Schmunzelmord

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Michael Kothe, Rudolf Georg, Sabine Reifenstahl

Schmunzelmord

25 kriminelle Kurzgeschichten aus dem Münchner Norden ...

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kriminell. Kurzweilig. Sympathisch.

Schmunzelmord

Impressum

Vorstadtmord

Apfelstecher

Bauernschläue

»Vergiss die 5.000 nicht!«

Autohandel

Fahrzeugpanne

Die Drei von der Tankstelle

Süßer Wein

Invasion der Ladendiebe

Fenstersturz

Grabräuber

Entlaufen

Handtaschenraub

Dieb, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her

Weihnachtsfeier

Handgepäck

Tod im Weiher

Polierte Platte

Häusliche Gewalt

Mordswanderlust

Porsche, aus Freude am Sterben

Ba-Ba-Banküberfall

»Zum schmutzigen Löffel«

Zwei Blüten vom gleichen Stamm

Begegnung

Über die Autoren

Michael Kothe

Schubladengeschichten

In Vorbereitung:

Sabine Reifenstahl

Feierabend

Rudolf Georg

Sünde des Schweigens

Impressum neobooks

Kriminell. Kurzweilig. Sympathisch.


Verbrechen wollen unterhalten. Dafür wird schon einmal ein Mord am malerischen Schleißheimer Schloss begangen oder erfährt der Koffer-Klau am Franz-Josef-Strauß-Flughafen eine unerwartete Wendung. Vor allem im Münchner Norden tobt das Verbrechen! Vom Handtaschenraub über Versicherungsbetrug reicht die Palette bis zum Totschlag. In 25 kurzen Kriminalgeschichten verüben liebenswerte Figuren Straftaten, werden Opfer derselben oder klären auf. Jeder Fall ist anders, er lässt den Leser schmunzeln oder treibt ihm Tränen des Mitgefühls in die Augen. Die Kürze bietet Lesevergnügen auch für zwischendurch, …

»… aber es wird selten bei nur einer der prickelnden Geschichten bleiben.» FORUM München Nord, 20.12.2019

»Kothe lässt einen nicht mehr los.« FORUM München Nord, 27.12.2019

»Der Leser soll denken: Hier ist es passiert.« Münchner Merkur, 10.1.2020

Schmunzelmord

25 kriminelle Kurzgeschichten

aus dem Münchner Norden …

… und von anderswo:

je einmal

aus dem Brandenburgischen

und aus dem Schwabenland

Impressum

Verantwortlich: Michael Kothe

Copyright:

Inhalt, Text, Lektorat, Layout, Fotos, Umschlaggestaltung: © 2020 Michael Kothe,

bezüglich der Gastbeiträge:

© Sabine Reifenstahl, © Rudolf Georg.

Autorenfotos:

© Kothe, © S. Reifenstahl, © A. Jurcec

Buchcover der Veröffentlichungen:

© Verlag/Hrsg./Illustrator

Kontakt:

Deutschland: 85716 Unterschleißheim, Friedhofstr. 4

Spanien: 36980 O Grove/Pontevedra

Telefon: 0034 744 480 080

eMail: autor.michael-kothe@gmx.de

Internet: https://autor-michael-kothe.jimdofree.com

Die im Buch beschriebenen Handlungen und die genannten Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten und Namensgleichheiten sind zufällig und unbeabsichtigt. Orte, Straßennamen und Hausnummern wurden auf Grund ihrer Umgebung und Lage gewählt und stehen in keinem realen Zusammenhang mit den geschilderten Fällen. Produkt- und Markennamen sind Eigentum der jeweiligen Rechteinhaber.

Schreibt eure Bewertung im Internet und bei facebook & Co oder schickt sie mir als Mail mit Leserfoto zu Posten auf meiner Homepage und im Internet. Ich freu´ mich drauf.

Vorstadtmord


Es war wohl kurz vor Mitternacht. Seit einer gefühlten halben Stunde hockte er auf dem oberen Treppenabsatz vor der Schlafzimmertüre, bevor er sich nun hinunter traute. Irgendwann musste er ja das Haus verlassen.

