Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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Willi im Land der Ordensritter





Als Willi an diesem Abend nach Hause kam, warteten der Drache und sein Vater schon ungeduldig an der Haustür. Sie hatten sich dort postiert, nicht etwa, weil sie den Sprössling vermisst und sich Sorgen gemacht hätten, sondern vielmehr, weil er jetzt seiner gerechten Strafe zugeführt werden sollte.



»Willem, der Junge hat dich deine Taschenuhr gestohlen«, keifte die alte Kaminski in schlechtem Deutsch und stupste den Vater mit einem Ellenbogen in die Seite. Ihre abhanden gekommene Schokoladentorte ließ sie natürlich auch nicht unerwähnt, während das Gustäffchen, dieser kleine, gierige Nimmersatt, grinsend in der Ecke stand und mit einem Ausdruck von Hochgenuss die Reste einer Brotstulle von einer Backentasche in die andere schob.



»Wo ist meine Uhr?«, brummte Vater Steinky.



Der Tonfall verhieß nichts Gutes.



Willi zuckte mit den Schultern. Er konnte sie seinem Vater beim besten Willen nicht rückübereignen. Schließlich war sie bei der Überfahrt nach Amerika beim Sprung an Land aus der Hosentasche gefallen und im Elbing-Fluss versunken. Überfahrt? Amerika? Was faselte der Sohn da? Diese Erklärung wollte der Vater keinesfalls akzeptieren. Und so tat er das, was er bislang nur recht selten getan hatte: Er zog den Hosengürtel aus und versohlte das Sohnemännchen.



Am nächsten Morgen nahm Willi seinen Rucksack, den er bei Tante Frieda im Stall versteckt hatte, schnürte seine geliebten Schlittschuhe daran fest und machte sich auf und davon. Er verzichtete auf eine Überfahrt und machte sich stattdessen zu Fuß auf die Reise nach Ostpreußen, in das Land der Ordensburgen.



»Dat is ja wirklich nee dolle Jeschichte.«



Erwin Hippels Stammbaum war über Alberts Erzählung hinweg vollends in Vergessenheit geraten. Und auch Friedchen, seine Gattin, schien begeistert und gerührt, während sie unentwegt in ein Taschentuch schnäuzte.



»Nee, Herr Steinky, wat für ne interessante Jeschichte, nee wirklich.«



Friedchen schüttelte den Kopf in einem Zustand großen Mitgefühls hin und her, bis sich schließlich Gatte Erwin wieder zu Wort meldete.



»Wo is er denn hin, der Vadder?«



»Er ist Richtung Ermland. Als er gänzlich erschöpft war, klopfte er in Heilsberg an eine Klosterpforte. Es waren vermutlich Pallotiner. So genau weiß das heute niemand mehr. Er hat nie viel darüber geredet. Er sagte nur, dass er dort das erste Mal seit Jahren wieder richtig satt geworden wäre. Vater blieb ein paar Jahre in diesem Kloster. Später vermittelten ihn die Patres als Kutscher und Pferdeknecht auf das Rittergut Klotainen. Hier lernte er auch meine Mutter kennen, die dort als Köchin arbeitete. Die war zwar sechs Jahre älter als er, aber ihre Kochkünste schienen ihn überzeugt zu haben.«



»Und det Paulchen? Wat wurde denn aus det Paulchen? Haben sich die beeden mal wiederjesehn?«



Albert schaute nachdenklich in Richtung Fenster. Dann wandte er sich wieder seinen Zuhörern zu.



»Nein, leider nicht. Dem Paul, dem hat der liebe Herrgott leider kein langes Leben beschert. Jahre später, beim Fanal des Reichstagsbrandes, wurde dieser aufrechte Junge ein Opfer der aufgehetzten SA-Meute. Aus dem kleinen Burschen war ein Kommunistenaktivist geworden, einer, der die Welt ein bisschen gerechter machen wollte. Die braune Meute holte ihn nachts im Auftrag des Führers aus dem Bett, zerrte ihn an die Hommelbrücke – und erstach ihn dort. Sie waren zu siebt, hatten Messer und Pistolen dabei. Paul hingegen war unbewaffnet und im Schlafanzug. Er hatte keine Chance, seinen Meuchelmördern zu entkommen. Seine Mutter war nicht zu trösten über den Mord an ihrem Sohn. Sie begrub ihn auf dem Friedhof hinter der »Alten Welt« und ließ auf dem Grabstein ein Kreuz einmeißeln.



