Quer Beet aufs Treppchen

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Schemenhaft erkannte sie das Kinderbettchen, die Couchgarnitur an der Wand. Sie setzte sich. Aus ihrer Tasche fingerte sie ihr Smartphone, schaltete es an und startete die Taschenlampen-App. Licht!

Aber ein schwacher Akku. Anstatt nach dem Netzteil und dem Ladekabel zu kramen, zog sie es vor, für Licht im Haus zu sorgen. Im Kellergeschoss hatte sie ja die Klappe hinter dem Spiegel entdeckt. Dahinter verbarg sich wahrscheinlich der Sicherungskasten.

Die Tür neben dem Kasten stand einen Spalt breit offen. Als Britta die Hauptsicherung eingeschaltet hatte, war im Treppenhaus, gleichzeitig auch hinter der Türe, das Licht angegangen. Sie schaltete ihr Smartphone aus, sie brauchte dessen Licht nicht mehr, und linste durch den Spalt. Eine holzvertäfelte Wand, dunkelroter Teppichboden, eine rustikale Deckenlampe. Was Britta sehen konnte, erinnerte an ein Hauswirtschafts- oder Bügelzimmer. Es herrschte Stille.

Sie hätte selbst nicht sagen können, was sie bewegte, die Tür aufzudrücken und den Raum zu betreten. Sie fühlte sich magisch angezogen. So, wie jemand mit Höhenangst nicht vermeiden kann, sich über die Kante zu lehnen und in die Tiefe zu spähen.

Der Raum war unspektakulär eingerichtet. Ein Hobbyraum der 60ger Jahre. Ein Schrank, Stühle, ein Tisch, auf dem zwei Päckchen mit Spielkarten lagen. An einer Wand eine Fototapete, die einen Wald zeigte, aus dessen Rand die Mauern einer Burgruine wuchsen. Am Ende der Tapete war nur noch Mauer, und so dauerte es eine Weile, bis Britta es entdeckte – das Loch in der wirklichen Wand. Eher ein Durchgang. Mit glatten Seiten und oben einem gemauerten Rundbogen.

Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland, als sie gebückt den Torbogen durchschritt und im Halbdunkel dem Gang folgte. Irgendwann versperrte ihr Körper dem Licht aus dem Hobbyraum den Weg nach vorn. Ganz dunkel wurde es dennoch nicht, ein schwacher Schein blinkte ihr entgegen, füllte den Gang stroboskopartig mit einem diffusen Hellgrau.

»Jetzt muss nur noch das Kaninchen kommen!«

Brittas stummer Scherz war ein Ausdruck von Galgenhumor. Sie kam sich gewiss nicht vor wie eine Figur in Disneys sympathisch animierten Zeichentrickfilm, sondern eher wie in dem düsteren Film aus 2010 von Tim Burton. Irgendetwas ließ sie entgegen ihrem eigenen Streben nicht umkehren, zog sie immer weiter vorwärts. Das Licht wurde nicht heller.

Unerwartet weitete sich der Tunnel zu einer kleinen Halle. In der Mitte hing von der Decke eine flackernde Neonröhre unter einem blinden Reflektor. Die Röhre selbst war von einer Dreckschicht umhüllt, der Schein erlaubte gerade einmal, Umrisse zu erkennen. Als Britta zu dem hohen, langen Tisch in der Mitte trat, stieß sie an einen kleineren, der zur Seite auswich. Sie fasste nach. Es war eine Art Servierwagen, nur größer und aus Blech oder Edelstahl. Etwas darauf hatte bei dem Stoß geschabt. Offenbar Werkzeug. Sie fasste hin, tastete. Und schrie auf. Sie hatte sich geschnitten.

Ihr fiel das Smartphone wieder ein. Sie schaltete es ein, verzichtete auf die Taschenlampenfunktion. Für den Raum reichte die normale Displaybeleuchtung, auch wenn sie einen Rotstich aufwies, ein Tribut an den blutigen Bildausschnitt der zeitgenössischen Darstellung einer Hinrichtung mit dem Fallbeil.

