Rattentanz

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»Und er hatte nichts bei sich, keine Jacke, keine Tasche oder einen kleinen Koffer in der Nähe?«

»Nein Vater, hab ich dir doch jetzt schon hundert Mal gesagt: da war nichts. Außerdem, so wie das da oben aussieht, könnte man keinem irgendein Gepäckstück zuordnen.«

»Außer, man findet einen Reisepass oder Führerschein oder so. Irgendwas mit Bild und Namen eben.«

Das Fleisch war durch und sie setzten sich zu Herrn Mittwoch an den Tisch. Frieder fand den Namen nicht schlecht.

»Irgendwie tut er mir leid«, sagte Susanne. »Schaut ihn euch doch mal an. Er sieht gepflegt aus, wie ein feiner Herr und … schlau und irgendwie klug. Und wir nennen ihn Herr Mittwoch! Vielleicht war er Arzt oder ein Lehrer?«

»Vielleicht, vielleicht, vielleicht.« Faust schüttelte den Kopf. »Ich finde, Herr Mittwoch passt. Und wenn alles gut geht, verrät er uns ja, bevor er morgen abgeholt wird, seinen wirklichen Namen. Und jetzt esst!«

Sie stürzten sich auf das Essen und Faust merkte erst jetzt, wie viel Kraft ihn dieser Tag gekostet hatte. Dies war wirklich kein Tag für schwache Nerven und erst recht keiner für schwache Männer. Wie sie ihm alle zugehört hatten in der Krone. Und gestarrt und geklatscht, als ob das Verbuddeln der Leichen auf dem Hardt so wichtig wäre. Aber es beschäftigte die Menschen, gab ihnen etwas zu tun, dachte Faust. Es wird den Schwachen helfen, die Stunden bis zum Eintreffen der Rettungsmannschaften heil zu überstehen.

»Will er nichts?«, fragte Bubi und streckte die Hand nach dem unberührten Steak aus, das vor Assauer langsam kalt wurde.

»Finger weg!« Faust schlug seinem Sohn mit der Gabel auf den Handrücken. »Wenn er nicht essen kann, muss es ihm eben einer ge ben.«

»Darf ich das machen, bitte!«, bettelte Lea und stand schon neben Assauer. Faust schnitt das Fleisch klein und gab Lea die Gabel.

»Aber sei vorsichtig Lea!«, mahnte Faust. Susanne war nicht wohl bei dem Gedanken, dass Lea einen Kranken füttern sollte. Aber ihr Mann, dem der Zweifel in ihrem Blick auffiel, versuchte sie zu beruhigen.

»Lea kann das, stimmts? Bist schließlich kein Baby mehr!«

Lea nickte und hielt Assauer die Gabel mit einem ersten Fleischbrocken an die Lippen. Bereitwillig öffnete der den Mund und ließ sich von Lea füttern.

»Seht ihr, ich kann es, ich kann es!«

»Der ist doch bloß zu faul zum Essen, wollen wir wetten?« Bubi taxierte jeden Bissen den Assauer nahm und ärgerte sich, den Mann mitgebracht zu haben. Als ob die Bilder nicht gereicht hätten! »Wann kommt nur dieser blöde Strom wieder? Vater, ich muss die Bilder an die Sender mailen.«

»Keine Ahnung, Bubi. Aber eines weiß ich: Wenn du noch lange deine Fotos anschaust und die Kamera alle paar Minuten an- und wieder abstellst, ist der Akku bald leer. Aber dann ist wenigstens Ruhe.«

Erschrocken – an den Akku hatte er bisher keinen Gedanken verschwendet – legte Bubi die Canon zur Seite.

»Nachher fahr ich noch nach Bonndorf. Willst du mitkommen oder«, Frieders Blick fiel auf Lea und Assauer, »soll ich uns vielleicht etwas mitbringen vom Aldi?«

»Oh, ich weiß nicht. Vielleicht ein Brot und Butter. Den Rest müssten wir noch dahaben.«

»Haben wir von allem genug? Wer weiß schon, wie lange das jetzt so weitergeht. Na, ich bringe mit, was ich kriegen kann. Ein paar Vorräte können nie schaden!«

»Meinst du, wir werden Vorräte brauchen?« Susanne wirkte mit einem Mal noch besorgter. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, dass sich bis morgen oder spätestens übermorgen alles wieder geregelt haben würde, der Strom zurückkäme und Wasser, Telefon und Fernsehen wieder funktionierten.

