Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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Schlittschuhlaufen auf dem Elbing-Fluss

Die Wochen gingen ins Land. Alles im Hause Steinky nahm seinen geregelten Lauf. Doch es war merklich kälter geworden. Willi musste sich an manchen Tagen auf dem Weg zur Schule schon seine dicke Winterjacke überziehen. Und dann kam der Tag, auf den er so lange sehnlichst gewartet hatte: Das Thermometer fiel unter Null. Und was für Willi noch viel wichtiger war: Dort blieb es auch stehen. Der Frost kam an den Elbing-Fluss und mit ihm das Eis. Die Zeit der Schlittschuhläufer hatte begonnen.

Der Leierkastenmann spielte schon seit Stunden immer die gleichen Melodien, als Johanna und Willi an jenem späten Nachmittag den Fluss erreichten. Schon häufig war Johanna an kalten Wintertagen hierher gekommen, schon damals als junges Mädchen, viele Jahre vor ihrer Heirat mit Wilhelm, hatte sich die Schlittschuhe geschnürt und dort ihre Runden gedreht. Jetzt wollte sie dabei sein, wenn Willi die ersten Gehversuche mit den schnellen Kufen auf dem Eis unternahm. Die Dämmerung war angebrochen.

Eigentlich die schönste Zeit hier am Fluss, fand Johanna. Sie genoss diese Momente, wenn die Lichter auf dem Eis die Nacht erhellten und die Eiskristalle glitzern. Doch seit Tagen schon hatte sie ständig diesen Husten und einen stechenden Schmerz in der Brust verspürt. Dazu leichtes Fieber. Die Schritte fielen ihr schwerer als sonst. All dies wollte sie auf dem Eis vergessen. Sie wollte einfach nur dahingleiten. Abgeschirmt von der Welt. Von den Schmerzen, den Sorgen, die sie seit Tagen begleiteten wie ein lästiger Gast. Ihrem Mann hatte sie nichts von diesem Ausflug erzählt. Heimlich war sie mit Willi zum vereisten Fluss aufgebrochen.

»Du musst vorsichtig sein, wenn du auf das Eis gehst, Willi. Und bleib immer nah bei mir. Am besten gibst du mir die Hand«, mahnte Johanna besorgt.

»Mach ich, Mutter. Aber mach dir keine Sorgen. Es passiert schon nichts. Ich passe schon auf.«

Willi hatte die neuen Schlittschuhe bereits angezogen und mit ein paar Schritten Besitz vom eisigen Parkett ergriffen. Er wackelte und schlotterte in den Beinen. Mit einigen seltsam anzusehenden Armbewegungen gelang es ihm immer wieder, das Gleichgewicht zu erlangen. Die meisten Kinder waren schon gegangen, doch ein paar Unermüdliche drehten noch immer ihre Runden. Willi warf einen flüchtigen Blick zu ihnen hinüber. Zu seinem Glück war niemand dabei, den er kannte. Sicher würde er noch eine recht unglückliche Figur machen. Und manch einer der Schlittschuhläufer schoss, was Willi sichtlich einiges Unbehagen bereitete, auf schnellen Kufen von Zeit zu Zeit dicht an ihm vorbei. Hoffentlich würde es ihm nicht so ergehen wie der Heiligen Lidwina, dachte er. Mutter hatte ihm von ihrer Legende erzählt. Eine überlieferte Geschichte berichtete, dass die damals 15-jährige Lidwina im Jahr 1395 beim Schlittschuhlaufen so heftig mit einem anderen Läufer zusammenstieß, dass sie sich schwer verletzte. Nach der Genesung ging sie in ein Kloster und widmete sich bis zu ihrem Tod 1443 der Religiosität. Wegen des Unfalls wurde sie zur Schutzheiligen der Schlittschuhläufer. Nein, ein Schutzheiliger wollte Willi nicht werden. Und er brauchte es auch nicht, denn keiner der Burschen kam ihm lebensbedrohend nahe oder nahm auch nur annähernd Notiz von ihm und seinen ersten Gehversuchen auf dem Eis.