Britta zuckte zusammen. In ihrem Zeigefinger klaffte ein Schnitt über die gesamte Länge des vorderen Gliedes, hervorgerufen durch den Griff in ein Skalpell, wie sie nun erkannte. Es war Teil eines Operationsbestecks, das auf dem nackten Blech des Wagens ausgebreitet lag. Sie entdeckte noch zwei Wagen, einen davon mit weiterem Operationswerkzeug, angefangen mit Skalpellen, über Zangen, Klistiere bis hin zu Knochensägen. Der letzte Wagen trug Flaschen mit Betäubungsmitteln, wie sie aus den Wattebäuschen daneben schloss, steril verpacktes Verbands- und Nähzeug und ein Knäuel blauer Operationshandschuhe.

Ihr wurde richtig kalt. Sie trat von den Blechwagen zurück, fuhr zusammen, brach in Tränen aus. Etwas hatte sie von hinten berührt. Hart, kantig. Sie schaute über ihre Schulter und stieß erleichtert die angehaltene Luft aus, sie war an die Tischkante gestoßen. Nach einem zweiten Blick schlug sie die Hände vors Gesicht. Für die unregelmäßigen, im roten Licht schwarz erscheinenden Flecken auf der Tischplatte gab es in diesem Ambiente nur eine Erklärung: Blut. Sie stand in einem Operationssaal, in Frankensteins Schreckenskammer.

Sie schluckte trocken, nahm den Rest ihres Mutes zusammen und hob die Augen. An den Wänden gaben die Lücken zwischen den wahrscheinlich blechernen Medizinschränken, wie aus den runden Kanten und Ecken zu schließen war, den Blick frei auf fünf angrenzende Räume. Nur einer hatte eine Türe.

Britta pirschte sich an den nächstliegenden heran, schlich über die Schwelle, stets darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Das fiel schwer, der Boden war übersät mit Scherben, medizinischem Besteck, Spritzen und einigem mehr. Ihr stockte der Atem, als sie vor dem Durchgang auf einem Haufen Unrat einen Finger liegen sah. Sie beugte sich zur Seite, würgte.

Sie kam sich plötzlich winzig vor, bereute, Frau Häuslers Reizwäsche angezogen zu haben. Die machte sie verletzlich, klein. In ihrer Jeans und der Lederjacke wäre sie nicht so schutzlos gewesen! Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Als ob das helfen könnte! Es funktionierte auch nicht, das Smartphone leuchtete die Umgebung nicht mehr aus. In Brittas Schluchzen lag Verzweiflung.

Sie zwang sich weiter.

Sie hielt das Licht auf den Boden. Der sah aus wie in der Halle, Unrat auf ehemals weißen Fliesen. Ein Lichtreflex ließ sie aufblicken, in Augenhöhe. Sie hob das Smartphone, presste vor Schreck die freie Hand auf den Mund. Vor ihr stand eine fast unbekleidete junge Frau, die sie mit einem Licht blendete. Britta erstarrte und beruhigte sich erst, als auch ihr Gegenüber sich nicht bewegte. Aus den Augenwinkeln betrachtete sie die Frau und brach in ein befreiendes Lachen aus. Ihr Spiegelbild sah ihr aus einem halbblinden deckenhohen Wandspiegel entgegen.

Sie leuchtete den Raum ringsum ab, hielt angewidert inne. Sie hob den freien Arm, stützte sich an einer Wand ab und beugte sich vornüber. Sie erbrach sich auf die Fliesen, entdeckte erst jetzt den Kinderarm, der dort auf einem Haufen Kehricht lag, und hetzte orientierungslos aus dem Raum. Der Anblick eines metallenen Tisches mit abgetrennten menschlichen und tierischen Gliedmaßen war für sie zu viel gewesen.