»Was weiß denn ich«, erwiderte Faust und trank sein Bier leer.

»Aber bestimmt werde ich nicht hier hinter meinem Haus sitzen bleiben und darauf warten, dass sich irgendwer um mich kümmert. So eine Einstellung würde dir übrigens auch ganz gut stehen, mein Sohn«, aber Bubi lächelte nur müde.

Faust stand auf und zog sein Hemd über. »Komm Bubi, wir fahren.«

»Nein Vater, ich bleib hier, vielleicht kommt gerade jetzt der Strom wieder!«

Aber Faust blieb hart. »Nichts da, du kommst mit. Ist schließlich auch für dich oder lebst du ab sofort nur noch von Luft und deinem unerlebten Erfolg als Reporter?«

17:58 Uhr, Bonndorf

Faust und Bubi bogen auf den Aldi-Parkplatz in Bonndorf ein. Der weite Platz war leer und die großen Glastüren des Supermarktes, auf denen rote Stoppschilder und blaue Pfeilaufkleber den Einbeziehungsweise Ausgang klar definierten, hatte jemand eingeschlagen. Vorsichtig stiegen sie über die Scherben und gingen in die Halle, die in mystischem Halbdunkel lag. Die Wand an der schmalen Stirnseite, da, wo sich die Eingänge befanden, bestand komplett aus Glas. Die vier Kassen und die Flure, rechts und links von mannshohen Regalen gesäumt, sahen ungewohnt aus, so ganz ohne Neonbeleuchtung, nur auf das angewiesen, was das Tageslicht hergab. Aber hier, nur wenige Schritte vom Fenster, reichte die Helligkeit noch aus, um Details und Kleinigkeiten zu erkennen. Aber mit jedem Schritt, den Faust und sein Sohn langsam in die Halle vorstießen, wurde es schummriger. Die gegenüberliegende Stirnseite verschwand fast völlig im Dunkeln.

Die sonst zum Bersten vollen Regale waren fast komplett leer. Am Boden lagen vereinzelt leere Packungen.

»Hallo? Ist da jemand?« Faust schrak vor dem Klang seiner Stimme zurück, welcher der hohe Raum eine ungewohnte Farbe gab.

»Wen interessiert das?« Hinter einer der Regalreihen kam eine ältere Frau hervor, in einer Hand eine Flasche Olivenöl, die sie drohend über dem Kopf schwang. »Ist eh schon alles weg und das hier«, sie versteckte eine volle Tasche hinter ihrem Rücken, »das bekommt ihr nicht!«

Gegen zehn an diesem Vormittag, vor dem Geschäft hatten sich weit über Hundert Menschen versammelt, weigerte sich die Marktleiterin noch immer die Türen zu öffnen. Ohne Strom − und damit ohne Kasse − ginge nichts.

Einige potenzielle Kunden waren anderer Meinung. Ein junger Mann beendete schließlich kurzerhand die nervigen Diskussionen, indem er mit seinem leeren Einkaufswagen zwölf Meter zurückging, »Platz da!« schrie und dann den Wagen mit voller Wucht gegen die verschlossene Glastür rammte. Im vierten Anlauf zersprang die Tür, während der Ausgang inzwischen von anderen Kaufwilligen auf die gleiche Weise bearbeitet wurde.

Die Marktleiterin hatte vergeblich versucht, die Plünderer zurückzuhalten. Sie wurde zur Seite gedrängt und musste hilflos mit ansehen, wie eben die Menschen, die gestern noch friedlich und immer zu einem kleinen Plausch bereit bei ihr und ihren Kolleginnen an den Kassen gestanden hatten, ihren Aldi in Bonndorf nach und nach leer räumten. Die kleine Polizeistation der Stadt, nur knappe einhundert Meter entfernt, wo sie sich schließlich Hilfe erhoffte, lag verlassen da. Nachdem beide Polizisten kurz nach dem ersten Flugzeugabsturz ausgerückt waren und nie wieder erschienen, hatte die zurückgelassene Sekretärin ihre Handtasche gepackt und war gegangen.