»Ach, det is aber traurisch, Herr Steinky. Ja, det is wirklich sehr traurisch.«



Friedchen konnte ihre Gefühle nicht mehr im Zaum halten.



»Erwinchen, als det Willichen seenen Rucksack jepackt hatte, da fiel mir noch wat Wichtiges ein.«



»Wat denn, Friedchen?«



»Dat wir ooch noch packen missen.«



»Ach ja, wa wollen ja morgen wieder zurück nach Charlottenburg.«



»Ach, das ist aber schade«, meinte Albert.



Gerne hätte er noch ein wenig geplaudert, aber die Hippels schien es jetzt nicht mehr auf den Stühlen zu halten.



»Dat is wirklich schade, Herr Steinky. Vielleicht begegnen wir uns ja mal wieder, hier im Ermland oder sonstwo auffe Welt.«



Erwin und Elfriede Hippel verließen den Tisch, nachdem sie zuvor ihre Stühle beiseite schoben.



»So, die Herrschaften. Wir wünschen Ihnen noch eenen anjenehmen Aufenthalt in der alten Heimat«, verneigte sich der Familienforscher. »Friedchen und ich, wir wünschen Ihnen eene jute Nacht.«



Nachdem sich Albert und Heinrich widerstandslos den guten Wünschen angeschlossen hatten, klemmte sich Erwin Hippel das Laptop, in dem der riesige Ahnenbaum schlummerte, unter einen Arm und verschwand mit der Gemahlin aus der Tür des Hotelrestaurants.



An dem Abend saßen Albert und Heinrich noch eine Weile gemeinsam am Tisch.



»Wenn ich die Geschichte bis zum Ende erzählt hätte, wären die morgen nie und nimmer mehr bis nach Charlottenburg gekommen«, scherzte Albert und blickte zu Heinrich hinüber, der zustimmend nickte.



»Ja, ich weiß.«



Als Albert sich später zur Nachtruhe bettete, musste er noch eine Weile daran denken, wie er in Klotainen mit Vater und Karlchen so manchen Abend gemeinsam am Kachelofen verbracht hatte. Er dachte an Mattendorf, an Paulchen und die Pangritzkolonie, an Großmutter Johanna, die er nie kennen lernen durfte, und er dachte an die Schlittschuhe, an Vaters wundervolle alte Schlittschuhe und daran, wie dieser im Winter nach dem Tod der Mutter einsam seine Runden auf dem zugefrorenen Elbing-Fluss gedreht hatte. Dann schlief Albert ein.







Der alte Karton





Am nächsten Morgen wurde Albert im Hotelrestaurant schon erwartet.



»Sie haben Besuch, Herr Steinky!«



»Was? Ich? Besuch?«



Albert schaute den Hotelier verwundert an.



»Ja, zwei junge Damen. Sie sitzen dort am Tisch.«



Der Hotelier, den Albert eigentlich nur unter seinem Vornamen Janusz kannte, deutete zum Tisch hinten in der Ecke neben dem Haupteingang. Albert war an diesem Morgen als erster am Frühstückstisch eingetroffen, Heinrich würde ihm sicherlich in wenigen Minuten folgen.



»Sind Sie sich sicher? Die beiden dort wollen wirklich zu mir?«



Albert blickte ungläubig zum Tisch, an dem eine junge Frau und ein etwa zehn Jahre altes Mädchen Platz genommen hatten. Den Kopf der Frau zierte ein blonder Haarzopf. Sie war etwa Mitte 40 und hübsch anzusehen. Sie hatte sich in eine enge, helle Jeans gepresst.



»Das kann nicht sein. Die verwechseln mich bestimmt«, war sich Albert sicher.



»Nein, sie haben gesagt, dass sie zu Ihnen wollen, Herr Steinky. Sie sagten, dass sie aus Klutajny kommen, aus dem Dorf, in dem Sie früher einmal gewohnt hätten. Und sie wollten den Mann sprechen, der kürzlich bei ihnen zu Hause zu Besuch war.«



Albert überlegte einen kurzen Moment.