Als sie die Augen aufschlug, fand sich Britta ein einem leeren, fahl und flackernd ausgeleuchteten Zimmer wieder. Sie kauerte auf dem Boden, fror. Die Kälte kam von innen. Langsam stieg die Erinnerung in ihr hoch. Sie rief sich die Stationen des Abends ins Gedächtnis. Babysitting, die missgebildeten Gliedmaßen der Häusler-Kinder, der Hobbyraum, der Gang, die Operationsbestecke, amputierte, teils skelettierte Gliedmaßen. Und das alles in und unter einem Reihenhaus von gerade mal acht Metern Breite! Absurd!

Reiß dich zusammen! Du träumst. Wenn du willst, kannst du jederzeit aufwachen.

Aber wollte sie das überhaupt? Dieser Traum hatte ihr jetzt schon so viel Horror beschert wie all die Filme zusammen, für die sie im vergangenen Monat ihr Taschengeld und ihr kleines Einkommen aus dem Babysitten in die Kinos und Videotheken getragen hatte. Manche Nacht hatte sie die Horrorfilme unmittelbar vor dem Einschlafen geschaut, um sie in ihren Träumen fortzusetzen oder, wenn ihr das Ende nicht gefallen hatte, mit einem anderen Ausgang zu versehen.

Das hier war das Nonplusultra!

Britta stand auf, ballte ihre Hände zu Fäusten und stieß sie forsch mit einem wenn auch gehauchten, so dennoch kampfesmutigen »Ja!« vor ihrem Körper nach vorn. Sollten die Zombies doch kommen!

Sie beugte sich zum Boden, hob ihr Smartphone auf und schickte sich zur Erkundung der restlichen Räume an. Zwei blieben noch.

Mutig beugte sie sich durch den Eingang in den ersten. Wieder metallene Tische, beladen mit menschlichen und tierischen Torsi und Gliedmaßen. Innereien auf dem Boden. All das und auch der Kopf eines Jugendlichen konnten sie nun nicht mehr aus der Fassung bringen. Sie richtete sich auf und schritt zum letzten Raum.

Sie stieß die Tür auf und trat ein, den Blick dem Lichtschein ihres Smartphones auf den Bodenfliesen folgend. Im Raum erst blieb sie stehen, hob Smartphone und Blick, verharrte stocksteif. Eine Gestalt, groß wie ein Kind, starrte sie von der gegenüberliegenden Wand an. Beide schrien in gegenseitigem Erschrecken auf, Britta fiel das Smartphone aus der Hand, es landete mit dem Display nach unten. Dunkelheit, Schreie von allen Seiten. Flucht! Aber wohin? Den Ausgang hinter sich konnte Britta nicht sehen, sie stand sich selbst im Licht.

Sie griff nach dem rot umrandeten Rechteck auf dem Boden, leuchtete rundum in den Raum, hielt den Schreien stand. Missgestaltete Körper, angekettet an die Wände, allesamt durch Körperteile anderer Spezies entstellt, angenäht, angesetzt wie Prothesen.

Todesangst griff nach Brittas Herzen, hielt es in ihren Klauen eng umklammert, presste es zusammen.

Britta rannte, rannte auf das helle Viereck vor ihr zu, den rettenden Ausgang, den Weg aus diesem Albtraum, diesem Horrormärchen, das sie nun doch nicht mehr durchstehen wollte.

Ein Mann trat in das Viereck, kaum, dass sie zwei Schritte getan hatte. Er hatte die Tür von einem Nachbarzimmer aus aufgestoßen und eilte auf Britta zu. In einer Hand hielt er einen faustgroßen Wattebausch, in der anderen eine braune Flasche, deren Glasstöpsel fehlte. Britta flog ein Hauch von Chloroform entgegen. Sie prallten zusammen, der Wattebausch schnellte auf ihr Gesicht zu, verdeckte Nase und Mund. Britta versank in einer wohltuenden Schwärze.

 

Der Morgen graute, als Häuslers heimkehrten. Ein schlechtes Gewissen brauchten sie nicht zu haben, ihre Babysitterin hatte gewusst, dass es sehr spät werden könnte, und sie war einverstanden gewesen. Die Couch war bequem, und Frau Häusler hatte ihr zwei Wolldecken und ein frisch bezogenes Kopfkissen hingelegt gehabt.