Hannes war ein Kleinkrimineller, war geschickt im Taschendiebstahl und vorsichtig bei seinen Wohnungseinbrüchen. Er war ein Weichei, ein Dünnbrettbohrer. Deshalb hatte er sich nie an einem großen Coup versucht. Immer hatte er gründlich auskundschaftet, Schaden vermieden und Beute von so geringem Wert mitgehen heißen, dass die Besitzer sie, wenn überhaupt, erst nach einiger Zeit vermissten. Dann wussten sie schon nicht mehr, wann sie ihre Sachen zum letzten Mal gesehen hatten. Nie hatte er in der Regionalzeitung auch nur eine Zeile über seine Einbrüche gelesen.

Und nun war er in einen Mord verwickelt!

Die Doppelhaushälfte in der Dachauer Karl-Riemer-Straße an der Würm hatte er längere Zeit beobachtet. Die Nachbarn waren für Wochen fortgefahren, sein Wohnungsinhaber, ein älterer Herr, saß regelmäßig bis in die Morgenstunden im unten gelegenen Wohnzimmer vor dem Fernseher, oft genug war er dort eingeschlafen.

Hannes hatte sich durch den von außen nicht einsehbaren Garten geschlichen, der an die Südseite der KZ-Gedenkstätte grenzte, durch den auf Spalt herabgelassenen Rollladen gespäht und sich gefreut, dass alles so war wie erwartet. Den Balkon über dem Wohnzimmer erreichte er nach einem Tritt auf die Regentonne und zwei Griffen ins Geländer schnell, die Balkontür stand wie gewöhnlich zum Lüften spaltbreit offen. In seiner dunklen Kleidung hätte ihn auch dann niemand sehen können, wenn Spaziergänger sich in der kühlfeuchten Herbstnacht noch auf der Straße befunden hätten.

Gerade hatte er lautlos die Schubladen der Schlafzimmerkommode geöffnet und durchsucht. Den Pfiff durch die Zähne verkniff er sich gerade noch. Von den fünf Armbanduhren steckte er nur zwei ein, Markenuhren, aber nicht die teuersten aus der Sammlung. Der Alte würde sie wohl vermissen, aber glauben, er habe sie verlegt.

Es klingelte an der Haustür. Hannes hörte den Sessel des Seniors ächzen, als der sich erhob, und hörte ihn mit einem leisen Fluch zur Tür schlurfen. Das Klingeln wiederholte sich, die Tür wurde geöffnet, der Hausherr stellte eine Frage, und die Tür fiel wieder ins Schloss, wohl recht heftig zugestoßen. Hannes spähte durch die Lochbleche des modernen Edelstahlgeländers und sah, wie der Hausherr rückwärts durch die Diele ins Wohnzimmer gedrängt wurde. Seine Proteste konnte er nicht verstehen.

Sein Herz setzte ein paar Schläge aus, als der Eindringling in seine Richtung nach oben blickte: Er glaubte, sich selbst ins Gesicht zu sehen! Zum Glück widerstand er der Versuchung, sich hastig zurückzuziehen, die Bewegung hätte man von unten aus gesehen. Reglos klebte er am Geländer, überlegte fieberhaft, woher er den Kerl mit der Baseballmütze kannte. Eine Mütze mit dem eingestickten Namen Michael Jordan und einem stilisierten Basketball, sogar den runden silbernen Aufkleber mit dem Hologramm erkannte Hannes. Ein Zeichen, dass der Träger sie offenbar in einem Fanshop erstanden hatte.

 

Im Wohnzimmer entspann sich außerhalb seines Blickfeldes ein erregter Disput, aus dessen Bruchstücken sich Hannes zusammenreimte, es ginge um etwas Persönliches. Dann ein dumpfer Schlag, Rascheln und Schaben, und er sah den Eindringling durch die Diele in Richtung Haustür hasten, die geöffnet und gleich darauf wieder zugezogen wurde.

