Quer Beet aufs Treppchen

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Nikolaus

Ich bin Nikolaus. Der Nikolaus.

Es ist Advent, die Vorweihnachtszeit.

Ich lebe in einer Wohngemeinschaft. Wir sind ein bunter Haufen, jeder sieht anders aus, jeder hat eine andere Geschichte, eine andere Meinung. Jeder hat sein Zimmer, seine eigene Tür nach draußen. Da ist der Tannenbaum, der von früh bis spät seine Spitze mit dem goldenen Stern wiegt, da sind Stars und ein paar Sternchen, die sich dafür halten. Da sind unter anderem das Schaukelpferd und der Junge, der nichts tut außer sich in seiner Wiege zu schaukeln, die mit goldfarbenen Fasern ausgelegt ist – Stroh nennt er es –, und vor sich hin zu summen. Auf ihn bin ich etwas neidisch. Ausgerechnet der Jüngste hat das größte Zimmer, die breiteste Tür. Verzaubert bin ich von der Blonden im weißen Kleid, sie ist wirklich hübsch mit ihren Flügeln, die sie hier nicht richtig ausbreiten kann. Altersmäßig passen wir trotz all meiner Sehnsucht nach ihr nicht zusammen: Ich könnte ihr Großvater sein.

So sehe ich auch aus. Mein Haar ist lang und weiß, ich sollte mal wieder zum Friseur gehen, finde aber keinen, und mein Bart überwuchert mein Gesicht. Zugenommen habe ich, fühle mich mit meinem Übergewicht besonders in Gegenwart meines Rauschgoldengels unwohl. Aber wir haben wenig Bewegung, und die Weihnachtsvorbereitungen bauen nicht wirklich Kalorien ab. Meistens sitzen wir zusammen und philosophieren.

Stammtischpolitik hat es neulich einer aus unserer Runde genannt.

»Wir ändern ja sowieso nichts.«

Das ist es, was mich stört. Früher war alles besser! Da ging ich auf die Straße, habe brave Kinder beschenkt, hin und wieder auch Erwachsene, und unartige bestraft. Heute schert sich kaum jemand um mich und um das, was ich tue oder auch nicht. Die richtigen Geschenke überbringe ich auch nicht mehr, höchstens ein paar Süßigkeiten, und wenn jemand verantwortungsvoll ist, auch etwas Obst nach Marktlage.

Zwar habe ich noch meinen Tag wie beinahe vier Wochen vorher ein anderer Heiliger aus meiner Epoche. Martin. Sein Namenstag wird begangen mit Gänsebraten, abends ziehen Eltern mit ihren Sprösslingen durch die Straßen, erhellen sie mit Laternenumzügen. Sogar besungen wird Martin, zumindest in einigen Gegenden, etwa im Rheinland, dessen Dialekt ich nur bruchstückhaft verstehe. »D´r hillije Zinter Mätes, dat wor ne jode Mann. Dä jof der Kinder Kääzcher un stoch se selver an.« Ja, Martin ist ein guter Mann, aber dass er Kerzen verschenkt und Spaß am Zündeln hat, wusste ich vorher nicht. Die Kinder werden auch ihn verdrängen, wenn sie älter sind. Erst, wenn sie selbst Kinder haben, werden sie sich erinnern und ihren Kindern Bastelmaterial für Papierlaternen in den Kindergarten mitgeben.

Und wer besingt mich? Ich meine das nicht wörtlich, aber heutzutage, halbwegs vergessen, gibt es gerade noch am Vorabend meines Namenstages kurzzeitig Vorbereitungen in manchen Haushalten, mein Namenstag ist ein normaler Tag. Gefeiert wird höchstens, wenn er auf ein Wochenende fällt, indem man ausschläft und sich darüber freut, dass man nicht zur Arbeit muss – Busfahrer und Krankenschwestern ausgenommen. Das ist so, seit mir der andere den Rang abgelaufen hat. Auch er heißt Claus, wenigstens mit »C«, er lässt sich Santa nennen. Zwar eine Werbeerfindung des amerikanischen Herstellers koffeinhaltiger Limonade, aber sehr rege. Er hetzt in seinem roten Kapuzenmantel durch Großstadtstraßen, und wenn er müde ist, setzt er sich auf das Sims eines Schaufensters. Oder, wenn man ihn lässt, geht er in das Kaufhaus hinein und lässt sich mitten in der Weihnachtsdekoration nieder, wippt Kinder auf seinen Knien und lässt sie an seinem Bart ziehen. Und die Kaufhäuser belohnen ihn, wenn die Eltern der Kinder, die auf seinen Knien sitzen, im Geschäft teure Geschenke kaufen. Im Gegensatz zu mir ist er nicht authentisch, er ist nur ein Abziehbild, die Gallionsfigur des Konsums!