Faust und Bubi tasteten sich weiter durch die Gänge, während die alte Frau eilig verschwand. Sie hatte recht − hier war kaum noch etwas zu holen! Konserven, Lebensmittel und Getränke waren bis auf den letzten Rest geplündert. Jemandem musste im Kampf um die Waren eine Flasche Essig runtergefallen sein, denn je weiter sie sich vorarbeiteten, desto beißender und intensiver stieg dessen Geruch in ihre Nasen.

»Komm Vater, lass uns verschwinden, hier gibt es nichts mehr zu holen!« Faust nickte.

Sie verließen den Laden mit einer Tüte Salz, zwei zerbeulten Leberwurstkonserven und einer Flasche billigem Korn, die unter eine Palette gerollt war. »Na, wenigstens was«, freute sich Faust, als er die Flasche fand.

Der Anblick, der sich ihnen bot, als sie sich mit ihrem Pick-up langsam durch die Stadt quälten, war die logische Fortsetzung dessen, was bei Aldi begonnen hatte. Überall waren Menschen auf den Straßen der Kleinstadt und trugen aus Geschäften, deren Türen man gewaltsam geöffnet hatte, wahllos weg, was sie tragen konnten. Ein Mann kam gerade aus Müllers-Kleider-Boutique, im einen Arm eine frühsommerlich bekleidete Schaufensterpuppe, im anderen einen Packen Damenunterwäsche. Das Schaufenster des noblen Geschäftes war eingeschlagen und die Kasse fehlte.

Der kleine Tabakladen drei Straßen weiter bildete keine Ausnahme. Im Gegenteil, er war eines der ersten Ziele der Plünderer dieses Tages gewesen. Das altertümlich wirkende grüne Schiebegitter, das der alte Besitzer jeden Abend bedächtig schloss und das er sich standhaft weigerte zu ölen, lachte, mit halb offenem, verbogenem Gittermund und lud in einen restlos leeren Laden ein. Zigaretten, Zigarren, Tabak –alles war weg. Und an die Spirituosen erinnerten nur noch saubere Kreise auf staubigen Regalböden.

Die beiden anderen Supermärkte Bonndorfs schienen Geschwister des ersten zu sein. Bubi und Faust statteten dennoch jedem Geschäft einen Besuch ab, aber außer einer weiteren Flasche Schnaps und einem halbem Dutzend Konserven, die sie vor einem der Märkte in einem vergessenen Einkaufswagen fanden, gingen sie leer aus.

Auch Bonndorf hatte sich innerhalb weniger Stunden in einen gesetzlosen Raum verwandelt. Wenn das in einer Kleinstadt mit dreitausend Einwohnern möglich war, in einer Stadt, in der fast jeder jeden kannte und man sich auf den Straßen grüßte, wie würde es dann jetzt erst da aussehen, wo Anonymität und Egoismus Überlebensmaxime waren – in Großstädten wie Stuttgart, Zürich oder Berlin?

18

18:08 Uhr, Wutachschlucht

Frederick Fehrenbach aus Bonndorf starb zwei Stunden nachdem er Bekanntschaft mit einen perfekten Herzinfarkt machen durfte. Bis dahin hatte er mit Aktien gehandelt. Nur für sich und ausschließlich mit seinem Geld. Ende der Neunzigerjahre – nicht wenige häuften in kürzester Zeit mit den Emissionen des Neuen Marktes Vermögen an – gehörte er zu den Ausnahmefällen, welche ihre Aktienreichtümer auch noch nach dem Zusammenbruch der Spekulationsblase besaßen. Seitdem handelte er vom heimischen PC aus. Er kaufte und verkaufte, löste Optionen ein und bescherte sich, seiner Frau und Louis, dem elfjährigen Sohn, ein sorgenfreies Leben.

 

Er war den ganzen Vormittag wieder und wieder zu seinem Laptop und ans Telefon gegangen. Die Hoffnung, eines von beiden könnte wie der funktionieren, wurde schwächer und schwächer. Am Nachmit tag löste er dann sein zwei Jahre altes Versprechen ein und startete mit seinem Sohn zu einer Radtour. Sie wollten am Ufer der Wutach grillen.

