 2019/2020

https://das-buch-quer-beet.jimdosite.com

Auch als Taschenbuch. ISBN 9783752972672

Wie liefere ich einen Mörder aus - ohne Beweise und ohne mich zu erkennen zu geben? Was führt die düstere Baby­sitterin im Schilde? Hat der Gast immer Recht? Rettet der tollpatschige Raumfahrer die Menschheit? Warum kann ein Todesurteil erst in 19 Jahren vollstreckt werden und warum ist sich der Verurteilte dessen so sicher? Und war da nicht noch ein vergnüglicher Mord am Frühstückstisch? u.v.m.

Der Titel ist Programm.

Schreibwettbewerbe legen die Messlatte hoch für Kreativität und schriftstellerische Qualität. Alle Kurzgeschichten stellten sich im Wettbewerb dem Urteil einer kritischen Jury. Nicht wenige schafften es aufs schmale Siegertreppchen, bei oft mehreren hundert Beiträgen ein großartiger Erfolg. Viele Genres und Themen laden ein zur Reise durch die Fantasie von der bestplatzierten bayrischen Provinzposse über Mystisch-Romantisches bis zum preisgekrönten Horror.

Vom Autor von »Schmunzelmord – 25 kriminelle Kurzgeschichten aus dem Münchner Norden …« und von »Siebenreich – Die letzten Scherben«.

»Best Of.« FORUM München Nord

»Garantiert beste Unterhaltung.« Schongauer Nachrichten

»Gut gefüllte Wundertüte.« 5-Sterne-Rezension

Bewertungen sind wichtig für den Autor und helfen ihm, sein Buch bekannter zu machen. Über eure Rezension im Internet oder als Mail an mich würde ich mich daher freuen. Anfragen von BloggerInnen und Verlagen sind herzlich willkommen!

Die im Buch beschriebenen Handlungen und die genannten Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten und Namensgleichheiten sind zufällig und unbeabsichtigt. Produkt- und Marken­namen sind Eigentum der jeweiligen Rechteinhaber.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Zweiter Frühling

Susanne verließ mich im letzten Jahr. Nach 45 Jahren harmonischen Ehelebens hatten wir auch unseren Ruhestand in trauter Zweisamkeit verbringen wollen. Nun ist sie fort.

Unsere Wohnung bewohne ich noch immer, habe mich seit der Trennung regelrecht darin verkrochen. In letzter Zeit überkommt mich häufig eine Unruhe, etwas zieht mich wieder nach draußen. So nehme ich die Spaziergänge wieder auf, die ich früher mit Susanne unternommen hatte. Ich dehne sie aus, komme in unbekannte Viertel. Meine Aufgewühltheit lässt mich schließlich von Schusters Rappen auf unseren alten VW Golf umsteigen.

So bin ich in Neuwied gelandet. Freilich kenne ich es ein wenig, aber in dieser Gegend war ich noch nie, noch viel weniger im Frühjahr. In einer Wohnstraße mit villenähnlichen Doppelhäusern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fahre ich in einen rosa Tunnel ein. Die japanische Zierkirsche steht in voller Blüte, hat die Fahrbahn in einen Teppich aus Blütenblättern verwandelt. Ich schaue mich um. Eine Allee, jeweils zwei Parkplätze zwischen zwei Bäumen auf einem breiten Bürgersteig vor den Fassaden altehrwürdiger Stadthäuser.

In einem Fenster entdecke ich eine Anzeige. »Zu verkaufen«. Ich finde einen Parkplatz, stelle den VW ab und marschiere zurück zu dem Haus, das oder in dem etwas zu verkaufen ist. Auf mein Klingeln hin öffnet eine Dame in schwarzem Kleid und Rüschenbluse, nach einem Gruß und wenigen Augenblicken des gegenseitigen Taxierens beginnt die Schlossbesichtigung. Eine Wohnung mit hohen Decken, umlaufenden Stuckbordüren, weiß lackierten Zimmertüren und hohen Fenstern, deren Kunststoffrahmen Sprossen imitieren.

Es muss noch das übliche Prozedere stattfinden. Bedenkzeit, Finanzierungsgespräche, Verkauf unserer, nein, jetzt meiner Wohnung und so weiter. Die Nocheigentümerin und ich plaudern auf der Sitzgruppe miteinander, ich frage nach Besonderheiten des Hauses.