Endlich raffte sich Hannes auf, schlich die Treppe hinunter, betrat die hölzernen Stufen nur am Rand, weil sie dann weniger knarrten, und stand im Wohnzimmer. Der alte Herr lag seitlich gekrümmt auf dem Teppich, die Blutlache unter seinem Hinterkopf hatte aufgehört, sich weiter auszubreiten. Hannes würgte, seine Blicke streiften hektisch umher, Panik verwirrte seine Gedanken. Nur fort! Rückwärts ging er in die Diele, drehte sich um und wollte durch die Haustür auf die Straße. Nur fort! Die Hand hatte er schon fast auf der Klinke, als ihm das Licht der Straßenlaterne auffiel, das durch den Türspion hereinschien. Er machte kehrt und hatte beinahe die Treppe erreicht, als sein Fuß etwas zur Seite stieß. Instinktiv bückte er sich, hob die dicke Geldbörse auf und ließ sie in die weite Tasche seiner Jacke gleiten.

Ungesehen verließ er das Haus auf demselben Weg, auf dem er sich hineingeschlichen hatte.

Angst packte ihn, hielt ihn den ganzen Heimweg im Griff. Wer war der Mörder, sein Doppelgänger? Hatte der ihn nicht doch bemerkt? Was hatte er von ihm zu befürchten?

Er durchquerte die Arbeitersiedlung, durch die er zu seiner Wohnung musste. Einst schmucklose Reihenhäuser aus den dreißiger Jahren, hatten sie heute durch den Geschmack und die Mühen ihrer Eigentümer eine morbide anmutende Schönheit angenommen. Gepflegte Vorgärten, immer nur ein Handtuch von Grundstück, mit akkurat geschnittener Hecke. Blumenkästen mit Geranien auf den Fensterbänken. Es wurde Zeit, dass die verblühten Pflanzen durch winterharte Heide ersetzt würden.

Der Weg des Erinnerns führte hier hindurch, eine im Jahr 2007 eingeweihte Route zum Gedenken an die Opfer der NS-Zeit. Auf einem Dutzend Schildern wurden die Stationen beschrieben, an denen die KZ-Häftlinge auf ihrem drei Kilometer langen Marsch vom Bahnhof zum Lager vorbeikamen.

Hannes blieb überrascht stehen. Den ganzen Weg lang hatte er gegrübelt, woher ihm der Mörder bekannt vorkam. Als er jetzt den Blick hob, fand er sich vor dem fünf Schritt langen Plattenweg zu einem dieser gleich aussehenden Häuser stehen. Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. Natürlich! Vor diesem Haus hatte er ihn öfter gesehen, hatte sich über die Ähnlichkeit mit ihm gewundert. Bisher hatte es ihn belustigt. Sein Blick wanderte ziellos über die Fassade, die weißen Fensterrahmen aus Holz, die Kachel mit der Hausnummer 29, den Briefkastenschlitz in der Türe und die Klingel mit dem Namensschild.

Der Mörder wohnte hier, ein grober Kerl, wie Hannes selbst Ende zwanzig, aber ein Draufgänger, der ihn schon öfter angepöbelt hatte. Er erschrak und machte, dass er heimkam.

Die folgende Woche war der lokale Blätterwald voll von Berichten über den Mord. Die Polizei tappte im Dunklen, Spuren gab es nicht, die Reporter ergingen sich in Spekulationen.

Viel Geld war nicht in der Börse gewesen, dafür der Personalausweis und mehrere Kreditkarten des Toten. Konnte Hannes damit etwas anfangen? Geld hätte er gut gebrauchen können, sein 450-Euro-Job in der Lagerhalle reichte gerade, die eineinhalb Zimmer in dem heruntergekommenen Anbau zu bezahlen, den er sein Zuhause nannte. Deshalb unternahm er die kleinen Diebestouren. Mit seinen 29 Jahren hatte er nichts erreicht, was er gerne auf seine schwere Kindheit zurückführte. Das gab ihm die angenehme moralische Überzeugung, die Welt sei ungerecht und er der einzig Gute darin. So wunderte er sich auch nicht, als er in sich den Entschluss reifen spürte, den Mörder zur Strecke zu bringen. Dumm nur, dass er nicht als Zeuge auftreten durfte, er hätte sich selbst ans Messer geliefert! Und Beweise hatte er auch nicht.