»Komm, Willi! Schlaf nicht!«

Mutter Johanna nahm ihn mit einem Ruck an ihre Seite, und sie glitten gemeinsam über das Eis.

»Siehst du, wie gut das schon klappt!«

Willi taumelte leicht, konnte seinen Körper aber wieder ausbalancieren. Mit jedem Schritt hielt er sich etwas sicherer auf den Beinen. Ein-, zweimal musste Johanna ihn fest an der Hand nehmen, um einen Sturz zu vermeiden.

Runde für Runde drehten sie gemeinsam auf dem großen Fluss. Langsam kroch der Nebel den Fluss hinauf. Willi ließ die Hand seiner Mutter los und zog in zwei, drei Schritten in einer kleinen Bahn im Kreis um sie herum.

»Werde ja nicht übermütig!«, mahnte Johanna ihren Sprössling. Der Stolz einer Mutter über die ersten gelungenen Gehversuche ihres Sohnes auf dem Eis hatte sich in ihre Gesichtszüge geschrieben.

Eine Frau, circa Mitte 50, mit einem dicken Fuchspelz um den Hals gewunden, beobachtete das Schauspiel von einer Bank aus. Sie spendete verhalten Beifall.

»Wissen Sie, das sind heute seine ersten Runden auf dem Eis«, rief ihr Johanna hinüber.

»Dafür klappt’s aber schon ganz gut«, machte die Frau dem Jungen Mut.

Johanna wollte ihr noch etwas zurufen, doch in diesem Augenblick versagte ihr die Stimme. Was um Himmelswillen war das? Ein stechender Schmerz durchdrang ihre Brust. Sie musste husten. Und es nahm kein Ende. Es zog ihr fast die Beine weg. Der Arzt hatte sie gewarnt. Möglicherweise könnte es sich um den Anfang einer Lungenentzündung handeln, hatte er diagnostiziert. Doch Johanna wollte es nicht wahrhaben. Ach, das wird mich schon nicht umhauen, hatte sie die Befürchtungen des Doktors abgetan.

»Willi, ich glaub’, wir müssen runter vom Eis. Ich glaube, mir geht es nicht gut. Ich bekomme schlecht Luft. Komm, wir gehen morgen wieder hierher!«

»Ja, ist gut Mutter.«

Johanna und Willi verließen das Eis und nahmen eine Zeit lang auf der Bank neben der Frau mit dem Fuchspelz Platz.

»Ist Ihnen nicht gut, junge Frau?«

»Ach, es geht schon wieder«, wiegelte Johanna ab. »Ich habe wohl eine hartnäckige Erkältung.«

Die drei auf der Bank beobachteten, wie die Lichter auf dem Eis erloschen. Sie warteten, bis sich Johanna etwas besser fühlte. Auch der Leierkastenmann hatte seit einigen Minuten sein Spiel beendet. Von der Straße fiel nur noch ein schwacher Laternenschein hinüber. Der Nebel war noch dichter geworden. Zwischen den Brücken kauerte stumm die Nacht. Nur der eisige Wind drehte hier bei Frost und Kälte noch seine einsamen Runden. Die Frau von der Bank begleitete Johanna und Willi bis zur nächsten Straßenbahn, dann verabschiedete sie sich.

»Ich hoffe, junges Frauchen, dass es Ihnen recht schnell wieder besser geht.«

Die guten Wünsche der Frau im Fuchspelz sollten sich nicht erfüllen. Den nächsten Morgen sollte Johanna Steinky nicht mehr erleben. Sie starb noch in der Nacht. Auf ihrem Totenschein, den Willi einige Tage später auf dem Küchentisch liegend vorfand, war vermerkt: Todeszeitpunkt: 2.38 Uhr. Alter der Person: 34 Jahre. Geschlecht: weiblich. Name: Johanna Steinky, geborene Karau. Es war der zweite Advent 1921. Und dort stand ein Wort, das Willi noch nie zuvor gehört hatte und das er fortan sein Leben lang nicht mehr vergessen würde: Tuberkulose.