»Naja, hier spukt´s.« Sie lacht. »Der Garten grenzt an den Friedhof Elisabethstraße, für die Geister ist der Zaun kein Hindernis.« Sie zwinkert mir zu und schenkt mir Kaffee nach.

»Oh, damit kann ich leben.« Ich grinse selbstbewusst.

Ich verabschiede mich. Bevor ich zusage, will ich die Gegend kennenlernen. Das Auto lasse ich stehen und gehe durch den rosa Tunnel zurück zum Anfang der Straße, biege durch einen gemauerten Torbogen mit schmiedeeisernem Tor in den Friedhof ein. Hohe Bäume, Kiesweg, sehr alte Gräber, ein paar an Denkmäler erinnernde Mausoleen.

Irgendwann erreiche ich den Ausgang gegenüber. Ich atme auf, die Sonne hat mich wieder, eine Bank lädt zum Verweilen ein. Ich lasse den Blick nach rechts und links über die autofreie, unbebaute Bogenstraße gleiten, genieße die Ruhe an dem idyllischen Spazierweg.

»Verzeihung, ist hier noch frei?«

Eine sympathische Stimme unterbricht meine Gedanken, ich schaue auf.

»Aber sicher. Nehmen Sie bitte Platz!«

Ich erhebe mich ein bisschen, deute eine Verbeugung an und setze mich wieder. Mein schlechtes Gewissen lässt mich an die Seite rutschen. Ohne nachzudenken hatte ich mich bei meiner Ankunft in die Mitte gesetzt und beide Arme auf der Rückenlehne ausgestreckt. Unauffällig betrachte ich meine Banknachbarin. Offenbar eine Endfünfzigerin, zierlich, das graue Haar ehrlich zur Schau getragen, ein farbenfrohes Sommerkleid aus einem dünnen, locker fallenden Stoff. Ihr Spitz ist nicht angeleint, er dreht sich zweimal im Kreis und streckt sich aus, legt den Kopf auf die Vorderpfoten. Die beiden sehen keck aus, passen zusammen. Sie gefällt mir.

 

»Ich habe mir gerade eine Wohnung angeschaut. In der Kinzingstraße steht eine zum Verkauf. Hochparterre, der Garten grenzt an den Friedhof.«

»Oh ja, das kenne ich. Ich wohne dort.«

»In der Kinzingstraße?«

»Nein, aber in der Nähe. Sozusagen dahinter, auf der Rückseite.«

Sie verwirrt mich. Hinter dem Haus der Garten, der Zaun, dann der … Ich habe ihren Scherz verstanden, grinse dümmlich, weil ich so lange gebraucht habe.

»Leider müssen Hunde da an die Leine. Also musste ich Lisa an Bekannte abgeben.«

Liebevoll blickt sie zu ihr herab, Lisa wiederum hebt den Kopf, schaut mit leuchtenden Augen zu ihrem Frauchen auf.

»Gehen Sie öfter hier mit Lisa spazieren?« Ich gestehe mir ein, dass ich sie gerne wiedersehen würde.

»Ab und zu«, antwortet sie, »und das hier ist unsere Bank. Wenn Sie die Wohnung kaufen, sehen wir uns wohl häufiger. Und jetzt müssen wir weiter. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

Diesmal erhebe ich mich ganz, mache einen Diener und grüße zurück. Nachdenklich bleibe ich noch einige Zeit, kann die Idylle aber nicht mehr uneingeschränkt genießen. Irgendetwas an meiner Zufallsbekanntschaft lässt mich grübeln. Es ist nicht nur ihre Bemerkung darüber, wo sie wohne, es ist ihre ganze Erscheinung. Nicht nur grazil und zerbrechlich. Sie schien mir mystisch, unnatürlich leicht, beinah transparent.

Zum Kauf bin ich entschlossen.

Ich stehe in der Kinzingstraße neben meinem Auto. Die Dame von der Bank und Lisa habe ich längst vergessen. Ein Paar mit Hund kommt auf mich zu, grüßt im Vorübergehen. Zwei, drei Schritte sind sie an mir vorbei, als ich einer plötzlichen Eingebung folge.