Aber meine Gedanken schweifen ab. Das Problem ist der Umgang der Menschen mit dem bevorstehenden Fest. Ich frage mich: Wann habe ich den Anschluss verpasst? Wir leben recht zurückgezogen, haben vielleicht von unseren alten Identitäten zu großen Abstand genommen. Uns gibt es ja nur einmal im Jahr.

Wir sitzen mal wieder zusammen.

»Es gibt eine Parallelwelt. Hauptsächlich Menschen leben dort. Zumindest prägen sie ihr ihren Stempel auf.« Der Tannenbaum sagt es, er ist der älteste in unserer Gemeinschaft, hat die meiste Lebenserfahrung.

»Ich erinnere mich wieder. Menschen. Ganz früher hat sich abends die Familie versammelt«, sinniere ich, »um einen Weihnachtsbaum herum mit Wachskerzen und Lebkuchenanhängern. Oder, wer …«

»Das war ich.« Die Stimme des Tannenbaums zittert leicht, er seufzt. Dann verbarrikadiert er sich in seiner Erinnerung.

»Oder, wer noch keinen zu Hause hatte«, fahre ich fort – mit erhobener Stimme, um nicht nochmals unterbrochen zu werden – »um den Adventskranz. Gesungen hat man. Und vorgelesen. Später, als hätte man die Stimme verloren, kamen die Weihnachtslieder von Schallplatten, Tonbändern oder CDs. Heute? Nichts mehr. Außer Kommerz. Im allerschlimmsten Fall werden noch am Heiligen Abend ein paar Verlegenheitsgeschenke besorgt, man lässt sie im Geschäft verpacken und ist enttäuscht, wenn sie nicht gefallen.«

Diesmal seufze ich.

»Man müsste den Menschen mal die Leviten lesen«, beendet mein Rauschgoldengel die peinliche Pause. »Nikolaus, du könntest doch …« Sie verstummt, als ich die Augenbrauen zusammenkneife.

Aber sie hat etwas in mir berührt. Eine vergessene Saite beginnt zu schwingen. Erst ganz zart, dann stärker, am Ende heftig. Ich hatte doch früher … und warum nicht heutzutage wieder? Ein kurzes Nicken in die Runde, dann verlasse ich die Gemeinschaft, ziehe mich in mein Zimmer zurück. Ich muss nachdenken.

Es ist wieder soweit, wie jedes Jahr in der Adventszeit. Wie in Big Brother oder dem Dschungelcamp verschwindet jeden Tag einer von uns. Da ihre Zimmer nicht nebeneinander liegen, wird die Reihenfolge wohl durch die Nummer an ihrer Tür bestimmt. Sie werden in die Parallelwelt geholt, zu den Menschen. Was die mit ihnen machen? Ich weiß es nicht, keiner kann es mir sagen.

Ich zähle eins und eins zusammen.

»Ich gehe«, stelle ich in unserer abendlichen Runde fest. »Zwei Dinge treiben mich. Erstens weil, wie unser Engel hier gesagt hat, …« Ich strahle sie an, sie strahlt zurück. »… ich die Menschen wieder zur Besinnung ober besser gesagt, zur Besinnlichkeit, zurückführen will. Und zweitens will ich nicht fremdbestimmt sein und warten, bis sie mich holen.«

Ein Raunen geht durch unsere Gemeinschaft. Der Stern auf der Tannenspitze verliert beinahe den Halt, so stark schüttelt sie sich, das Schaukelpferd nickt zustimmend, mein Engel drückt mir einen Kuss auf die Wange, und der Junge summt weiter, als habe er nicht zugehört.