Louis sah den faustgroßen Stein nicht, der ihm bei der rasanten Serpentinenabfahrt den Lenker verriss. Mit vor Überraschung und sprachloser Angst weit aufgerissenen Augen flog er über das Vorderrad. Mit der rechten Schulter prallte er gegen den runzligen Stamm einer hundertjährigen Tanne. Als er den steilen Hang hinunterstürzte und mit dem Hinterkopf gegen einen Felsvorsprung schlug, verstummten seine Schmerzensschreie schlagartig. Er verlor das Bewusstsein und schlitterte ohne Reflexe und Widerstand die verbleibenden vierzig Meter bis zum Grund der Schlucht. Auf diesen vierzig Metern schlug er sich sieben Zähne aus und brach sich Nase, Jochbein und beide Arme. Mit dem Gesicht nach oben blieb er bewusstlos am Ufer der Wutach liegen und es dauerte nicht lange, bis erste Fliegen an seinen frischen Wunden kosteten.

Frederick Fehrenbach ließ sein Mountainbike am Straßenrand liegen und rutschte seinem Sohn hinterher. Beim Versuch, das Kind zurück zur Straße zu tragen, erlitt er besagten Herzinfarkt. Der plötzliche und völlig unerwartete Schmerz ließ ihn wie ein Taschenmesser zusammenklappen. Er tastete nach seinem Handy und wählte den Not ruf. Die Grabesstille, die ihm aus dem Apparat entgegenschlug, seine Schmerzen und der Anblick des Sohnes, der langsam Zentimeter um Zentimeter den Hang, den ihn sein Vater hinaufgeschleppt hatte, zurückglitt, machten ihn rasend. Hilflosigkeit, wie er sie, der die Sicherheit der Moderne und deren Techniken gewohnt war, niemals für möglich gehalten hätte, kletterte von den Fußsohlen kommend empor und paarte sich mit nackter Angst.

Er starb mit dem Telefon in der Hand neben seinem Sohn. Louis folgte ihm knapp drei Stunden später, ohne noch einmal das Bewusst sein erlangt zu haben.

19

18:17 Uhr, Wellendingen, Kuhstall Familie Albicker

Sollten Kühe eine Seele besitzen, so waren sie jetzt dabei, sich diese aus dem Leib zu schreien. Nachdem der Stromausfall das morgendliche Melken unterbrochen hatte und inzwischen bereits die Zeit für das Abendmelken näher rückte, waren die Euter der etwa vierzig Tiere prall mit Milch gefüllt. Ihr Brüllen war nicht mehr das knarrend tiefe Muh, das sie von sich gaben, wenn sie zufrieden und satt wiederkäuend im Stroh lagen. Sie schrien, weil sie Schmerzen hatten, unerträgliche Schmerzen, niemals zuvor erlebte Schmerzen! Mit gespreizten Hinterbeinen standen sie in dem offenen Stall, in dem sie sich vierhundert Quadratmeter mit dreißig Kälbern und einer stets wechselnden Katzenpopulation teilten.

Wenn er äußerlich auch nicht den Anschein erweckte, so war Albickers Hof doch ein moderner Hochleistungsbetrieb, in dem die Tiere, sobald sie ihr erstes Kalb geworfen hatten, den Regeln einer effizienten Milchproduktion unterlagen und Tageslicht nur noch durch die kleinen Stallfenster sahen. Es war billiger, das Grünfutter zu mähen und den Tieren mit einem Ladewagen in den Stall zu werfen, als sie am Morgen auf die Weide zu treiben und am Spätnachmittag wieder zu holen.

Sie standen eng gedrängt am Eingang zur Melkstraße und brüllten, brüllten, dass die Schwalben, im Anflug auf ihre Nester, die an den Balken der Stalldecke klebten, erschraken, abdrehten und irritiert über dem Stall kreisten. Das ab einer bestimmten Größe der Landwirtschaft durchaus übliche Notstromaggregat hatte Andreas Albicker immer mit Vehemenz abgelehnt. Zu teuer. Wann fällt der Strom denn schon mal länger als zwei, höchstens drei Stunden aus?

Heute, am 23. Mai zum Beispiel.