Ohne recht zu wissen, was er davon zu erwarten hatte, sah er sich in den folgenden Tagen nach der Erfüllung seiner Teilzeitarbeit immer häufiger in der Arbeitersiedlung herumstreunen. Er lungerte in der kleinen Grünanlage an deren Ende herum. Oder er saß mit Schal und hochgeschlagenem Kragen länger, als dafür nötig gewesen wäre, vor seiner Pilstulpe an dem Klapptisch, der zu dem Kiosk in einer Lücke zwischen den Häuserzeilen gehörte. Immer hatte er die Tür des Hauses Nummer 29 im Blick. Seinem Doppelgänger schlich er regelmäßig nach, wenn der ins Freie trat.

Die Baseballkappe schien eine Art Markenzeichen zu sein, sein gesamtes Auftreten war darauf ausgerichtet. Der Mörder trug eine dieser aus der Mode gekommenen mehrfarbigen Collegejacken, rote Jeans und elegante Sneakers. Sein ausladender Gang sollte ihn sportlich scheinen lassen. Er sah ungepflegter als Hannes aus.

Nach zwei Wochen kannte Hannes seine Gewohnheiten. Und er hatte eine Idee!

Die Baseballkappe hatte ihn im Fanshop fast sein ganzes Bargeld gekostet, die Collegejacke hatte er am Wochenende auf dem Flohmarkt für einen schmalen Taler erworben. Jeans und Turnschuhe hatte er selbst. Darauf, dass die Hose nicht rot, die Turnschuhe dafür knallbunt waren, würde niemand achten.

»Bitte, was kann ich für Sie tun?«

Hannes schreckte aus seinen Gedanken, als er die freundliche Stimme von der anderen Seite des Tresens her hörte. Mit der hübschen Bankangestellten hätte er gern etwas angefangen, aber erstens war er kein Frauenheld, und zweitens hatte er eine Aufgabe zu erledigen.

Auf die konzentrierte er sich.

»Tobias Hachenberger ist mein Name«, stellte er sich vor. Den Nachnamen hatte er auf dem Klingelschild der Nummer 29 gelesen, den Vornamen im Telefonbuch als den des einzigen Hachenbergers in der Stadt. »Ich soll für meinen Onkel Geld abheben, habe aber am Geldautomaten dreimal wohl die falsche PIN eingetippt. Jetzt hat der die Karte geschluckt, und ich stehe ohne Geld und Karte da. Können Sie mir helfen?«

Immer wieder hob er nervös den Kopf, schaute mit unstetem Blick in die Überwachungskamera, wartete auf die Reaktion der Angestellten.

»Aber natürlich, gern. Können Sie sich ausweisen?«

»Äh, ja sicher. Mein Onkel hat mir seinen Ausweis mitgegeben.«

Er zog die Sporttasche von seiner Schulter, fingerte aus der Börse darin die Plastikkarte und legte sie auf den Schaltertisch. Es war etwas umständlich mit der linken Hand, an der er immer noch den dünnen Handschuh trug. Aber so hinterließ er keine Fingerabdrücke, und bei dem Schmuddelwetter war es auch nicht auffällig. Den rechten Handschuh hatte er beim Eintreten abgestreift, er hielt ihn in der Hand. Offensichtlich interessierte sich die junge Frau für das Tattoo auf seinem Handrücken.

»Einen Moment, bitte.«

Die Frau nahm den Ausweis an sich und trat einige Schritte vom Schalter zurück. Hannes sah, wie sie sich, halb verdeckt von der fast deckenhohen Zimmerpflanze, die dem Schalterraum etwas von seiner nüchternen Atmosphäre nehmen sollte, mit einem jungen Mann beriet. Ab und zu beugte sie sich zurück und lächelte Hannes zu, bat ihn so um Verständnis für die Verzögerung.

Als sie in Begleitung des Kollegen auf den Schalter zutrat, drehte sich Hannes abrupt um und verließ schnellen Schrittes die Schalterhalle, hastete durch den Vorraum, in dem der Automat die Kreditkarte erwartungsgemäß nicht mehr hergegeben hatte, und trat nach einem letzten Blick in die Überwachungskamera über dem Automaten durch die Schiebetür gegenüber dem Dachauer Bahnhof ins Freie.