»Ja, das ist richtig, da habe ich kürzlich eine Familie besucht.«



Der Hotelier wurde etwas ungeduldig, konnte dies aber gekonnt überspielen.



»Ach wissen Sie, Herr Steinky, ich hole die beiden einmal an Ihren Tisch. Ich stelle mich auch gerne als Dolmetscher zur Verfügung. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«



»Natürlich. Warum nicht? Gerne!«



So ganz wohl war Albert nicht in seiner Haut. Er hatte zwar nicht abgelehnt. Doch was wollten die beiden von ihm? Und woher kannten sie ihn?



Der Hotelier ging zu den Besucherinnen, sprach kurz mit den beiden und kehrte mit ihnen zurück an Alberts Tisch.



»Herr Steinky, darf ich vorstellen, das sind Danuta Laski, die Tochter von Herrn Wójcik, und ihre Tochter Patrycja.«



»Angenehm, Albert Steinky!«



Albert stand auf, machte eine leichte Verbeugung und reichte den beiden die Hand.



»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«



Janusz redete mit den Besucherinnen einige Sätze auf Polnisch. Dann wandte er sich Albert zu.



»Frau Laski sagt, dass sie und ihre Tochter es schade finden, dass Sie jüngst nicht zum Kaffee bleiben konnten«, dolmetschte der Hotelier.



»Ja, es tut mit leid. Wir mussten an diesem Tag leider noch weiter«, log Albert, fühlte sich gleichzeitig aber etwas unwohl dabei.



Die Frau, die sich als Danuta Laski vorgestellt hatte, wandte sich erneut dem Hotelier zu.



»Frau Laski sagt, dass sie und ihr Vater das gerne nachholen würden und Sie heute zum Kaffeetrinken einladen möchten«, erklärte Janusz.



»Ja, danke. Sagen Sie ihnen bitte, dass mein Aufenthalt in Heilsberg knapp bemessen ist und wir leider nur wenig Zeit haben«, sagte Albert und hatte Angst, dass man ihm die erneute Lüge an der Nasenspitze ansehen könnte.



»Frau Laski sagt, wenn Sie zu Besuch kommen, könnten Sie vielleicht ein bisschen über Ihr Leben in dem Dorf erzählen und über das, was ihre Tochter Patrycja Ihnen gerne zurückgeben möchte.«



Das Kind wollte ihm etwas überreichen? Damit hatte Albert nicht gerechnet. Er blickte zu dem Mädchen mit dem blau-gelb-gestreiften Kleid und den blonden Zöpfen. Die Kleine lächelte. Albert sah, wie sie einen Karton hervorzog, den sie die ganze Zeit mit den Händen hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte.



Albert blickte in dieses zierliche Gesicht, während sich das Kind angeregt mit Janusz unterhielt. Es kam ihm so vertraut vor. Hatte er das Mädchen zuvor schon einmal gesehen? Es konnte nicht sein! Oder doch? Albert erinnerte sich nicht, so sehr er sich auch bemühte.

 



Das polnische Mädchen legte das kleine Paket auf den Tisch. Sie tat dies so behutsam, als könne jeden Augenblick etwas darin zerbrechen.



»Patrycja sagt, dass sich in dem Karton etwas befindet, was Sie an früher erinnern würde und was Sie sicherlich schon lange vermisst hätten«, übersetzte Janusz.



Albert schaute etwas genauer auf das Mitbringsel. Er schluckte. Ja, er kannte diesen alten vergilbten Karton. Allein der Gedanke daran, was sich darin verbergen könnte, ließ sein Herz schneller schlagen. Konnte das möglich sein? Konnte es wirklich sein? Während Albert in einer gewissen Bewegungsstarre verharrte, hob das Mädchen vorsichtig den Deckel an, griff bedächtig mit einer Hand in die Schachtel und legte sie im nächsten Augenblick mit einem Lächeln in Alberts Schoß: Vaters alte Elbinger Schlittschuhe.