Albicker saß auf einem kleinen Schemel und versuchte, ein widerstrebendes Tier von Hand zu melken. Sie hatten Mühlviertler-Rinder, große und kräftige Tiere, robust, braun-weiß, wobei die massigen Köp fe fast immer weiß waren. Auch Lydia Albicker saß neben einem angebundenen Tier. Der Eimer unter dem Euter war zur Hälfte gefüllt, aber noch immer schrie das Tier und trat nach der Bäuerin, denn der Schmerz, den es ertragen musste, verbunden mit dem ungewohnten Melkvorgang von Hand, verwirrten das Tier und machten ihm Angst.

Lydia war wütend. Wütend auf all die Technik, die nicht funktionierte, wütend auf die widerspenstigen Tiere, vor allem aber wütend auf ihren Mann. Denn er hatte das Aggregat abgelehnt und er war jetzt, nach seinem Schlaganfall im vergangenen Jahr, keine große Hilfe. Sie sah zu ihm hinüber. Da saß er auf seinem Schemel, eine Hand im Schoß, und versuchte mit der gesunden Rechten zu melken. Er sah wie ein gelangweilter Großstädter aus, der, nach dem Motto »Was-machen-wir-heute-Lustiges?«, aufs Land gefahren war um da den Dorftrotteln zu zeigen, wie cool melken sein kann. Und für den, der nichts von seiner geschwächten linken Körperhälfte wusste, sah er wirklich cool und lässig aus.

Nach der Reha, die sich seinem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt angeschlossen hatte, war es ihm schwergefallen, auf dem Hof wieder zurechtzukommen. Die Traktoren waren tabu, der Mähdrescher auch, die Mistgabel konnte er nicht mehr halten und als er im April die Koppel der Kälberweide reparieren wollte, musste er einen Bengel aus der Nachbarschaft mitnehmen, der vor Angst zitternd die Pfosten hielt, die Albicker einhändig mit einem Vorschlaghammer in den Boden schlug. Er durfte und konnte nicht mehr Auto fahren, benötigte Lydias Hilfe beim An- und Ausziehen und brauchte eine halbe Ewigkeit, um die schmale Holzstiege, die vom Stall auf den Heuboden führte, zu erklimmen. Lydia hatte ihn am Ärmel gepackt und wieder hinuntergeführt. Sie machte ihm Vorwürfe und appellierte an sein Verantwortungsbewusstsein. So unsicher wie er noch auf den Beinen umherhinkte war ein Sturz, nicht nur die Stiege, sondern auch das große, quadratische Loch hinab, durch welches sie Heu zu den Tieren im Stall warfen, recht naheliegend! Aber Andreas Albicker ließ sich nicht entmutigen. Und so, wie er jeden Tag immer einfach weitergemacht hatte, ein bisschen langsamer und ein wenig unordentlicher vielleicht als Lydia, so hatte er sich vorhin auch einen Eimer geschnappt, war zu den Kühen gehumpelt und hatte ohne viele Worte zu verlieren mit dem Melken begonnen.

Sie hatten ihren Rinderbestand im Laufe des Winters um ein Drittel reduzieren müssen, denn die Arbeit wurde, nachdem ihre Versicherung die Kosten für einen Helfer nicht mehr weiter übernahm, für Lydia allein zu viel. Eigentlich, überlegte Andreas manchmal, während er seine Frau verstohlen beobachtete, eigentlich war es ein Wunder, dass sie dies alles schaffte, ohne sich aufzulehnen, ohne mit ihrem Schicksal zu hadern oder ihm die Schuld zu geben. Sie machte einfach weiter. Sie erledigte ihre Arbeit, immer eins nach dem andern, jetzt nur etwas hastiger als noch vor einem Jahr und abends etwas länger.

Im Laufe des Nachmittags waren Helfer aus dem Dorf eingetroffen, mit Eimern und Hockern bewaffnet. Bardo Schwab kam, hauptsächlich, um sich vor dem Bestattungsunternehmen zu drücken, welches Christoph Eisele mittlerweile fast einsatzbereit hatte. Die Krone-Wirtin, Edeltraud Winterhalder, hoffte auf einen Eimer kostenlose Milch. Selbst Hildegund Teufel wagte sich in den Stall, lehnte ihre beiden Stöcke an die Wand und befahl einem der erschrockenen Kinder, die es zu dem ungewohnten Treiben zog, ihr beim Hinsetzen zu helfen.