»Lisa!«

Der Spitz verharrt, zieht an der Leine in meine Richtung. Verwirrt lässt sein Herrchen mehr Leine von der Rolle, Lisa läuft zu mir, springt an mir hoch. Ich bücke mich zu ihr, ignoriere das »Verzeihen Sie, das macht sie sonst nie bei Fremden« und gehe in die Hocke.

»Lisa, wir haben uns ja lange nicht gesehen! Wo ist dein Frauchen?«

»Verzeihung, Sie kennen den Hund? Und sein Frauchen, das bin ich.«

Verdutzt schaue ich zu der Frau hoch, einer geschätzten Mittvierzigerin mit brünetter Mähne.

»Nein, äh, ja, ich kenne Lisa. Und die Dame, mit der ich sie gesehen habe, ist wohl Ihre Mutter?«

»Nein. Die Dame gibt es nicht. Ihr Frauchen war eine Nachbarin, sie starb vor zwei Jahren. Gegen Ende ihrer Krankheit hat sie uns Lisa übergeben. Nun haben wir nur Ärger. Sie büxt ständig aus und läuft zum Grab ihres früheren Frauchens. Frei laufende Hunde sind auf dem Friedhof verboten. Wir müssen. Guten Tag!«

»Auf Wiedersehen«, erwidere ich und sehe entsetzt, wie die Brünette ihrem Mann die Leine aus der Hand nimmt, sie aufspult und Lisa brüsk von mir wegzerrt.

»Wie heißt ihr früheres Frauchen?« rufe ich dem Paar nach.

»Ladenberg. Lena Ladenberg.« Er nickt mir zu, bevor er zu seiner Frau aufschließt.

Der Kauf ist vollzogen. Ich habe mich in der Kinzingstraße eingelebt. Vom Wohnzimmerfenster aus blicke ich oft über den Garten hinweg zum Friedhof. Ich schlüpfe in meine Schuhe und mache mich aus dem Haus. Ob ich wieder dem Paar mit Lisa begegne? Einige Male noch hatten wir uns gesehen. Ich gehe zum Ende der Straße und wieder auf den Friedhof. Bei der Verwaltung habe ich gefragt und weiß ungefähr, wo das Grab liegt. In dem bezeichneten Areal schaue ich mir die Augen wund, endlich habe ich es gefunden! Ein seltsames Gefühl überkommt mich, dass das Grab leer sei. Ein paar Minuten verweile ich, dann wende ich mich ab.

Kurze Zeit später stehe ich vor ihrer Bank in der Bogenstraße.

»Guten Tag, Frau Ladenberg!«

Ich frage, ob ich Platz nehmen darf. Sie nickt wortlos, deutet neben sich.

»Sie wissen, wer ich bin?«

»Ich habe gefragt. Und Sie besucht. Sie waren nicht zu Hause.«

Ich zögere, bin nervös, aber ihre Leichtigkeit, die ich von unserem ersten Treffen in Erinnerung habe, gibt mir Mut.

»Darf ich Sie Lena nennen?«

Sie nickt.

»Ich bin Wolfgang.«

Sie drückt meine hingestreckte Hand. Ihre ist kalt und leicht.

»Sie sehen traurig aus, Lena.«

»Ich bin traurig, Wolfgang. Seit einer Ewigkeit sehe ich Lisa nicht mehr.«

»Ihre Herrchen lassen sie nicht mehr von der Leine, seit sie Ärger mit der Friedhofsverwaltung hatten. Und auf ihre letzten Tage hier wollen sie nicht nochmal riskieren, dass Lisa ausreißt. Sie ziehen weg.«

Mit schreckgeweiteten Augen sieht sie mich an.

»Arme Lisa, wie kann man ihr das antun? Wenn ich das geahnt hätte!«

Tränen steigen ihr in die Augen.

Die folgenden Tage halte ich mich kaum im Wohnzimmer auf. Ich habe mir einen Lehnstuhl vors Schlafzimmerfenster gezogen und verbringe darin die hellen Stunden. Meine Wache verspricht sich zu lohnen! Das Paar zerrt Lisa wieder die Straße entlang. Wie der Blitz bin ich draußen, hetze den dreien nach.