Gestern habe ich an einer Seite meiner Türe einen Schlitz entdeckt, aber ich bekam sie nicht aufgestemmt. Ich habe kein Werkzeug, nur meine Rute. Sie ist kein Zweig, eher ein Reisigbesen ohne Stiel. Einzelne Reiser kann ich herausziehen, mit ihnen stochere ich in dem Schlitz, er wird breiter und länger, das Türblatt wellt sich dort, wo ich gearbeitet habe. Dann entdecke ich weitere Schlitze, darüber und darunter, auf drei Seiten. Ich muss also nur die Stege durchtrennen. Das macht es mir leichter, in die Freiheit der Parallelwelt zu kommen, meine Mission auszuführen.

Was ich zu tun habe, ist nebulös. Ich werde improvisieren müssen. Leicht wird es nicht werden, darüber sind wir uns hier alle einig. Traue ich es mir zu? Will ich überhaupt?

Schon wieder wird uns heute einer entrissen, ein kleiner Stern. Wir sind schockiert, verkriechen uns in die hintersten Winkel unserer Kammern und verhalten uns ganz still. Wann sind wir dran? Als nichts mehr passiert, treffen wir uns, lamentieren aufgeregt. Mein Engel wiederholt seinen Vorschlag, diesmal mit deutlich mehr Vehemenz.

»Wir werden zwar für uns nichts ändern, aber die Menschen werden mehr auf uns achten.«

»Uns achten! Nicht auf uns!« verbessert der Weihnachtsbaum. Die alte Tanne hat irgendwoher Lametta aufgetrieben und sich in Schale geworfen. »Uns wieder achten!«

»Ich weiß nicht recht.« Ich äußere meine Zweifel.

»Du schaffst das schon!« Rundum ertönt Zuspruch.

Aber …

»Ich weiß nicht recht.«

»Karl, hast du …? Kaaarl, hast du die Haken etwa in den Türrahmen geschraubt?« schallt es spätabends aus der Parallelwelt in mein Stübchen. Ich unterbreche meine Arbeit.

»Nein, Schatz, zwischen Wand und Rahmen ist ein Spalt, da habe ich sie eingeklemmt. Morgen nehme ich sie wieder heraus. Siehst du, so! Oder willst du wieder Stiefel hinstellen?«

»Kommt gar nicht in Frage! Wozu hätte ich denn dann ein halbes Dutzend rote Strümpfe gestrickt?«

»Naja, mal eben vier!«

Ich höre ein Kichern, ein gehauchtes »Lass das!«, dann ein zärtliches Schmatzen. Es erinnert mich an den Kuss meines Engels.

Ich setze mich erst einmal hin, muss meine Gedanken sammeln, mir über meine Absicht klarwerden. Will ich überhaupt hinaus? Was ist mir beschieden? Bleibt die Adventszeit geprägt von Hektik, Ärger über Schmuddelwetter und Vorweihnachtsstress? Oder bin ich in der Lage, den Menschen ihre Beschaulichkeit, ihre innere Ruhe und Ausgeglichenheit, ja Freude, zurückzubringen? Ich bin der Nikolaus, der Nikolaus, aber schaffe ich es? Und wenn ich bei meiner Familie, bei Karl und Schatz und den Strümpfen anfange?

Ich bohre unentschlossen weiter.

Irgendwann habe ich es erreicht. Alle Stege sind durchtrennt, die verbliebene Seite der Tür ist durchgehend von oben bis unten geschlossen, aber das Türblatt lässt sich aufbiegen. Ich lausche, zuerst in mich hinein, dann nach draußen.

 

Es ist still im Raum. Ich treffe die längst fällige Entscheidung und öffne die Tür.

***

Diese besinnliche Geschichte entstand in der Vorweihnachtszeit 2019 als Antwort auf die Ausschreibung des Schreiblustverlags »Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür«.

Wie bei allen Schreibwettbewerben dieses Verlags war die Länge des Textes auf 10.000 Zeichen einschließlich Leerzeichen begrenzt.