Als Frieder Faust und Susanne aufkreuzten, waren elf Menschen beim Melken und das Brüllen der Tiere wurde weniger.

»Schön, dass du kommst, Frieder«, begrüße ihn Albicker und nahm mit einem Lächeln Fausts angebotenen Arm. Faust zog ihn auf die Beine. »Du hast ja sicher noch bei deinerMutter das Melken gelernt.« Faust nickte. »Wo hast du Bubi gelassen?« Als Kind hatte man Bubi beinahe jeden Tag in Albickers Stall finden können. Mit dem ersten Hahnenschrei stand er damals auf und im Sommer kam es vor, dass er Steinchen an das Schlafzimmerfenster der Bauern warf, weil diese, kurz nach fünf, noch schliefen.

»Bubi kann nicht (Nein, ich bleib hier! Der Strom kommt bestimmt bald wieder!), aber sollte es morgen früh noch genauso aussehen«, er wies mit dem Kinn auf die tonlose Melkanlage, »dann trag ich ihn dir persönlich in den Stall!« Albicker freute sich. Es tat gut mit Faust zu reden.

»Willst du ein Bier?«, fragte Albicker, zog zwei Flaschen aus einem Regal und lächelte dazu wie ein Spitzbube. Eine Werkzeugkiste hatte die Flaschen vor Lydias Blick verborgen. Sie hasste es, wenn er etwas trank.

»Äh, ich bin eigentlich zum Melken gekommen.«

»Lass nur, es sind genug Helfer hier. Und manchmal«, er ging voran in den Raum in dem die Melkanlage und die beiden Tanks für die Milch standen, »manchmal muss auch Zeit sein für ein paar Worte und ein Bierchen!« Sie prosteten sich zu und tranken.

»Hast dich gut geschlagen unten in der Krone«, begann Albicker und wischte sich das Kinn ab. Seit seinem Schlaganfall hatte er Probleme, aus einer Flasche zu trinken. Ein paar Tropfen gingen immer da neben. Aber wenigstens funktionierte das Schlucken wieder tadellos.

Faust nickte. »Blieb mir kaum etwas anderes übrig.«

»Du warst in Bonndorf? Hat Lea vorhin erzählt, als sie etwas Milch holte. Du weißt ja, wie kleine Mädchen sind, sie plappern und plappern und vergessen die Welt dabei. Wie sieht’s aus in der Stadt?«

Faust erzählte ihm von den Plünderungen und von der verlassenen Polizeistation.

»Geht alles ganz schön schnell den Bach runter«, murmelte der Einundsechzigjährige und zog seine speckige Kappe auf dem Kopf zurecht. »Hast du schon mal daran gedacht, Frieder, dass dieser Zustand anhält?«

Faust zog die Brauen zusammen. »Du meinst, dass Strom und Wasser nicht zurückkommen?«

Albicker nickte und trank.

»Jetzt komm, Andreas! Sicher, vielleicht wird es länger dauern als wir glauben, vielleicht vier, fünf Tage. Aber in höchstens einer Woche wird irgendjemand alles schon wieder hingebogen haben!«

»Und wer soll dieser Irgendjemand sein?«

»Was weiß denn ich!« Faust wirkte plötzlich gereizt. »Wir haben eine Regierung in Berlin sitzen und in Brüssel hockt auch noch ein Berg Beamter. Die sollen jetzt mal zeigen, was in ihnen steckt. Sollten die Probleme deutschland- oder europaweit bestehen, wird es ja wohl irgendwelche Notfallpläne geben! Und dann die ganzen Energiekonzerne!« Er trank sein Bier leer und gab Albicker die Flasche zurück. »Die wissen bestimmt, wie sie die Kraftwerke wieder zum Laufen bringen!«

Andreas Albicker wollte etwas erwidern, als Jürgen Mettmüller in den kleinen Raum trat. Die roten Haare und sein käsiger Teint, von unzähligen Sommersprossen belagert, gaben ihm, egal wie ernst die Dinge waren, über die er gerade redete, immer etwas Lausbubenhaftes.