Albert verschlug es die Sprache. Er war ergriffen vom Anblick. Er rang um Worte. Kein Wort wollte aus ihm heraus, nicht eine Silbe. Albert konnte seine Gefühle nicht mehr verbergen. Sie waren zu stark, alles war zu emotional. Er, der im Leben gelernt hatte, mit Gefühlen hinter dem Berg zu halten, ließ seinen Tränen freien Lauf. Sie kamen wie ein tosender wilder Strom über ihn, der alles, was sich ihm in den Weg stellte, mitreißen wollte.



Albert wandte den Blick zum Fenster. Draußen war ein strahlend blauer Himmel – ein Bilderbuchtag. Er sah, wie ein Arbeiter damit begonnen hatte, die Hecke zu schneiden. Doch er nahm es kaum wahr. Er weinte vor Freude – und er weinte vor Scham. Nach mehr als 60 Jahren konnte er diese geliebten Schlittschuhe in seinen Händen halten, die Schlittschuhe, die ihm, die seinem Vater Willi zu Lebzeiten so viel bedeutet hatten, die er gehütet hatte wie seinen Augapfel und die er doch bei der Flucht zurücklassen musste. Er empfand aber auch Scham darüber, dass er sich dem alten Polen gegenüber so misstrauisch verhalten und dessen Gastfreundschaft so barsch abgewiesen hatte. Fast zärtlich strich er jetzt über den kalten Stahl der Kufen und lächelte dabei das kleine Mädchen an. Er hielt die Schlittschuhe fest in den Händen, so als wollte er sie nie wieder loslassen.



Albert zog ein Taschentuch aus der Hose und schnäuzte sich. Dann wandte er sich Janusz zu.



»Sagen Sie den beiden Damen bitte, dass ich mich unendlich über dieses Geschenk freue und dass ich Ihre Einladung zum Kaffee gerne, sehr gerne annehme.«



Janusz übersetzte, während Albert, Danuta und Patrycja die Stühle rückten und Platz am Tisch nahmen.



»Wenn Sie meinen Gästen bitte etwas zu trinken anbieten würden, Janusz.«



»Ja, gerne.«



Danuta bestellte sich einen Kaffee, Patrycja einen Kakao. Mittlerweile kam auch Heinrich hinzu.



Albert schob den Stuhl zurück und erhob sich.



»Guten Morgen, Heinrich. Du glaubst ja gar nicht, was hier gerade geschehen ist.«



Albert war noch immer gerührt. Heinrich blickte fragend zu ihm hinüber.



»Dieses kleine Mädchen dort.« Albert deutete auf Patrycja. »Dieses kleine Mädchen hat mir soeben Vaters alte Schlittschuhe gebracht.«



»Was? Wirklich? Das gibt es doch gar nicht!«



Darauf war auch Heinrich nicht gefasst.



»Woher hat sie die Schuhe?«



»Das habe ich sie noch nicht fragen können.«



Janusz brachte die bestellten Getränke. Dann nahm er ebenfalls wieder Platz am Tisch. Jetzt dolmetschte Heinrich. Er unterhielt sich eine ganze Weile mit Patrycja. Das Mädchen antwortete lebhaft auf alle Fragen, wedelte aufgeregt mit den Armen und schaute immer wieder zu Albert hinüber. Dabei lächelte sie unentwegt, und ihre hellblauen Augen strahlten.



»Sie sagt, sie hat die Schlittschuhe zufällig beim Spielen in einem alten Schrank auf dem Dachboden gefunden. Ihre Mutter und der Großvater hätten nichts davon gewusst. Sie habe ihnen auch nichts gesagt, weil sie nicht wollten, dass sie im Winter auf den zugefrorenen See geht. Deshalb hat sie es heimlich getan. Die Schuhe hat sie anschließend wieder in dem Schrank auf dem Dachboden versteckt. Nur letzten Winter nicht, da hat sie es vergessen und seitdem hätten die Schlittschuhe unter ihrem Bett gelegen. «



Albert, Heinrich, Janusz, Danuta und Patrycja sprachen noch eine geschlagene Stunde miteinander. Dann brachten Albert und Heinrich die beiden Gäste zum Wagen, den Danuta vor dem Gebäude geparkt hatte. Sie verabschiedeten sich. Als das Auto die Hoteleinfahrt langsam verließ, winkten Albert und Heinrich ihnen noch lang hinterher.