Die Adventsmütterchen

Den Tod seiner Mutter und die anschließende Beerdigung erlebte Willi wie in einem bösen Traum. Mutter Johanna lag aufgebahrt im Wohnzimmer. Überall leuchteten Kerzen und erhellten den dunklen Raum. Sie trug ein weißes Kleid, und man hatte ihr einen geflochtenen Blumenkranz um den Kopf gelegt. Wie schön sie ist, dachte Willi. Immer noch! Auch im Tod! Es kamen viele Verwandte, Bekannte und Nachbarn, die ihr Beileid kundtaten. Willi wusste am Abend nicht mehr, wie viele Hände er geschüttelt hatte. Es war ihm auch egal. Als sie den Sarg ins Grab ließen, wollte er nichts mehr wissen von dieser Welt oder von den Fürbitten des Pfarrers. Der Tod, er war ihm unheimlich. Er hatte ihn zuvor noch nicht gekannt, und er hatte ihm das Liebste genommen, das er besaß auf dieser Welt: seine Mutter. Seine Anwesenheit, er konnte sie nicht ertragen. Willi starrte unentwegt auf das Kreuz, das der Pastor ihm in die Hand gedrückt hatte. Wäre der Tod eine Person aus Fleisch und Blut, in diesen Minuten hätte er ihn mit dem Kruzifix erschlagen wie einen räudigen, tollwütigen Hund.

Beim Beerdigungskaffee im Gasthaus »Zum Schützenhof« saß die Trauergemeinde lange zusammen und tratschte. Sie lobten Johanna in höchsten Tönen. Welches zarte Wesen sie besessen habe, dass sie immer bester Laune war und wie gut sie zu den Kindern gewesen sei. Selbst diejenigen, die zu Lebzeiten kein gutes Haar an ihr gelassen hatten, wie die Witwe Kaminski, fanden nur Gutes an der Verstorbenen. Als Willi wieder nach Hause kam, zog er sich zurück in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und dachte an seine Mutter. Als es dunkel geworden war, stand er auf und ging zum Fenster. Er öffnete es und blickte in den Abendhimmel. Es war kalt draußen und eine sternenklare Nacht. Ob Mutter nun da oben ist?, dachte er. Ob sie dort auf mich wartet? Oder gibt es vielleicht überhaupt keinen Himmel? Willi stiegen die Tränen in die Augen. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf, so dass er nicht bemerkte, wie sich zwei Gestalten dem Fenster näherten.

»Na Krabutzke, biste am Träumen?«

Willi erschrak.

»Keine Angst, wir tun keinem nuscht.«

Willi hatte die zwei Frauen nicht kommen gesehen. Es waren Adventsmütterchen, Frauen aus den umliegenden Altenheimen und Hospitälern, die noch bis zum Heiligabend durch die Straßen Elbings von Haus zu Haus zogen und milde Gaben sammelten. Diese Sitte stammte aus dem Mittelalter, als die Frauen in Laken eingehüllt für die Kranken Gaben sammelten.

Willi kannte die Mütterchen noch aus dem vergangenen Jahr. Da hatte Mutter ihnen zehn Pfennige gegeben, und er hatte seine Wünsche zu Weihnachten aufgesagt. »Wenn du fest daran glaubst«, hatte ihm Johanna gesagt, »dann werden sich deine Wünsche auch erfüllen.«

Die beiden Adventmütterchen trugen lange dicke wollene Röcke, offenbar mehrere übereinander. Darüber waren große helle, buntgestreifte Schürzen gebunden. Über ihre Schultern hatten sie ein schneeweißes großes Laken gelegt. Die Köpfe zierte jeweils ein großer, breitrandiger Hut, wie er im Sommer von den Landarbeitern auf dem Feld getragen wurde. Darüber befand sich ein unter dem Kinn zusammengebundenes Kopftuch.

 

»Möchtest du uns denn nicht deine Wünsche sagen?«, fragte die eine. Sie hielt einen aus Weiden gebundenen Deckelkorb im Arm. Darin, das konnte Willi erkennen, befanden sich Kuchen, Äpfel, Mehl und Pflaumenmus.

»Ich habe für Weihnachten keinen Wunsch!«

»Keinen Wunsch zum Weihnachtsfest? Das gibt es doch gar nicht! Alle Kinder haben doch Wünsche zu Weihnachten!«

Willi überlegte kurz.