Britta erhob sich von der Treppenstufe, auf der sie gewartet hatte, bis sie die Diele betraten.

»Na«, grüßte Frau Häusler, »war etwas Besonderes?«

Britta konnte nicht antworten. Damit es besser anheilen konnte, war ihr Wolfsmaul noch zugenäht.

***

»Die Babysitterin« war 2019 mein Beitrag zur Ausschreibung »Schubladengeschichten« und schaffte es aus 123 Einsendungen unter die 13 in Band 1 abgedruckten Preisträger.


© Cover: Verlag Textgemeinschaft, 2019

»Die Babysitterin« in: Schubladengeschichten, Anthologie. Verlag Textgemeinschaft, 07.12.2019

Carola Käpernick (Hrsg.): »Dieses Buch entstand durch einen Schreibwettbewerb. Diese Beiträge haben sich … als die besten herauskristallisiert.«

***


Abserviert

Ich könnte von früh bis spät heulen.

Gestern Morgen habe ich ihn gefunden, Julias Zettel mit den knappen Worten »I´m sorry!«.

Ihr Versuch, mit ihrem wenigen Englisch die Tatsache ins Lächerliche zu ziehen, dass sie mir ihren Verlobungsring auf einem abgerissenen Stück Papier liegenlässt, gibt mir den Rest. Stillos, einfach so auf dem Küchentisch. Eiskalt serviert sie mich ab, verdrückt sich klammheimlich, hält nicht einmal eine Erklärung für nötig.

Wenn ich den Ring und den Zettel nur ansehe, schnürt sich mir die Brust zusammen, und ich drehe mich weg.

Der Abend vorgestern hatte sich in die Länge gezogen, er war sehr nett gewesen. Mit keiner Silbe hat sie auch nur angedeutet, dass sie mich verlassen wollte. Freilich musste sie gestern recht früh nach Koblenz zurück, als ich noch schlief. Sie arbeitet dort, und dort haben wir auch ihre Wohnung geteilt. Wir hatten uns spontan ineinander verliebt, und einen Monat später zog ich mit meinen wenigen Sachen bei ihr ein. Die Schmetterlinge im Bauch kamen nicht zur Ruhe. Von einer gemeinsamen Zukunft träumten wir, schmiedeten Hochzeitspläne. Hat sie das überfordert? Nie hat sie den Anschein erweckt, nicht vollkommen in der Vorfreude auf ein Leben zu zweit und später als Familie aufzugehen.

Der gestrige Tag kam mir vor wie das Fegefeuer: Ich bin benommen, kann mich nicht konzentrieren, will mich niemandem anvertrauen, obwohl alle merken, dass mit mir etwas nicht stimmt. Gefühlte fünf Minuten nur halte ich es aus ohne einen weiteren Versuch, Julia anzurufen. Ein paar Abschiedsworte wenigstens, eine Begründung! Das ist doch das Mindeste, das ich verlangen darf. Womit verdiene ich diese rüde Behandlung, diese Missachtung? Keine Antwort, ihr Handy ist ausgeschaltet, ihr Telefon nimmt sie weder im Büro noch abends zu Hause ab.

Die Nacht über bekomme ich kein Auge zu. Ich grüble, bin irgendwann überzeugt, die Erklärung für Julias schnödes Verhalten gefunden zu haben.

»Das machst du nur, damit du näher bei deiner Mutter bist.«

»Stimmt doch gar nicht, ich tu´s für uns.«

»Muttersöhnchen!«

Ich hielt ihre Bemerkung für einen Scherz, sie hatte schließlich dazu gelacht.