Bevor die Bankangestellten auf der Straße waren und sich suchend umblickten, war Hannes in den Eingang des benachbarten Haushaltswarengeschäftes geschlüpft. Den Laden hatte er für das Ablegen seiner Verkleidung ausgesucht, weil die Tür zum Geschäft weiter innen lag und die Schaufenster davor ihn gegen die Straße abschirmten. Er nahm die Schildmütze ab, zog seine Jacke aus und stopfte beides in die Sporttasche, die er sich wieder über die Schulter warf. Aus der Vortasche des Sportbeutels zog er nun einen Einmalrasierer und schabte sich den Dreitagebart aus dem Gesicht. Mit seinem Taschentuch wischte er anschließend die nachgemalten dunklen Augenbrauen wieder auf ihre natürliche helle Farbe und rieb sich mit Spucke die schwarze Filzstiftzeichnung vom Handrücken. Dann zog er die Handschuhe an und war wieder er selbst. Wenige Minuten später nahm er Aufstellung neben dem Eingang zur Bank, hielt sich außerhalb des Überwachungsbereichs der Kamera.

Wie jeden Freitag um viertel nach elf war Tobias Hachenberger auch diese Woche pünktlich. Hannes stieß sich von der Hauswand ab und provozierte eine kleine Rempelei. Tobias pöbelte zwar, aber diesmal machte sich Hannes nichts daraus. Vielmehr nutzte er die Ablenkung, um ihm die Geldbörse des Mordopfers in die Sporttasche gleiten zu lassen. Er schmunzelte, schließlich hatte der sie nach dem Mord bestimmt nicht absichtlich auf den Boden fallen lassen, nun hatte er sie wieder. Er murmelte eine Entschuldigung und lehnte sich wieder an die Wand, als der Mörder sich in die kurze Schlange am Geldautomaten einreihte.

Der unauffällige Opel fuhr mit zwei Rädern auf den Bürgersteig und hielt direkt vor der Bankfiliale. Zwei Männer sprangen auf der Beifahrerseite heraus, der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus und schickte sich an, ihnen nachzugehen. In diesem Moment sah Hannes die Bankangestellte ihnen aus der Tür entgegeneilen.

»Er ist wieder da. Wie jeden Freitag um die Zeit. Er ist jetzt am Geldautomaten.«

Alle vier betraten den Vorraum zur Schalterhalle. Ihre Bewegungen in dem kleinen Raum hielten den Bewegungssensor beschäftigt, sodass die Schiebetür offen blieb und sich Hannes ein kleines Hörspiel bot, das ein Unbeteiligter kaum verstanden hätte.

»Herr Hachenberger?«

»Ja, was ist?«

»Kriminalpolizei. Sie sind vorläufig festgenommen wegen des Verdachts, Herrn Heinrich Wagner ermordet zu haben. Folgen Sie uns bitte zum Wagen!«

»Wagner? Kenn´ ich gar nicht!«

»Sie haben doch seinen Ausweis und seine Kreditkarte gehabt. Vorhin« – Hannes erkannte die Stimme der Angestellten – »haben Sie das Portemonnaie wieder in Ihre Sporttasche gesteckt.«

»Dürfen wir mal sehen?« Eine ungeduldige Männerstimme. »Ach, sieh an! Und Sie kennen Herrn Wagner nicht? Jetzt lassen Sie den Automaten in Ruhe, Sie brauchen heute wirklich kein Geld mehr. Und nun kommen Sie endlich mit!«

Hannes hörte ein metallisches Klicken. Befriedigt drehte er sich um und ging die Einkaufsstraße entlang zu dem Café an der Ecke Bahnhofstraße und Gröbmühlstraße, in das er sich der Preise wegen nie getraut hatte. Heute aber hatte er sich eine heiße Schokolade wirklich verdient.

Apfelstecher

Das zweite Opfer innerhalb einer Woche!