»Verzeihen Sie! Ich habe gehört, Sie ziehen fort. Was ist mit Lisa? Nehmen Sie sie mit?«

»Das geht leider nicht, wir ziehen in eine …«

»Sie kommt ins Tierheim, basta.« Mit kalter Stimme schneidet sie ihrem Mann das Wort ab, wendet sich mir zu. »Und was, bitte, geht Sie das an?«

»Wenn Sie Lisa nicht mitnehmen dürfen … ich würde gern, also, ich wäre bereit…«

»Nun stottern Sie nicht rum! Sie würden sie nehmen?«

Ich habe einen Kloß im Hals, nicke nur.

»Dann kommen Sie heute Abend in die Sonnenstraße 42. Um 18 Uhr. Sie holen Lisa, ihr Körbchen, Futter und noch ein paar Sachen. Seien Sie pünktlich, ich warte nicht gern! Guten Tag!«

Ich schlucke. Der Kloß ist weg, aber reden kann ich immer noch nicht. Sie sind außer Hörweite, als ich ihnen ein »Auf Wiedersehen, bis heute Abend, und danke!« nachrufe.

Am nächsten Tag gehe ich mit Lisa an der Leine zum Ende der Kinzingstraße und noch ein Stück weiter. Ich lasse Lisa frei, sie läuft neben mir, wir biegen in die Bogenstraße ein, ich setze mich auf unsere Bank, und wir warten. Schritte kommen auf uns zu, werden schneller. Eine einzelne Person. Sie beginnt zu rennen.

»Lena! Hallo!« begrüße ich sie. Ich fühle mich ignoriert, bin in meinem Innern aber voller Freude, kichere lautlos in mich hinein vor Rührung.

»Lisa!« Sie kniet sich zu ihrem Spitz, streichelt, tätschelt den weißen Vierbeiner, erhebt sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

»Danke, Wolfgang! Kommt ihr nun öfter? Ich habe gesehen, dass du eingezogen bist und oft vom Wohnzimmer aus herüberschaust.«

»Ich habe vielleicht eine bessere Idee.« Ich zwinkere ihr zu.

Zu dritt steigen wir aus dem Golf. Ich knipse den Karabinerhaken an Lisas Halsband. Auch in diesem Park sind Hunde nur an der Leine geduldet. Auf den Neuwieder Friedhof hinter unserem Garten müssen wir nicht mehr. Lena wohnt jetzt bei mir und Lisa.

***


Die Kinzingstraße und das Haus gibt es wirklich. In Neuwied am Rhein. Der Garten grenzt an den Friedhof. Die Gründe, die mich in den 90er Jahren vom Kauf abgehalten hatten, waren aber andere als der Spuk, der von dort ausgehen könnte.

»Zweiter Frühling« belegte beim Schreibwettbewerb des Schreiblustverlags im November 2019 den 2. Platz und wurde ins Jahrbuch 2019 aufgenommen. In diesen Jahrbüchern versammeln sich seit 2001 die jeweils drei monatsbesten Kurzgeschichten. Diese Aufgabe lautete: »Geister«.



© Cover: Schreiblustverlag

»Zweiter Frühling« in: Der Kreis der Zeit

Veröffentlichung in Anthologie, Schreiblust-Verlag, Dortmund, 15.01.2020

Andreas Schröter (Hrsg.): »Schon seit Februar 2001 stellen wir jeden Monat eine Schreibaufgabe. ... Die drei Sieger-Storys eines jeden Monats sind in diesem Buch versammelt.«

***


Die Babysitterin

Das Reihenhaus im Ahornweg strahlte den Charme der 60er Jahre aus. Mit acht Metern wies es eine deutlich größere Fassadenbreite auf als die heutzutage gebauten Reihenhäuser, von denen manche mit viereinhalb auskommen müssen.

Britta verschaffte sich einen ersten Eindruck, ließ ihren Blick an der Fassade entlang gleiten. Im Erdgeschoss wich neben der Küche – sie war sich der Nutzung dieses Vorbaus wegen des Lüftungsgitters in der Wand sicher – die Garage zurück, wodurch sich am Ende der mit sandfarbenen Verbundsteinen gepflasterten Einfahrt eine Art Loggia ergab.

Sie würde hier gleich Zuflucht nehmen vor dem Nieselregen, aber vorher wollte sie ihre Erkundung abschließen.