Freudestrahlend hatte ich ihr vor zwei Wochen die Zusage auf meine Bewerbung gezeigt, sie strahlte. Ich dachte, sie freut sich mit mir. Schließlich tue ich es für uns beide. Es fällt mir nicht leicht, aus dem beschaulichen Städtchen am Deutschen Eck, dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel, wegzuziehen. Ich bin dort aufgewachsen, zur Schule und in die Lehre gegangen, habe mit meiner Mutter zusammen gewohnt, bis ich erwachsen war und sie in Bayern einen neuen Lebensgefährten fand. Sie hat meine Pläne stets unterstützt, sich nie in mein Leben eingemischt. Ich bin kein Muttersöhnchen, Julia weiß das! Und in München verdiene ich beinahe das Doppelte, wir hätten uns ein gemeinsames Leben aufbauen können.

Das Schmerzliche war nicht nur die Trennung, die ich auf mich nehmen musste, bis Julia mir nachkäme, sondern auch, dass ich Hals über Kopf umziehen musste. Meine neue Firma macht es mir leichter, indem sie mir ein möbliertes Appartement überlässt, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Julia hatte versprochen, mir dabei helfen zu wollen.

Sie hat mich am Wochenende besucht, wir waren auch bei meiner Mutter. Aus Julias Verhalten konnte ich nur schließen, dass ihr die neue Umgebung gefiele, und mit meiner Mutter kam sie offensichtlich gut zurecht. Harmonie pur! Woher der grußlose Aufbruch, woher nur der unverständliche Sinneswandel?

Nun sitze ich seit einer Stunde am Küchentisch, vor mir die dritte Flasche dunkles Hefeweizen und Julias Zettel mit dem verschmähten schlichten Goldring. Alles hat sich gegen mich verschworen, sogar das Weißbier mag mich nicht und ist zu schnell alle. Eine letzte Flasche wartet noch im Kühlschrank. Mein Gang und meine Bewegungen sind unsicher, meiner Verfassung angemessen. Beim Einschenken stoße ich mit dem Flaschenboden Ring und Zettel vom Tisch. Ein Malheur mehr, aber nur ein kleines.

Den Ring hebe ich schnell auf, an den Zettel komme ich nicht so leicht heran. Er ist halb unter meinen Stuhl geflattert und liegt mit dem »I´m sorry!« nach unten.

Als ich mich danach recke, lacht mich ein Smiley an, und ich lese:

»Schatz, Du schläfst so fest, da will ich Dich nicht wecken. Aber ich muss los.

Den Ring gib bitte Deiner Mutter zurück. Als ich gestern bei ihr im Bad war, habe ich ganz in Gedanken ihren Ehering von der Konsole über dem Waschbecken genommen und angesteckt.

Ich liebe Dich.

Julia«.

***


»Abserviert«, mein allererster Beitrag zum Schreibwettbewerb des Schreiblustverlags. Das folgende Foto sollte zur Geschichte inspirieren.


© Foto: Schreiblustverlag

***


Szenen einer Ehe – eher eine Szene!

»Ich liebe dich nicht mehr.«

»Warum sollte es dir besser gehen als mir?« entgegnete ich. Ich legte eine Menge Emotion in meine Stimme. Auf dieses Gespräch mit ihr hatte ich mich vorbereitet, ich wusste, dass es kommen würde. Kommen musste.

»Du hast mich nie ernst genommen, hast meine Bedürfnisse ignoriert! Für dich war ich nur gut genug zum Putzen und Waschen.«

»Naja, da war noch ´was anderes«, warf ich ein. Kaum war die Entgegnung über meine Lippen geflossen, bereute ich sie. Ich hatte sie anders gemeint! Innerlich zuckte ich zusammen, sah die moralische Gewitterwolke meinen ganzen Horizont ausfüllen. Prompt erntete ich den Kommentar, den - so schien es mir – jede sexuell frustrierte Ehefrau loswerden musste.

»Der Spruch musste ja kommen, du Pascha. Ihr denkt auch immer nur an das Eine! Und? Was kommt dann? Nur heiße Luft!«

»Stimmt doch gar nicht! Es war echte Liebe, aber im Lauf der Zeit …«

»Etwas Besseres fällt dir auch nicht ein. Wenn du mir wenigstens nur ab und zu geholfen hättest. Aber nein, du hattest nur deine Arbeit im Sinn, deine Geschäftsreisen, hast mich und die Kinder vernachlässigt …«

Die Pause war nur kurz, dann wusste ich, was ich zu antworten hatte.