Christine schaute vom Schleißheimer Anzeiger auf, einer kostenlosen Regionalzeitung des Münchner Nordens, die sich durch Werbung und Kleinanzeigen finanzierte. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie hochrechnete, wann bei dieser Rate die Bevölkerung von Unterschleißheim ausgelöscht sei. Bei 31.000 würde das ganz schön lange dauern! Etwas erschrocken über ihre makabren Gedanken widmete sie sich wieder dem Bericht in dem dünnen Blatt.

Am Freitag war ein Fünfzehnjähriger erstickt. Mit geschwollenem Rachen genau wie davor am Mittwoch diese Rentnerin. Wespengift. Kamen die asiatischen Wespen jetzt schon bis nach Oberbayern? Christine war erschüttert. Der Reporter hatte sie sensationslüstern als „Killerbienen“ bezeichnet und damit den drei Zentimeter langen schwarzen Insekten mit dem besonders harten Chitinpanzer Unrecht getan. Bei den Obduktionen waren keine Einstiche im Mund oder sonstwo gefunden worden. Auch hatten andere Bewohner der kleinen Stadt im Norden des Dreiecks zwischen den Autobahnen A9, A92 und A99 unter Erstickungsanfällen oder zumindest einem geschwollenen Rachen gelitten, aber nichts davon berichtet, sie hätten mit Insekten zu tun gehabt.

Christine beugte sich vor, griff blind in die Obstschale in der Tischmitte und lehnte sich mit dem Apfel in der Hand wieder zurück, wollte weiterlesen. Ein herzhafter Biss in das frische Obst würde ihre Müdigkeit vertreiben, der Saft sie erfrischen. Bei der schwülwarmen Sommerluft, die sich durch die Balkontüre in ihr Wohnzimmer drängte, eine Wohltat. Kaum jedoch durchdrangen ihre Zähne die knackige Schale des rotgelben Fuji, setzte sie sich ruckartig wieder auf, riss die Arme hoch und warf Zeitung und Apfel in entgegengesetzte Richtungen von sich. Urplötzlich hatte sie dieses pelzige Gefühl am Gaumen, das sich rasend schnell im Mund bis hinter den Rachen verbreitete und ihr die Kehle zuschnürte.

 

Sie sprang von ihrem Stuhl in der Essecke auf, hastete in die Küche und hielt den Mund unter den Wasserhahn. Der erste Schluck war lauwarm, aber schnell war das abgestandene Wasser aus der Leitung abgelaufen, frisches, kaltes floss nach. Christine hangelte das Geschirrtuch vom Griff des Backofens, auf dem es hatte trocknen sollen, hielt es unter den kühlen Strahl und schlang es sich um den Hals, zwang die Schwellung zurück. Obwohl alles keine halbe Minute dauerte, kam es ihr wie Ewigkeiten vor, bis sie wieder atmen konnte.

»Geronimo«, rief Christine schon, bevor sie den Obst- und Gemüseladen ganz betreten hatte, »was ist mit deinem …« Sie brach mitten im Satz ab, als sie in das verstörte Gesicht des Inhabers schaute.

»Guillermo, Wilhelm«, hatte er sie verbessern wollen, einem eingespielten Ritual zufolge.

Guillermo war nicht nur Christines Obsthändler ihres Vertrauens, sie waren auch Vertraute. Nach dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren hatte er mit seiner Tochter den kleinen galizischen Küstenort San Vicente auf der hundekopfförmigen Halbinsel O Grove im Atlantik zwischen La Coruña und der portugiesischen Grenze verlassen, um sich in Oberbayern, wo er einen ebenfalls spanischen Freund hatte, niederzulassen. Pepe aus Valencia führte im Unterschleißheimer Industriegebiet einen gutgehenden Obst- und Gemüseimport. Trotzdem kaufte Guillermo alles, was auch Süddeutschland hergab, lieber auf dem Münchner Großmarkt. Er wollte der Umwelt etwas Gutes tun, Transportwege vermeiden und Produkte der Region verkaufen.

Geronimo war zwischen den beiden sein Spitzname geworden, da Christine bei ihrem ersten Treffen seinen Namen nicht behalten hatte und ihn beim zweiten Rendezvous wie den vor über hundert Jahren verstorbenen Kriegshäuptlings der Apachen angesprochen hatte.