Der Hauseingang in dieser Loggia war wie auch alle Fenster neu. Weißer Kunststoff, Isolierglas. Über die ganze Hausbreite spannte sich das Wohnzimmer, wie Britta mit einem Blick auf das Nachbarhaus feststellte. Bei ‚ihrem‘ Haus war davor der Balkon auf dem Küchendach zum Wintergarten ausgebaut.

Sie drehte sich um, schaute die Straße hinunter. Auf der Hauptstraße könnte sie in jede der beiden Richtungen schnell verschwinden, wenn sie nach Beendigung ihres Jobs das Haus verlassen würde. Der Blick war nicht atemberaubend, aber der sanft ansteigende Hang hinter der Talsohle vermittelte trotz des schmuddeligen Herbstwetters mit seinem noch anhaltenden Grün ein Gefühl der Geborgenheit.

»Keine Weite, in der man sich verloren vorkommt«, überlegte Britta, »sondern ein Horizont, der einem Orientierung gibt.«

Mit ihren vierzehn Jahren hatte sie sich noch nicht selbst gefunden, ihr Leben noch nicht geplant. Ihr Äußeres erweckte zwar den Anschein einer eher dunklen Zukunft, aber das war nicht endgültig. Sie experimentierte noch.

Britta gab sich einen Ruck und schob ihr Fahrrad die Einfahrt hinauf und lehnte es an die Außenwand der Küche. Sie klingelte.

Das Kleid sah gut an ihr aus. Das knöchellange Schwarz ließ die Hausfrau schlanker erscheinen, als sie wohl war. Der natürliche Graustich, der sich mit der Brauntönung ihres Haares mischte, stand ihr gut, verlieh ihr aber ein übertrieben strenges Aussehen.

»Guten Abend, du bist wohl Britta? Komm rein!«

Britta schenkte ihrer Arbeitgeberin für diesen Abend ein Lächeln und streckte ihr die Hand hin. Sie fühlte sich gleich darauf ins Haus gezogen.

Ihr mit gesenktem Kopf vorgebrachtes »Guten Abend, Frau Häusler« kam zögerlich, klang schüchtern. Doch war es das auch? Britta hatte sich angewöhnt, zurückhaltend zu wirken, wenn sie sich davon einen Vorteil versprach. Sie hatte sich auch jetzt nicht verrechnet, Frau Häusler schien verunsichert. Brittas Lächeln und ihre gespielte Kindlichkeit kontrastierten mit ihrer Aufmachung.

Ihr kurzes, schwarzes Haar war durchzogen von blutroten Strähnen, sie hatte einen Lippenstift im gleichen Rot aufgetragen. Das stahlmatte Augenbrauenpiercing gab ihrem schmalen Gesicht einen düsteren Anschein, der durch die nietenbesetzte Lederjacke über dem Top verstärkt wurde. Ihre Jeans mit den aufgeschnittenen Knien und ihre Segeltuchschuhe setzten das Schwarz bis zum Boden fort. Einzig ihre viereckige Umhängetasche in beiger Leinenoptik stand der Erwartung entgegen, Britta sei zu einer schwarzen Messe unterwegs.

Ein verhaltener Pfiff durch die Zähne ließ sie herumfahren. Der Hausherr war aus der Küche in die kleine Diele getreten, betrachtete das Mädchen von oben bis unten mit unverhohlener Neugierde. Erst, als seine Frau ihn mit zusammengekniffenen Brauen anfunkelte, sah er Britta in die Augen und reichte ihr die Hand.

Die restlichen Minuten bis zur Abfahrt der Häuslers waren angefüllt mit der Vorstellung der Zwillinge und des Zweijährigen. Frau Häusler hatte auf dem ersten Treppenabsatz die Tür zum Zimmer der beiden schlafenden Säuglinge einen Spaltbreit geöffnet, streckte über Britta ihren Kopf ins Zimmer. Thomas, der Zweijährige, begleitete seine Mutter und Britta die zweite Treppe des Splitlevelhauses hinauf ins Wohnzimmer. Nach zwei, drei Stufen strahlte er seine Babysitterin von unten herauf an, legte seine Hand in ihre und hielt sie fest. Britta schluckte, als sie seinen seltsamen Gang bemerkte. Brauchte er sie als Stütze, ihre Hand als Gehhilfe? Er tat ihr Leid.