»Ich hab´s für uns getan. Von nichts kommt nichts.«

»Ach, und meine Arbeit zählt wieder nicht! Ich rackere mich im Haushalt ab von früh bis spät, habe kein Wochenende, keinen Feiertag, keinen Urlaub. Wenn du heimkommest, legst du nur die Füße hoch, erwartest, dass ich dich frage, wie dein Tag war. Wer zum Teufel fragt mich, wie mein Tag war?« Ihre Stimme schwoll ein paar Dezibel an. »Du meinst auch, bloß weil du das Geld heimbringst, …«

»So ist das nicht«, fiel ich ihr ins Wort, »auch wenn ich meine Arbeit nicht gegen deine tauschen möchte, so erkenne ich deine doch an.«

»Und was habe ich davon, tagein, tagaus? Höre ich von dir nur ein einziges Wort der Anerkennung?«

Sie hatte die Fäuste geballt, sie zitterte, ihre Stimme vibrierte. Es war nicht das angenehme Timbre, das ich so lieben gelernt hatte vom ersten Tag an, als wir uns trafen. Aber darauf reagierte ich nicht, es war einfach ihre Stimme, die mich noch immer erregte. Mein Fehler! Als ich meine Gedanken und Sehnsüchte wieder von ihrem Tonfall löste, wusste ich nicht mehr, wie das Gespräch begonnen hatte, das schlechte Gewissen aber blieb. Wie schon so oft. Ich musste mich mehr zusammenreißen! Diesmal ging der Punkt an sie.

Das nächste Streitgespräch ließ nicht lange auf sich warten. Gerade hatten wir noch nebeneinander Hand in Hand auf der Couch gesessen. Nun standen wir uns gegenüber, nach vorn gebeugt, nur der Couchtisch zwischen uns bemühte sich als stummer Schiedsrichter darum, dass der Disput wenigstens einigen Regeln der Vernunft und des Anstands zu gehorchen hatte. Das leidige Thema war der Urlaub im Tessin, im Ferienhäuschen mit dem kleinen Garten, einem Handtuch von Grundstück.

»Nicht einen Finger hast du gerührt! Wenn wir ankommen, räumst du gerade noch das Auto aus. Ist klar, wenn der Wagen erst mal in der Garage steht, kommst du nicht mehr an den Kofferraum. Aber danach …? Ich darf zuerst eine Grundreinigung durchführen, weil das Haus ein halbes Jahr leer stand, während du auf der Terrasse beim Bier eine rauchst und dann im Bett verschwindest. Ja, du hattest ja auch fahren müssen. Aber am nächsten Morgen verlangst du frische Brötchen vom Bäcker, ein geputztes Bad und sämtliche Gartenmöbel auf der Terrasse.«

»Ich habe nie gefordert, dass du das alles in der ersten Nacht herrichtest. Schließlich haben wir fast vier Wochen Urlaub da verbracht.«

»Du hättest ja auch mal zugreifen können! Du weißt auch, wie schwer es mir fällt mit dem alten Rasenmäher.«

»Ja, und am zweiten Tag sollte ich die Hecke schneiden. Das hätte auch Zeit gehabt in den vier Wochen.«

»Wenn´s zu Beginn gemacht wird, haben wir es halt die ganze Zeit schön.«

»Du weißt, wie dringend ich Entspannung gebraucht habe! Immerhin bin ich zehn Monate im Jahr fünf Tage die Woche zwischen zehn und zwölf Stunden von zu Hause fort, während du dir deinen Tag einteilen kannst und deinen Arbeitsplatz gestaltest, wie du ihn möchtest. Während ich fremdgesteuert bin!«

» …?«

Dieser Punkt ging eindeutig an mich.

Das nächste Mal hatte sie mich mundtot gemacht nach nur zwölf Sekunden: »Du hast keine Argumente, du hast nur Ausreden!«

K.O. in der ersten Runde.