***

Boah ey! oder Münchhausens Schreckensfahrt

»Scharfe Sache! Was hast du dafür gelöhnt?«

»Ach, das willst du gar nicht wissen!«

»Komm, nun sag schon!«

»Gut zweimal dein Jahresgehalt.«

»Seit ich in die Teppichetage eingezogen bin oder vorher?«

»Seit. Und mit Prämie.«

»Boah ey!« Dieser Spruch, den Hans-Peter aus der Ära der Manta-Filme und Manta-Witze ins Erwachsenenalter herübergerettet hat, drückt alles aus. Anerkennung, ein bisschen Neid, aber noch mehr Freude für Heinz und eine Portion Stolz darauf, mit dem Besitzer dieses Boliden befreundet zu sein. Ein »Wir wär´s mit ´ner Probefahrt?« reißt ihn aus seinem kurzen Tagtraum.

»Klar, aber wie komm´ ich da rein und nachher wieder raus?»

»Der Schuhlöffel liegt im Fußraum. Und raus? Da gab es mal einen, der hat sich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, da wirst du das wohl aus ´nem Auto schaffen!«

Amüsiert über ihre eigenen platten Bemerkungen grinsen beide sich gegenseitig an.

»Wollen wir?«

»Klar, ich leg´ nur schnell noch mein Jackett in den Jaguar.«

Mit sonorem Schnurren rollt der italienische Sportwagen die breite Einfahrt vor dem Luxusbungalow hinunter und rauscht keine 10 Minuten später durch die scharfe Kurve des Zubringers auf die Autobahn. Heinz wirkt locker, Hans-Peter aber weiß, wie konzentriert er in Wirklichkeit ist. Zwar lässt der Verkehr hier noch kein Freilassen der unbändigen Pferdchen zu, aber die linke Spur muss einfach sein. Einige Kilometer später – eine Strecke, die die Geduld der beiden reichlich strapaziert – sind sie fast allein auf der Piste. Eine dritte Spur öffnet sich, die Geschwindigkeitsbeschränkung endet, der Motor hat seine Betriebstemperatur erreicht.

»Nu´ lass laufen! Freie Fahrt für freie Bürger!«

»Hast Recht! Solange die Regierung einen noch lässt.«

»Eben. Es kann nur schlimmer kommen.«

Das »Ach so« von Heinz klingt lässig, wird aber Lügen gestraft durch das ironische Lachen, das er nicht unterdrücken kann.

Hans-Peter ist neugierig, was das neue Spielzeug seines Freundes hergibt. Angst hat er nicht. Er ist hohe Geschwindigkeiten gewohnt, als Beifahrer genießt er das exponentielle Ansteigen der Adrenalinkurve. Nervenkitzel wie in der Achterbahn! In seinem Sitz versteift registriert er mit einem Seitenblick auf die traditionellen Rundinstrumente die zunehmende Geschwindigkeit.

»Gleich biegt sich die Tachonadel um den kleinen Stift da unten. Da, wo hinter der 320 die Zahlen aufhören.«

Heinz grinst, dreht das Gesicht seinem Freund zu.

»Noch nicht ganz, das kommt aber noch. Wozu habe ich denn ´nen Biturbo, Resonanzauspuff, zwei polierte Nockenwellen und ausgefräste Stirnräder? Übrigens alles eingetragen. Sch…« Ruckartig korrigiert er den Lenkradausschlag, um den Augenblick seiner Unaufmerksamkeit auszugleichen.

»Hape, kannst du bitte mal das Autoradio ausschalten? Es nervt. Die Lautstärke wird geschwindigkeitsabhängig hochgeregelt. Muss ich noch einstellen.«

Mit einem breiten Grinsen beugt sich Hans-Peter in seinem Sitz nach vorn und drückt die »Off«-Taste.

»So ein Armleuchter! Der sieht doch auch, dass der Laster da vorn überholt. Und hier fahr´ ich nicht mehr rechts ´rüber.«

Hans-Peter hört zu, dreht sich in dem Sportsitz so weit nach hinten, wie es geht, schaut durch das schmale Heckfenster.

»Porsche 997«, kommentiert er. Das Modell erkennt er an den ovalen, schräg liegenden Scheinwerfern, denen die markanten »Tränensäcke« seines Vorgängers fehlen. »Du, der Spoiler! Das muss ´was Besonderes sein. Der normale is´ das nich´.«

»Na und? Deswegen muss er mir nicht am Auspuff nuckeln.«

Die LKW sind überholt, Heinz weicht auf die rechte Spur aus, der Porsche beschleunigt, überholt und zieht vor ihm nach rechts, schneidet ihn.