 

Im Wohnzimmer stand ein Reisekinderbett.

»Thomas schläft nur ein, wenn jemand bei ihm ist und wenn Licht brennt. Er hat verstanden, dass du heute auf ihn aufpasst, er hat den ganzen Nachmittag neugierig gewartet. Wenn du ihm eine Geschichte vorliest, ist er eingeschlafen, bevor du ans Ende kommst.«

Sie drückte Britta ein Märchenbuch in die Hand. Der papierne Einband zeigte in Braun- und Grautönen orientalische Motive.

Na prima, Hauffs Märchen! Davor hatte ich mich noch als Zehnjährige gefürchtet. Dunkel erinnerte sie sich. Das hier musste der erste der drei Bände sein, der düsterste.

Laut sagte sie: »Da werden Kindheitserinnerungen wach. Ich hab´ das früher selbst gelesen. Da war ich aber schon älter.« Sie lachte Frau Häusler an.

»Wir müssen los«, tönte es von unten. Herrn Häuslers Stimme vibrierte vor Ungeduld.

»Bin schon unten!«

Frau Häusler war aus dem Wohnzimmer getreten, hatte sich über das Treppengeländer gebeugt. Gleich darauf stand sie wieder vor Britta.

»Also, wenn dir die Limonade hier nicht reicht …« Ihre Hand zeigte auf den Teewagen mit der Flasche und dem Glas neben der vollen Gebäckschale. »… dann geh runter in die Küche. Im Kühlschrank ist mehr. Die Fläschchen der Kleinen stehen neben den Flaschenwärmern auf der Arbeitsplatte vorm Fenster. Wenn du die Zwerge wickeln musst, findest du alles im Wickeltisch in den Kinderzimmern.«

Britta fand, ihr Blick läge etwas zu lange auf ihr. Stand hier Misstrauen Pate? Oder doch nur Sorge?

»Meinst du, du kommst zurecht?«

»Na klar, Frau Häusler. Es ist ja nicht das erste Mal.«

»Ach, fast hätte ich es vergessen. Unten im Haus wohnt mein Vater. Aber dem wirst du kaum begegnen.«

Kurz bevor die Haustür ins Schloss fiel, verstand Britta noch ein paar Brocken aus dem Gespräch der Häuslers. Der letzte Satz gab ihr zu denken.

»Ich hab´ so ein ungutes Gefühl.«

Thomas hörte die Geschichte von der abgehauenen Hand ohne Gefühlsregung. Stumm lauschte er Brittas lebhafter Stimme, die dem in Konstantinopel geborenen Zaleukos neues Leben einhauchte, indem sie zu den ihm angedichteten Episoden einschließlich des ihm aufgezwungenen Mordes und der als Strafe folgenden Amputation stets den angemessenen Tonfall fand. Wie von Frau Häusler vorhergesagt, schlief er ein, bevor die Erzählung endete.

Britta las den finsteren Schluss der vielschichtigen Geschichte um Liebe, Untreue und Rache leise für sich. Das dauerte lange, immer wieder fielen ihr die Augen zu, immer wieder nickte sie ein.

Britta beugte sich zur Seite, zog den MP3-Player aus ihrer Umhängetasche, wickelte das Kabel der Ohrhörer ab und stopfte sich die weißen Silikonpolster in die Ohren. Als sie ersten Takte der Puppe von Rammstein hörte, erhob sie sich zu ihrem Erkundungszug durchs Haus.

Sie begann mit dem Bücherregal, das eine Schmalseite des Wohnzimmers füllte. Bram Stokers »Drakula« und Mary Shelleys »Frankenstein or The Modern Prometheus«, letzterer wohl in der englischen Originalfassung, ließen sie kalt, aber die scheinbar komplette Sammlung der Werke Stephen Kings begeisterte sie. Sie griff nach dem »Friedhof der Kuscheltiere«, ihrem Lieblingsroman, las wahllos drei, vier Absätze und schob das Buch zurück. Auf dem Regalbrett darunter suchte sie, ob sie mit den zahlreichen Anatomiebänden etwas anfangen könnte. Eine morbide Faszination ging besonders von den detaillierten Zeichnungen aus.

Die beiden Kinderzimmer – Thomas hatte seines neben dem Wohnzimmer – untersuchte sie nur kurz. Der Überblick diente der Orientierung, falls sie von hier später wirklich etwas benötigen sollte.