Noch einige solche Dispute folgten in der nächsten Zeit. Anfangs mit wechselndem Ergebnis. Dann wurde sie immer stärker, fuhr Themen und Argumente auf, denen ich immer weniger entgegenzusetzen hatte. Sie wurde ruhiger, rationaler, während mich ihre zunehmende Sachlichkeit jedes Mal mehr zur Weißglut brachte. Manchmal wiederholten wir uns. Szenen einer Ehe eben. Dort wird auch nicht alles nur ein einziges Mal aufgetischt, dieselbe schmutzige Wäsche wird mehrmals gewaschen. Sie wurde immer sicherer. Bald hatte sie mich eingeholt. Überflügelt will ich nicht sagen. Oder nicht zugeben.

Und dann:

»Du, danke für deinen Rhetorikunterricht! Du bist ein wirklicher Freund.«

Hannelores Kuss war mehr als gehaucht, er war leidenschaftlich. Genauso leidenschaftlich gab ich ihn zurück. Ich hatte mich lange danach gesehnt.

Mit Hilfe unserer Rollenspiele und ihrem daran gewachsenen Selbstbewusstsein hat sie es geschafft, nicht nur die Scheidung einzureichen und, dem Zerrüttungsprinzip folgend, durchzustehen, sondern sich auch ein übergroßes Stück vom Kuchen der Zugewinngemeinschaft abzuschneiden.

Hannelore und Herbert kannte ich schon lange. Obwohl ich mitgeholfen hatte, ihn zu übervorteilen, tat Herbert mir aus tiefster Seele Leid.

Die Scheidung der beiden erinnerte mich an die alte Geschichte »Ich trug Jeans und lange Haare«, in der ein Typ seiner Flamme zuliebe nicht nur zum Friseur geht, sondern sein T-Shirt gegen den Rollkragenpulli, die Lederweste gegen ein Sakko und die Jeans gegen eine Stoffhose mit Bügelfalten tauscht. Seine Harley Low Rider mit Chopper-Gabel und Sissibar weicht dem konservativen VW Golf. Und nach dem Abschluss seiner Metamorphose beendet sie die Beziehung. Er sei so spießig geworden, nicht mehr der taffe Typ, in den sie sich vormals verliebt hatte. Als er dann mit seinem Köfferchen auf der Straße steht, sieht er sie aus dem Haus kommen und sich hinter einem Kerl aufs Motorrad schwingen. Der trug Jeans und lange Haare.

 

Der Typ aus der Geschichte war ich.

Seit ihrer Scheidung sahen wir uns regelmäßig. Nach einem Vierteljahr verkaufte Hannelore die Wohnung, die ihr zugesprochen worden war, und zog zu mir. Wir heirateten. Nun habe ich sie am Hals und weiß nicht, wie ich sie wieder losbekomme. Im Tessin habe ich die Hecke geschnitten und den Rasen gemäht. Gleich, nachdem ich den Kofferraum ausgeräumt hatte. Sie lag auf der Terrasse im Liegestuhl in der Sonne. Sie wollte für mich hübsch braun werden. Die Brötchen mag sie übrigens warm und mit Kruste, und die Gartenabfälle lasse ich höchstens ein halbe Stunde liegen.

Manchmal trifft man im Leben eine falsche Entscheidung, und manche Fehler macht man mehrmals. Mit Herbert verstehe ich mich übrigens wieder prima. Im Grunde meines Herzens beneide ich ihn.

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Die Aufgabenstellung hieß »Manchmal trifft man im Leben eine falsche Entscheidung – vielleicht auch mehrmals«.

Im Forum des Schreiblustverlages bewerten die Einsender der bis 40 Beiträge am Monatsende ihre Werke gegenseitig. Der eigene Beitrag erhält dabei keine Punkte. Aussagekräftiger als die oftmals vom Geschmack beeinflusste Punktevergabe sind die Kommentare zur Umsetzung der Monatsaufgabe, zu Idee und Schreibstil.

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