Heinz fühlt sich provoziert. Das Manöver weckt seinen Jagdtrieb. Er greift das Lenkrad fester, spannt Arm- und Nackenmuskeln an, rutscht mit Rücken und Hinterteil hin- und her, bis er mit dem Schalensitz verschmilzt. Dann tritt er das Gaspedal durch.

Der Italiener macht einen Satz, presst nun auch Hans-Peter an die Rückenlehne. Der winzige Heckspoiler reckt sich ins Freie, der cw-Beiwert duckt sich. Der Motor fühlt sich wohl mit seiner neu gewonnenen Freiheit, endlich darf er zeigen, was in ihm steckt. Die Hufe von 500 Pferden hämmern auf den Asphalt. Das Dröhnen des Mittelmotors erstickt alle anderen Geräusche im Fahrgastraum.

Heinz und Hans-Peter erfasst der Geschwindigkeitsrausch. Der Porsche hat keine Chance, Heinz holt auf, setzt zum Überholen an.

Nur der Tatsache, dass Heinz sein neues Auto noch nicht richtig kennt, verdankt es der Porsche, dass er mithalten kann. Kilometer um Kilometer rasen beide Fahrzeuge nebeneinander her über die autofreie Piste. Fahrer und Beifahrer des 997 schauen nach links zum Italiener hinüber. Grinsend erwidert Hans-Peter ihren Blick.

Heinz hält seinen auf die Fahrbahn geheftet – hunderte Meter voraus. So erkennt er vor dem Porschefahrer das potenzielle Hindernis, einen Lastzug, der immer wieder auf die Mittelspur gerät. Heinz tritt das Gaspedal aufs Bodenblech.

»Nur weg von dem Porsche! Wenn wir an dem Lastwagen vorbei sind, hört das Spiel auf. Dann soll der Idiot machen, was er will.«

Der Porschepilot sieht den Ruck nach vorn, erkennt die Gefahr und hat den gleichen Gedanken: vor seinem Konkurrenten an dem LKW vorbei! Er beschleunigt, ist wieder gleichauf.

Seite an Seite preschen beide Sportwagen über die Autobahn. Der Lastzug ist erreicht. Einen halben Meter ragt er in den mittleren Fahrstreifen, in die Fahrspur des Porsche!

Der Fahrer bekommt Panik, weicht nach links aus, touchiert Heinz´ Italiener, prallt nach rechts ab. Zum Glück ist der Lastwagen nun hinter ihm. Aber sein Fahrzeug hat er nicht mehr im Griff. Der Porsche driftet über die rechte Spur auf den Standstreifen und schmirgelt funkensprühend an der Leitplanke entlang, bis er zum Stehen kommt.

»Hast du das gesehen? Das Arschloch hat mir den Außenspiegel abgefahren! Den Kerl krall´ ich mir.« Seine Stimme klingt eine Oktave zu hoch. Im Innenspiegel sieht Heinz, wie der Porsche an Tempo verliert. Er steuert nach rechts, sein Bremsmanöver reibt ein Viertelpfund Gummi in den Seitenstreifen.

Mit der sturen Beharrlichkeit eines Ozeandampfers zieht der Lastzug auf seinem Kurs an Heinz und Hans-Peter vorbei. Seine Hupe dröhnt wie ein Nebelhorn.

Langsam zählt Heinz bis zwanzig, und als er sicher ist, dass die Turbos stillstehen, dreht er den Zündschlüssel auf Stellung »null«. Ein weiterer Blick in den Spiegel zeigt Blaulichter, die sich vom Horizont her unendlich langsam nähern. Ein Polizeihubschrauber landet hinter dem Porsche auf der Standspur.