Das Schlafzimmer war interessanter. Die Herrenbekleidung war für die Vierzehnjährige nicht wichtig. Aber der Schrank von Frau Häusler faszinierte sie, besonders die Spitzenwäsche hatte es ihr angetan.

Sie ging die Treppen ganz hinab, erreichte am Ende zwei Blechtüren, die zu Waschküche und Heizraum führten. Die Tür nach rechts war verschlossen. Um ihre Neugierde wenigstens im Ansatz zu befriedigen, klappte Britta den kleinen Wandspiegel daneben zur Seite, der zwei Fingerbreit von der Tapete abstand. Dahinter zeigte sich ihr eine Kunststoffklappe, an der sie aber kein weiteres Interesse fand. Sie kehrte um.

In der Küche entdeckte sie auf den ersten Blick die Fläschchen, aber die sollte sie den Zwillingen und Thomas ja nur geben, wenn sie aufwachten und Hunger hatten. Sie schaute in den Kühlschrank. Auf die Cola hatte sie mehr Appetit als auf die Zitronenlimonade, die oben auf dem Teewagen stand. Sie nahm die Flasche und ging wieder hoch.

Auf halber Höhe betrat sie nochmals das Schlafzimmer. Sie zog sich aus und legte ihre Kleidung auf das Ehebett. Aus Frau Häuslers Schrank griff sie mehrere von deren Spitzendessous, stellte sich vor die mittlere Spiegeltüre und hielt die Teile vor sich. Sie entschied sich für die schwarze Garnitur mit den Strapsen, nachdem ein weiterer Blick in den Schrank ihr auch die Strümpfe gezeigt hatte, die ihr bis über die Knie reichten. Derart in schwarze Spitze gekleidet, schlüpfte Britta in ihre Schuhe, drehte sich vor dem Spiegel und betrachtete sich zufrieden von allen Seiten.

Danach wollte sie wieder ins Wohnzimmer und auf ihrem Tablet-PC YouTube-Videos schauen. Besonders begeisterten sie die von Überwachungskameras, vor allem jene, in denen Angestellte oder Babysitter vorgeführt wurden, wie sie ihre Arbeitgeber beklauten oder Kleinkinder misshandelten. Sie wusste, dass sie dafür beinahe ewig Zeit hatte, bevor die Häuslers zurückkehrten, und möglichst lange so angezogen zu sein, erregte sie.

Sie beschleunigte ihren Schritt, als sie Thomas´ unruhiges Quengeln hörte. Auf der zweiten Stufe machte sie kehrt. Mit dem Fläschchen aus der Küche rannte sie die Treppen wieder hinauf. Ans Warmmachen hatte sie zwar gedacht, aber dann jammerte der Junge noch länger, und sie wollte das Balg doch schnellstmöglich beruhigt haben.

Britta fluchte. Verfluchte den Zweijährigen. Zwar konnte er nichts für das Ungemach, das auf Britta wartete, aber sie hatte es auszubaden und hatte wirklich keine Lust dazu. Schließlich war es nicht ihre Brut! Oder doch, für diesen einen Abend? Mit einem Fauchen betrat sie die Wohnstube ganz. Schon beim Öffnen der Türe hatte sie gerochen, dass Thomas nicht schrie, weil er Hunger hatte.

Britta hatte sich beruhigt. Mit festem Griff unter beide Achseln trug sie den Jungen aus dem Klappbettchen in sein Zimmer nebenan. Auch hier stand eine Wickelkommode. Sie legte ihn auf die abwaschbare Matratze, kramte hinter den beiden Türen darunter nach Einwegwindel, Puder und Babyöl und legte alles griffbereit neben den Schreihals.

Panisch warf sie die Strampelhose zur Seite. Sie hatte Thomas gewickelt, die alte Windel im Windeleimer entsorgt, ihn feucht abgewischt, eingeölt und gepudert. Seinen Strampler hatte sie ihm bis zu den Knien herabgezogen gehabt und erst beim Anziehen festgestellt, dass auch der gewechselt werden musste. Frische Kleidung hatte sie in der Wickelkommode genug gefunden. Nun stand sie vor dem Kleinkind und hyperventilierte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihren Herzschlag spürte sie nicht, so raste ihr Puls. Sie biss sich fest auf die Lippe, konnte ihren Schrei auf die Weise gerade noch unterdrücken.