»Hier versteckt ihr euch!« Er zwinkerte den beiden zu und warf einen vielsagenden Blick auf die leeren Flaschen. »Du entwickelst dich noch zu einem richtigen Kapitalisten, Andreas«, scherzte er. »Im Stall schuftet ein Dutzend Leibeigener für dich und du trinkst in aller Ruhe erst mal ein Bier. So lass ich mir das gefallen.«

»Die Zeiten haben sich geändert, Jürgen«, ging Albicker auf den Spaß ein. »Hast du nicht gehört, dass ab sofort jeder Dorfbewohner eine Stunde am Tag für mich arbeiten muss?«

»Das ist nur fair, schließlich hast du als Einziger im Ort noch Kühe und damit Milch und Fleisch.« Mettmüller schien über etwas nachzudenken und wurde ernst. »Habt ihr gehört, was in Bonndorf los ist?«

Die Männer nickten.

»Ich war vorhin selbst drüben«, erklärte Faust.

»Dann hast du ja das Feuer gesehen.«

»Feuer? Welches Feuer?« Faust schien wie elektrisiert. Seit seinem vierzehnten Geburtstag war er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und an einem separaten Haken neben der Garderobe bei sich im Flur hingen Tag und Nacht Uniform und Helm.

 

»Das Schloss brennt.«

Das Bonndorfer Schloss, Ende des sechzehnten Jahrhunderts erbaut, beherbergte das Notariat, ein Museum, die Bibliothek und die Narrenstuben, eine weltweit einmalige Ausstellung über Narren, ihre Zünfte, Traditionen, Masken und Kostüme.

Faust wollte sich sofort auf den Weg machen, hoffte, noch etwas retten zu können.

»Komm«, Mettmüller hielt ihn am Arm zurück. »Vergiss es, Frieder! Selbst wenn wir durchkämen, selbst, wenn wir auf die Schnelle ein paar Männer zusammenbekämen – es gibt kein Wasser!«

»Aber wir können doch nicht zusehen, wie das Schloss abbrennt!« Faust lief zwei Schritte auf sein Haus zu und kam wieder zurück. Und noch einmal zwei Schritte.

Albicker aber nickte. »Jürgen hat recht, Frieder, wir können nichts machen. Außerdem haben wir selbst genug Probleme.«

»Richtig.« Jetzt war es an Mettmüller, zu nicken. »Deswegen bin ich gekommen.«

»Wegen was?«

»Probleme. Sven will den Bagger nicht rausrücken, der auf seiner Baustelle steht.«

Sven, eigentlich Sven-Waldemar Wünsche − er verfluchte den Tag seiner Namensgebung −, Mitte Zwanzig, war im Begriff, im Wellendinger Neubaugebiet seinen Traum vom eigenen Häuschen zu verwirklichen. Heute Morgen waren nur zwei Arbeiter der Stühlinger Firma erschienen, die er mit dem Bau beauftragt hatte. Nach dem Airbusabsturz waren sie wortlos verschwunden. Eisele, der den Bagger für das Ausheben eines Massengrabes haben wollte, war von Sven mit der Begründung abgewiesen worden, dass der Bagger nicht sein Eigentum wäre und er ihn deshalb auch nicht ausleihen könne. Insgeheim hoffte er aber, dass seine Arbeiter morgen wie gewohnt erscheinen würden, nur könnten sie dann, ohne Bagger, nicht mit dem Ausheben der Baugrube fortfahren. Die Leichen auf dem Hardt waren ihm egal.

»Und was habe ich damit zu schaffen?«, fragte Frieder.

»Was du damit zu schaffen hast? Hast du nichts gemerkt, vorhin in der Krone?« Faust sah Mettmüller an und verstand gar nichts. »Frieder, ich weiß nicht warum, aber die Leute hören auf dich! Du hattest die Idee mit dem Treffen und du hast da unten nicht schlecht gebrüllt und so etwas wie Ruhe ausgestrahlt. Sicher, es gibt bestimmt Männer im Dorf, die den Überblick bewahren könnten und in der Lage wären, so lange es eben nötig sein wird, hier eine Art Bürgermeister zu mimen. Aber vorhin waren sie alle erstaunlich still. Du bist eben einer von ihnen, sie kennen dich und irgendwie«, er lächelte, »haben sie sich offenbar stillschweigend darauf geeinigt, dass du derjenige bist, den man fragt, wenn es nicht weitergeht. Mich übrigens eingeschlossen.«

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