»Ach, wenn ich mir etwas wünschte, dann wünschte ich, dass meine Mutter wieder zu uns zurückkäme.«

Eines der Adventsmütterchen mit einer mittelgroßen Knollennase schaute ihn fragend an.

»Wo ist sie denn, deine Mutter? Hat sie dich alleine gelassen?«

»Die ist im Himmel, falls es ihn denn wirklich gibt.«

»Du vermisst sie sicher sehr, deine Mutter?«

»Ja!«

»Ach, das tut mir ja so leid. Aber wenn sie im Himmel ist, dann kann sie nicht wiederkommen, Jungchen. Nicht für alle Dittchen und milden Gaben dieser Welt. Aber wenn du eines Tages, nach einem langen, langen Leben, in den Himmel kommst, dann, glaub mir, wird sie da oben schon auf dich warten und dich freudig in die Arme schließen. Du musst nur ganz fest daran glauben.«

Willi schluckte.

»Ja, dann wünsche ich mir, dass sie dort auf mich wartet!«

»Das wird sie tun, da sei dir gewiss, mein Junge«, meinte das Mütterchen mit der Knollennase.

»Jetzt kann ich euch für meinen Wunsch aber gar nichts geben.«

»Das macht nichts, mein Junge. Wir werden dem Christkind auch so von dem guten Jungen in diesem Haus berichten.«

Willi bedankte sich und blickte den beiden Mütterchen noch hinterher, bis diese hinter den letzten Häuserreihen seiner Straße verschwunden waren. Dann schloss er die Fensterläden und ging zu Bett. In dieser Nacht träumte er von seiner Mutter. Und als er aufwachte, hatte er das Gefühl, als habe sie ihn die ganze Nacht fest in ihren Armen gehalten.

Der Kampf mit dem Drachen

Vater Wilhelms Wesen änderte sich von Tag zu Tag. Johannas Tod hatte eine schmerzliche Lücke in seinem Leben hinterlassen. Er redete nicht mehr viel und griff häufiger zur Flasche. So ging das über Monate. Und als die Zeit der Trauer vorbei war, brachte er eines Tages eine Frau mit ins Haus: die Witwe Kaminski. Sie war klein, herrschsüchtig, und sie kniff die Augen zusammen, so als wollte sie jeden Moment die Augäpfel herausdrücken. Und mit ihr im Schlepptau kam diese kleine, dicke, aufgeblasene Kröte – das Gustäffchen.

Vater rief Willi, Kurt und Elisabeth in die Wohnstube. Dann sagte er ihnen, dass sie jetzt ihre Mutter sei und dass sie auf das zu hören hätten, was sie zu sagen habe. Und sie hatte einiges mitzuteilen. Als erstes kürzte sie die Essensrationen. Das Brot schloss sie weg. Der Vorratskeller wurde hermetisch abgeriegelt. Willi nannte sie nur »den Drachen.« Und dieser Drache, er hatte wahrlich Flügel, denn er war überall. Er war fortan da, wenn Willi überprüfen wollte, ob der Brotkasten verschlossen ist, und er befand sich in der Nähe, wenn er im Garten um die Erdbeerbeete und Obstbäume strich. Stets spürte er den Atem der Witwe in seinem Nacken. Der liebe Gott hatte diesem Drachen nicht nur Flügel verliehen, sondern auch Feuer. Und das spie er täglich bei jeder sich bietenden Gelegenheit: »Willi, hol die Kohlen aus dem Keller! Willi, kümmere dich um den Abwasch. Will, geh und hack das Holz!« Willi hier! Willi da! Kaum eine ruhige Minute gönnte sie ihm.