Heute aber war ihm die Lust auf das Ritual gründlich vergangen. Es war Dienstag, der einzige Arbeitstag der Woche, an dem Christine nicht zu arbeiten brauchte. »Nicht in die Schule zu gehen«, wie sie sich immer ausdrückte. Seit letztem Dienstag hatten sie sich nicht mehr gesehen, eigentlich freute er sich über ihr Erscheinen, aber etwas lag ihm an diesem Vormittag schwer im Magen.

Noch früher war die Polizei in seinem Laden erschienen, nicht die uniformierten Gesetzeshüter aus dem Kommissariat im benachbarten Oberschleißheim, sondern die Kriminalpolizei aus dem Polizeipräsidium München, und das in Begleitung zweier Herren des Kreisverwaltungsreferats der Landeshauptstadt, Abteilung Lebensmittelüberwachung. Eine halbe Stunde hatte die Befragung gedauert, Guillermo war schweißgebadet, als sie den Laden wieder verließen. Sieben Kisten Äpfel hatten sie abgefahren, seinen gesamten Vorrat.

Christines Anrede konnte ihn nicht ansatzweise aufheitern.

»Irgendetwas ist mit deinen Äpfeln«, hörte er Christine sagen. Sie beschrieb ihm das pelzige Gefühl an Gaumen und im Rachen, lebte ihm ihren Erstickungsanfall in Gesten noch einmal vor. Auf diese Symptome hatten ihn auch die Kriminalbeamten angesprochen, und die Herren von der Lebensmittelkontrolle vermuteten einen Pilz. Dem widersprachen die Kriminologen im Hinblick auf die vorliegenden forensischen Erkenntnisse vehement, und man war erst wieder einer Meinung, nachdem sie die Obstkisten in dem kleinen Kombi verstaut hatten.

Christine hing an seinen Lippen, als er ihr von den Klagen einiger Kunden erzählte, denen die Äpfel zugesetzt hatten. Er wusste, dass es ein hartnäckiges Gerücht war, Allergiker würden grüne Äpfel nicht vertragen. Und Fuji – grüne Äpfel? Er hatte ihnen nicht widersprochen, weil ihm das Wespengift als Ursache aus der Presse schon bekannt gewesen war, er aber seine Kunden nicht dadurch vergraulen wollte.

»Jemand hat meine Äpfel vergiftet!« Guillermo war den Tränen nahe, seine Rede kam stockend, manchmal versagte ihm für einige Augenblicke die Stimme. »Zuerst hatte ich den neuen Inhaber des kleinen Supermarktes am Ende der Bezirksstraße im Verdacht, dachte, dass er seine Konkurrenz aus dem Geschäft drängen wollte. Dann aber fiel mir der Junge auf, der immer wieder nach der Schule vor meinem Laden herumlungerte, mal direkt neben dem Eingang, mal auf der anderen Straßenseite genau gegenüber. Der hatte mit Sofía Magdalena anbandeln wollen. Mein Gott, sie ist erst zwölf! Ich hatte ihn zur Rede gestellt und hab´ ihm den Kopf gewaschen. Das war vor zwei Wochen, und letzte Woche erwisch´ ich ihn, wie er mir in der Auslage draußen faule Äpfel in die Kisten schmuggelt!«

Was Guillermo Christine nicht erzählte, war, dass er den Halbwüchsigen am Freitag gestellt hatte, als der die Hand in einer der Obstkisten hatte. Er hatte ihn in den Laden gezerrt, ausgeschimpft und anschließend gezwungen, drei Äpfel zu essen. Fuji. Als der Junge sich an den Hals fasste und nach Luft zu schnappen begann, hatte er ihn auf die Straße geschoben. Schwankend hatte er noch die Fassaden dreier Geschäfte passiert, dann war er zusammengebrochen. Guillermo war hinzugesprungen, nachdem er bis zum letzten Augenblick in seiner Ladentür gewartet hatte. Er hatte die verdrehten Augen des Jungen gesehen, das blau anlaufende Gesicht, und spät genug den Notarzt gerufen. Der Junge wurde das zweite Opfer seiner Fuji. Das, fand Guillermo, war eine gerechte Strafe, denn immerhin, davon war er überzeugt, hatte der Junge die Äpfel vergiftet, um ihm eins auszuwischen, weil er ihm den Umgang mit seiner Tochter verboten hatte.