»Scheibenhonig! Jetzt haben sie uns erwischt. Illegales Straßenrennen.«

Hans-Peter sitzt starr, einzig sein Adamsapfel bewegt sich, hüpft auf und ab, soweit er Bewegungsfreiheit hat. Er selbst berührt das Auto nur an drei Punkten. Seine Fersen haben sich mit einem Fußbreit Abstand in den Veloursboden gegraben, sein Hinterkopf liegt hart an die Nackenstütze gepresst. Stocksteif schwebt sein Körper über dem Sitz, seine Hände hält er, da er in der ersten Schrecksekunde nichts zum Festhalten gefunden hat, immer noch wie zum Gebet gefaltet über der Brust. Er schluckt und würgt. Plötzlich kommt wieder Leben in ihn. Gerade noch rechtzeitig drückt er die Beifahrertür auf und stemmt sich aus dem Sportsitz. Sekunden später übergibt er sich über die Leitplanke.

Heinz spürt sein Herz bis zum Hals pochen. Langsam schält er sich aus dem Auto, verliert beinah das Gleichgewicht. Als er seine Schnappatmung einstellt, wird ihm bewusst, dass er sich mit dem ganzen Gewicht seines Oberkörpers auf dem Fahrzeugdach abstützt. Das hat nichts damit zu tun, dass er mit dem Hintern fast auf der Fahrbahn gesessen hat und seine Füße auf gleicher Höhe waren. Er hat schlicht weiche Knie.

Nun erst hört er das dröhnende Geräusch über sich. Ein zweiter Helikopter bleibt in der Luft und kreist über der Autobahn.

Am Abend folgt im Fernsehen auf die Nachrichtensendung eine Sonderberichterstattung. Ein Fernsehteam im Hubschrauber verfolgt zwei Sportwagen, die sich offenbar ein Rennen liefern, das nach einem Rempler abgebrochen wird. Für den Porsche endet es an der Leitplanke, der italienische Renner verlangsamt seine Fahrt und hält weiter vorn auf dem Seitenstreifen. Ein Helikopter landet in unmittelbarer Nähe des Porsches.

Heinz und Hans-Peter sitzen nebeneinander auf der Couch. Die Hand von Hans-Peter scheint in der Chips-Tüte eingeklemmt, jedenfalls zieht er sie nicht heraus. Heinz beugt sich vor, stellt wie in Zeitlupe sein Bierglas auf den Couchtisch, nimmt den Blick nicht vom Bildschirm. Dass ihre Ehefrauen ins Wohnzimmer treten, nehmen beide solange nicht wahr, bis Corinna erstaunt ausruft: »Guck mal, der sieht ja aus wie deiner!«

Das »Schschscht!« kommt unisono.

Gerade rechtzeitig verstummt Corinna, sodass alle vier nun dem Bericht auch zuhören können. Irgendwo auf einer Autobahn steht eine hübsche Enddreißigerin vor einem Polizeihubschrauber, sie hebt gerade den Blick in die Kamera und bläst sich eine Strähne aus dem Gesicht. Dann beginnt ihr Interview.

»Scharfe Sache, wie Sie die Bankräuber ausgebremst haben! Ein oskarverdächtiges Manöver! Wieso waren Sie sich eigentlich so sicher, dass in dem Porsche die Bankräuber saßen?«

Erwartungsfroh schwenkt die Kamera zu Heinz und Hans-Peter.

»Naja …« Hans-Peter klingt ganz anders, viel selbstbewusster, als er sich beim Aussteigen noch gefühlt hat. Die gesprenkelten Flecken auf seinem teuren Leinenhemd sehen aus, als gehörten sie dahin. Batik? Sein Flunkern wird von einem spitzbübischen Grinsen begleitet. »Schließlich flogen Sie und der Polizeihubschrauber die ganze Zeit über uns. Dazu lief im Autoradio Ihre Live-Reportage.«

»Gleich erzählt er noch ´was vom Ritt auf der Kanonenkugel. Aber an den Haaren hat er sich nicht aus dem Auto gezogen!« Aussprechen will Heinz seine Gedanken nicht. Aber als er albern kichert, nimmt der Kameramann ihn ins Visier.

»Und da ja …« Heinz lächelt verschmitzt. »… die schmalbrüstigen Polizeiautos nichts ausrichten konnten, war mir klar: Hier musst du ´was unternehmen!«

***

Frühlingsgefühle. Die weckte der Schreiblustverlag im April 2019 mit der Aufgabe »Scharfe Sache«. Messer, Sex und Paprika waren die meistverwendeten Zutaten zu den übrigen Einsendungen.

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