Und das Gustäffchen? Es redete kaum etwas und wenn, dann musste man angestrengt hinhören, um überhaupt etwas Verständliches erfahren zu können. Es brauchte im Haushalt so gut wie nie anzupacken und erwies sich als ein aufgeblähter Fresssack. Regelrecht mästen tat die Kaminski ihren Ableger, während Willi und seine Geschwister Hunger schieben mussten. Sprach Vater Wilhelm sie darauf an, dann war stets alles in Ordnung, und die Kinder täten nur mal wieder etwas übertreiben. Schließlich müsse doch an allem gespart werden, meinte sie. Es machte Willi fuchtig, wenn er auch nur daran dachte. Und sein knurrender Magen erinnerte ihn oft dran. Fortan war sein Alltag damit ausgefüllt, Essbares zu organisieren – egal in welcher Größe, egal in welcher Menge: Satt musste es ihn machen, und wenigstens ein bisschen fein sollte es schmecken. Und die Kaminski, dieses alte Weib? Einem Dudelsack gleich brummte sie zu jeder Tageszeit, denn sie hatte ständig etwas zu meckern.

Dann, eines Tages, geschah das, was Willi schon lange beabsichtigt hatte: Er lackierte dem Gustäffchen, nachdem dieses ihm beim Holzhacken die Zunge heraus gestreckt hatte, ordentlich eins auf die Nüschel. Dafür verordnete der Drache ihm eine ganze geschlagene Woche lang Hausarrest. Fortan war Willi schlauer: Was die Züchtigung der »kleinen aufgeblasenen Kröte« anbetraf, so gab er seinem Kumpel Paulchen eine Art Prokura. Ständig setzte es fortan durch den Erfüllungsgehilfen Hiebe. Für die »Kröte« war Paulchen der große Unbekannte, von dem das Gustäffchen fortan von Zeit zu Zeit voller Ehrfurcht am Essenstisch erzählte. Das kam so weit, dass er schließlich im Haus bleiben musste, um nicht dem unbekannten Rächer in die Hände zu fallen.

Willi hatte gerade mal wieder einige Tage Arrest abgesessen, als er Paul auf der Straße traf.

»Wo warst du denn so lange?«

»Ach, der Drachen hat wieder mal wieder Feuer gespuckt und mich nicht aus seiner Höhle gelassen.«

Paulchen wollte es genauer wissen.

»Haste wieder was angestellt?«

»Ja, ich habe ihr gesagt, dass man sie damals in Rössel vergessen hat.«

»Vergessen? Wieso vergessen? Und wieso ausgerechnet in Rössel?«

»Weißt du das nicht mehr? Das haben wir doch in der Schule gelernt: In Rössel wurde die letzte Hexe Europas verbrannt, weil sie zuvor die Stadt angezündet hatte.«

Paulchen musste grinsen.

»Sag mal, Willi, haben Hexen eigentlich Angst vor Nagetieren?«

»Warum willst du das denn wissen?«, fragte Willi, der neugierig geworden war.

»Deshalb, mein Lieber!«

Paulchen griff in die Hosentasche und zog etwas hervor, das klein war und das unentwegt und aufgeregt zappelte. Was sein Kumpel in seinen Händen hielt, das war unverkennbar eine Maus.

»Wo haste die denn her?«

»Die habe ich bei uns im Keller gefangen«, grinste Paulchen.

»Was willste denn mit dem kleinen Nagertierchen?«, fragte Willi neugierig.

»Ja, eine Idee, die hätte ich schon: Also, was meinst du, Willi: Haben Hexen nun Angst vor Mäusen? Oder haben sie keine?«

Jetzt musste auch Willi lachen.

»Weiß nuscht. Wir sollten es probieren. Dann wissen wir es«, meinte er, während seine Lachmuskeln immer noch sehr beansprucht wurden.

Gemeinsam schlichen sie ins Haus. Der Drache saß im Wohnzimmer und gab mal wieder Audienz für die befreundete Damenrunde. Alle hatten sich gründlich gepudert und sich in die Ausgehgarderobe gezwängt. Kaffee hatte der Drache in der Stadt besorgt, und das ganze Haus roch danach. Und wenn es Kaffee gab, dann war zumeist die Schokoladentorte nicht weit entfernt. Für Willi und seine Geschwister war sie tabu. Überhaupt hatte er seit dem Tod seiner Mutter nie wieder ein Stück davon verdrücken dürfen.

Vorsichtig schlichen sich Willi und Paulchen ins elterliche Schlafzimmer. Willi wusste, dass der Drache sich mittags von Zeit zu Zeit zu einem kleinen Schläfchen niederlegte, wenn sich die ehrenwerte Kaffeegesellschaft wieder verabschiedet hatte.