Seine Tochter … Guillermos Gedanken schweiften zu der Zwölfjährigen. Sofía Magdalena. Ein schöner Name. Damals war er nicht nur glücklich gewesen über die Geburt seiner Tochter, sondern auch stolz darauf, sich seiner Frau gegenüber durchgesetzt zu haben, die die Neugeborene Maria Irgendetwas taufen lassen wollte. Guillermo war entsetzt, denn schließlich hieß jede zweite Spanierin Maria Irgendetwas, was regelmäßig, der Unterscheidbarkeit zuliebe, in etlichen Namenszusammenziehungen verballhornt wurde. Sofía Magdalena war etwas Besonderes, die diesen Standard nicht verdiente, wie sie später und auch heute noch täglich bewies. Intelligent, Klassenbeste, interessiert besonders am Schwierigen, hatte sie ausgerechnet Biochemie zu ihrem Lieblingsfach erkoren. Es machte ihn stolz, wenngleich auch ein wenig hilflos. Wenn sie davon schwärmte, was man mit einfachen Mitteln alles bewerkstelligen konnte, war er nicht in der Lage, ihr zu folgen.

Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen.

»Herr Fernandez García?« Der Mann druckste herum, beugte sich mal vor und mal zurück und wiegte den Oberkörper hin und her. Die Unsicherheit in Person.

»Ja, bitte.«

Nun erst bemerkte Guillermo auch die Frau mittleren Alters, die sich mit gedämpfter Stimme mit Christine unterhielt. Er kannte sie vom Sehen, eine ihrer Kolleginnen, ebenfalls Lehrerin am Carl-Orff-Gymnasium.

Der Mann stellte sich als Leiter der Schule vor, die Dame sei in seinem Lehrerkollegium, sein weiterer Begleiter der Seelsorger der St. Ulrich-Kirche hinter der Le-Cres-Brücke. Guillermo blickte ratlos zwischen den drei Besuchern hin und her.

»Können wir reingehen?« Beinahe panisch schaute der Oberstudiendirektor in die Runde.

Mit einer Handbewegung drängte Guillermo die kleine Gruppe in den Laden, er folgte und zwängte sich an ihnen vorbei. Der Ladentisch sollte ihm als Bollwerk dienen, denn für heute hatte er genug von unerwartetem Besuch. Diesen konnte er aber nun nicht mehr abwehren. Der Seelsorger schloss die Ladentür und dreht das kleine Plastikschild an der Kette von Geöffnet auf Geschlossen. Dann wandte er sich Guillermo zu.

»Herr Fernandez García«, begann er, »es ist wegen ihrer Tochter.« Er schaute hilflos zur Lehrerin neben sich, rieb fahrig eine Hand in der anderen.

»Sie hatte eine Freistunde und war allein in einem Klassenzimmer«, nahm Christines Kollegin das Wort. »Als wir sie gefunden haben, war sie schon, war sie schon … tot. Der Notarzt sagt erstickt. Neben ihrem Rucksack, dem Pausenbrot und dem angebissenen Apfel lag ihr Block.« Ihre Stimme bebte. Sie reichte ihm mit unsicherer Hand das kleine Ringbuch.

Auf der aufgeschlagenen Seite erkannte er die Schrift seiner Tochter. Ihre letzten Gedanken, niedergeschrieben in ungewohnt zittriger Handschrift:

Papa,

ich hab nicht gewollt, dass jemandem was passiert. Ich wollte nur, dass du deinen Laden schließt und mit mir wieder nach San Vicente ziehst.

Ich hab dich lieb.

Sofía Magd

Sein Herz setzte aus. Sofía Magdalena aß nie Fuji. Aber als er ihr heute Morgen das Pausenbrot zubereitete, hatte er in diese Kiste gegriffen, weil er von ihren Lieblingsäpfeln keine mehr hatte.