Thomas hatte keine Füße! Seine Beinchen endeten in zwei haarigen Auswüchsen, die sich ihrerseits in schwarze Hufe gabelten. Der Satyr prallte in ihr Gedächtnis, der Flöte spielende Waldgeist mit Bocksfüßen.

Irgendwann hatte sich Britta wieder gefasst, die Missbildung des Kleinen erregte ihr Mitleid. Sie stieß sich von der Wand ab, die ihr die Schrecksekunden lang Halt geboten hatte. Sie zog ihn fertig an, nahm ihn auf den Arm, streichelte ihn und trug ihn zum Kinderbettchen. Behutsam legte sie ihn hinein, reichte ihm seinen Schnuller, den er sofort in den Mund steckte. Er strahlte Britta an. Nach mehrmaligem Schmatzen war er eingeschlafen.

Britta wischte sich mit beiden Handrücken die Tränen ab. Es reichte nicht, erst ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche trocknete sie ganz. Während sie rieb, wuchs in ihr ein furchtbarer Verdacht. Waren die Zwillinge mit der gleichen Missbildung gezeichnet?

Sie pirschte die Treppe hinab, öffnete die Türe ein wenig. Das Licht aus dem Treppenhaus schien über sie hinweg, erhellte das Kinderzimmer gerade so, dass sie die beiden Säuglinge in ihren Bettchen liegen sah. Sie schlich hin, beugte sich nacheinander bei beiden über die seitlichen Gitter. Sie nahm allen Mut zusammen und tastete die Beinchen bis zu den Füßen ab. Sie redete sich ein, dass sie die Missgestaltung ja nicht sehen musste. Das Befühlen barg etwas Anonymisierendes, Beruhigendes. Und Britta war beruhigt, in den Strampelhöschen ertastete sie kleine, normal geformte Füßchen mit je einer großen und mehreren kleinen Zehen, deren Zahl sie nur vermuten konnte, aber ihr stellten sich die Härchen an den Armen und im Nacken auf, wenn sie daran dachte, die Vermutung überprüfen zu wollen.

Sie richtete sich ruckartig auf, als sie ihr auffielen. Warum trugen die Säuglinge Handschuhe? Gestrickt, farblich abgestimmt auf ihre Strampelanzüge. Deshalb hatte sie sie vorher nicht bemerkt. Britta beugte sich nochmals in das erste Bettchen, ergriff das kleine Händchen – und hätte beinahe aufgeschrien vor Schreck und Schmerz. Etwas Spitzes hatte sie durch den kleinen Strickhandschuh gestochen oder gekratzt. Unwillkürlich steckte sie den Finger in den Mund. Er schmeckte salzig und nach Eisen. Blut! Sie fasste nach, tastete vom Ellbogen zum Ende, hielt den Atem an, tastete weiter, fühlte, wie das Ärmchen dünner wurde – und wie ein Hühnerfuß in drei nach vorn gerichteten Krallen und einer rückwärts wachsenden auslief. Die anderen Händchen zu erforschen, fehlte ihr der Mut.

Britta setzte sich auf die Treppe, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen, ließ ihren Tränen freien Lauf. Die armen kleinen, missgestalteten Geschöpfe! Die arme Familie! Womit hatten sie das verdient? Wofür hatte Gott sie so hart bestraft? Gab es ihn wirklich, wenn er so etwas zuließ?

Britta wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Sie hatte ein Klicken oder Knacken vernommen, aber dass das Geräusch mit einem Kurzschluss einhergegangen war, der auch im Treppenhaus das Licht gelöscht hatte, bemerkte sie erst nach einer Weile. Im Haus herrschte Dunkelheit. Sie stand auf, stolperte über die Stufe, an die sie nicht mehr gedacht hatte. Der Griff ans Treppengeländer verhinderte ihren Sturz. Als sie sich nach oben tastete, schlich ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie schüttelte sich, fröstelte. Ihr fiel wieder ein, dass sie so gut wie nichts anhatte. Aber Licht war wichtiger. Sie schlang die Arme um ihre Schultern, vertrieb die Kälte durch leichte Schläge.