»Wo legen wir das Mäuschen denn hin?«, fragte Paulchen.

»Lass sie uns in die Bettdecke packen.«

Vorsichtig schlug Willi die Decke zurück, während Paulchen in die Hosentasche griff und das putzige Tierchen, dessen kleines Herz heftig in seiner Hand pochte, herausholte und kurz anschaute.

»So Mäuschen, dann mach mir die Alte mal so richtig meschugge!«

Willi musste fast laut loslachen.

»Die wird vielleicht ihr blaues Wunder erleben!«

Paulchen griff in den Überbezug der Decke und legte das Mäuslein hinein. Das Ende verschlug er derart, dass das Tierchen auch ja keinen Ausgang finden und sich vorzeitig vor dem Finale aus dem Staube machen konnte.

»So, erledigt! Komm wir gehen noch etwas raus. Vor vier Uhr legt sich der Drache eh nicht hin.«

Willi und Paulchen verließen das Haus, um sich in der Nachbarschaft mit Tante Frieda zu unterhalten, die just in diesem Moment die Ärmel aufgelehnt am Fenster hockte, um nach jemandem Ausschau zu halten, dem sie ein mehr oder minder interessantes Gespräch aufnötigen konnte. Und weil ihnen in diesem Moment nichts Besseres einfiel, plauderten sie mit ihr darüber, ob Mäuse nun auch nützliche Haustiere sein können oder nicht. Sie kamen dabei auf keinen gemeinsamen Nenner, und so gingen sie ein halbes Stündchen später wieder zurück zum Haus. Das Kaffeekränzchen hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst.

Kurz drauf watschelte der Drache in Hausschuhen ins Schlafzimmer. Die vielen Tortenstückchen hatten die Witwe Kaminski schläfrig werden lassen. Sie entledigte sich ihrer Kleider, schlüpfte in ein Nachthemd und legte sich zur Mittagsruhe. Es dauerte wiederum auch nicht lang, bis es sich letztlich bewahrheiten sollte: Drachen haben durchaus Angst vor kleinen Nagern. Und was für eine Angst! Sie haben ganz offenbar derart Angst davor, dass sie am helllichten Tag im Nachtgewand schreiend durch die Straße des Wohnviertels laufen und der gesamten Nachbarschaft zu einer völlig unverhofften und kurzweiligen Unterhaltung verhelfen können.

Paulchen und Willi hatten das Spektakel vom Küchenfenster aus beobachtet.

»Ich mach mir vor Lachen fast in die Hose«, triumphierte Paulchen.

»Komm!«, drängte Willi.

»Wo willst du hin?«, fragte Paulchen.

»Noch mal ins Schlafzimmer. Ich brauche eine Uhr.«

»Eine Uhr, was willst du denn damit?«

»Die brauche ich eben!«, herrschte Willi ihn an.

Die beiden rannten ins Schlafzimmer. Willi griff in die Schublade neben dem Bett seines Vaters und fischte eine Taschenuhr heraus.

»Komm weiter!«

»Was ist?«, wollte Paulchen wissen.

»Ich muss noch in die Küche. Ich brauche noch etwas Proviant.«

»Proviant? Wofür brauchst du den denn?«

»Erzähl ich dir später. Komm!«, knurrte Willi.

Sie rannten in die Küche.

Willi griff nach dem verbliebenen Rest der Schokoladentorte und packte sie in einen Karton. Er griff nach allem, was sich ihm an Essbarem bot: Äpfel, Brot, Kartoffeln.

Dann rannten sie auf die Straße. Paulchen platzte fast vor Neugierde.

»Jetzt sag mir doch mal um Himmelswillen, was hast du denn nun vor?«

»Was ich vorhabe? Ich haue ab, ich wandere aus!«

»Du willst auswandern! Ja um Gotteswillen, wohin denn?«, fragte Paulchen fassungslos.

»Nach dem Amerika, ich wandere aus nach dem Amerika!«

»Wo willst du hin! Nach dem Amerika?«

Willi wusste, dass er – was Stiefmutter Kaminski betraf – den Bogen überspannt hatte. Bevor sich alles noch zum Schlimmeren wenden könnte, machte er sich lieber aus dem Staub. Amerika lag zwar weit irgendwo hinter Danzig, das war ihm bekannt, mit einem Boot aber, so dachte er bei sich, würde der Kontinent schon schnell in Sichtweite rücken. Und so groß könne ein Großer Teich nun auch nicht sein! Schließlich war der Teich in Kaufmann Ullmanns Garten auch groß, doch den hätte man locker mit einem tüchtigen Boot überqueren können.

»Was willst du denn in Amerika, Willi?«

»Ein besseres Leben führen. Dort ist es allemal besser als hier in Elbing mit dem Drachen unter einem Dach!«

Paulchen blickte ihn mit großen Augen fragend an.

»Und wie willst du dahin kommen?«

»Mit einem Boot natürlich.«

»Und wo willst du das Boot herbekommen?«

»Das bauen wir uns zusammen. Unten am Elbing-Fluss, da liegen schon die Bretter und was wir sonst noch so brauchen. Kommst du mit, Paul, hilfst du mir das Boot zu bauen?«

»Klar helfe ich dir«, pflichtete Paulchen ihm bei und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern. »Und wenn es da in diesem Amerika besser ist als hier in Elbing, dann komme ich eben mit.«

Nach einem anstrengenden Fußmarsch erreichten sie das Ufer des Flusses. In einem dichten Gebüsch hatte Willi schon seit Wochen alles für den Schiffsbau gebunkert. Alles war bis ins Detail durchgeplant. Sogar an die Schiffstaufe hatte er gedacht. Statt Sekt gab’s jedoch ein kühles Blondes von der Brauerei Englisch Brunnen.

 

»Mensch Willi, wo haste denn das alles her?«, wunderte sich Paulchen.

»Organisiert!«, antwortete Willi nicht ganz ohne Stolz.

Das Holz stammte von Kisten der Zigarrenfabrik Loeser & Wolff. Durch ein Loch im Zaun des Alteisenhändlers Schlemper hatte er sich mit Nägeln versorgt. Hammer und Fuchsschwanz waren aus Vaters Werkstatt geborgt. Und das Wichtigste stammte ebenfalls aus dem Besitz von Wilhelm Steinky Senior: seine Taschenuhr. Sie sollte dem Navigator, und das war kein geringerer als Willi selbst, als Kompass dienen. Die Taschenuhr würde ihm, mit Hilfe der Sterne, geradewegs den Weg nach Amerika weisen. Sie war schier unerlässlich für die riskante Überfahrt über den Großen Teich. Deshalb hatte er sie aus der Nachttischschublade seines Vaters gefischt.

Die Schiffswerft nahm unter Hochbetrieb ihre Arbeit auf. Willi und Paulchen werkelten bis in die Dämmerung hinein. Dann ließen sie das Boot zu Wasser und stachen in See. Doch schon nach kurzer Fahrt leistete sich der Navigator einen schicksalshaften Fehler, den auch Vater Steinkys Taschenuhr nicht verhindern konnte. Willi hatte das Boot zu hart Backbord genommen, woraufhin das Ruder zerbrach. Das stolze Schiff schlug an einen Pfeiler der großen Eisenbahnbrücke und strandete unterhalb der Schleuse. Im Winter war nicht weit davon entfernt ein Junge beim Schlittschuhlaufen ertrunken. Obwohl man das Eis überall aufgehackt hatte, wurde der Leichnam lange Zeit nicht gefunden. Ein solch ähnlich tragisches Ende sollte Willi und Paulchen gottlob erspart bleiben. Beide konnten sich mit einem beherzten Sprung ans nahe Ufer retten.

Immer wieder kehrten sie in den nächsten Tagen zum Schiffswrack zurück. Tapfer schaukelte es, umkreist von alten Dosen und etwas Treibholz, hin nun her, bis es eines Tages schließlich gänzlich verschwunden war. »Vielleicht«, so meinte Willi, und da war er sich beinahe sicher, »vielleicht ist es ja jetzt auf dem Weg nach dem Amerika!«