»Ist das nicht eine unglaubliche Geschichte, Heinrich?«



»Ja, das ist es wirklich, Albert.«



Beide warteten noch, bis das Auto dem Blickfeld entschwunden war, und bewegten sich dann wieder zum Hoteleingang.



»So, Albert, was haste denn nach der Überraschung heute so geplant?«, fragte Heinrich schon fast routinemäßig.



»Da fragst du noch, Heinrich? Heute fahren wir zum Kaffeetrinken zu den Wójciks! Wir fahren zum Kaffeetrinken, Heinrich!«







Kaffeetrinken bei den Wójciks





Albert hatte sich sein bestes Hemd aus dem Koffer genommen und angezogen, als er am frühen Nachmittag vor dem Auto stand.



»Wo bleibst du denn?«



Ungeduldig, aber doch scherzhaft trommelte Albert mit den Fingern auf das Dach des Fahrzeuges.



»Mach langsam! Ein alter Mann ist keine Lokomotive nuscht«, lachte Heinrich.



Albert hatte für Danuta einen Blumenstrauß besorgt, den er stolz in Händen hielt. Noch vor dem Mittagessen war er in die Stadt gegangen und hatte ihrem Vater ein Pfeifenset gekauft. Bei seiner jüngsten Visite war ihm nicht entgangen, dass sich der alte Wójcik gerne mal ein gefülltes Pfeifchen gönnte. Für die kleine Patrycja erwarb er im Kaufhaus am Hohen Tor ein kleines Modeschmucktäschchen mit Armreifen, Ohrringen und einer bunt schillernden Halskette.



Albert zog an seiner Krawatte und rückte die Hemdsärmel gerade.



»Was meinst du, kann ich so gehen?«



»Siehst gut aus, fast so, als wolltest du zu deiner eigenen Kommunion«, flachste Heinrich und deutete auf die Beifahrertür: »Komm, steig ein. Du hast’s doch eilig!«



Heinrich nahm den kürzesten Weg nach Klutajny, der über Wernegitten, vorbei an der stattlichen Holzkirche, dem Wahrzeichen der kleinen Gemeinde, führte. Nach zehn Minuten Fahrt erreichten sie das ehemalige Elternhaus. Danuta und Patrycja saßen auf einer Bank vor der Tür, so als hätten sie den Besuch schon erwartet.



Die Begrüßung war herzlich. Albert vermisste den alten Herrn Wójcik.



»Wo ist Ihr Vater?«, fragte er Danuta und schaute hilfesuchend zu Heinrich.



»Er ist beim Bauern gegenüber, wollte schnell noch was holen«, übersetzte Heinrich, der in Windeseile wieder in die Rolle des Dolmetschers schlüpfte.



Nachdem Danuta sie herein bat, gingen sie gemeinsam ins Haus.



»Sie haben die Stube gemütlich eingerichtet.«



Albert machte Komplimente, was bei ihm eigentlich höchst selten vorkam. Sichtlich gut gelaunt fragte er danach, wie alt Patrycja jetzt sei, wo sie zur Schule gehe und was sie später einmal werden wolle. Dann kam ihr Großvater durch die Tür.



Als Wójcik die Gäste erblickte, zog er freudig mit einer Hand seine Mütze vom Kopf. Mit der anderen Hand hielt er etwas fest, was Albert an ein Fotoalbum erinnerte. Dem Umschlag nach zu urteilen, musste es schon ziemlich alt sein. Der Alte reichte es Heinrich und redete kurz mit ihm. Dann begrüßte er die Gäste per Handschlag, während Heinrich mit dem Übersetzen begann.



»Herr Wójcik sagt, dass dies ein Fotoalbum ist, das der Bauer aus der Nachbarschaft nach dem Krieg in dem ihm zugeteilten Haus gefunden habe. Darin befänden sich viele Fotos von den damaligen deutschen Bewohnern des Dorfes aus der Zeit vor 1945.«



Alberts Herz schlug schneller. Das war ja fantastisch. Es musste ein altes Fotoalbum der Lipowskis sein, die früher in Klotainen den Bauernhof gegenüber bewirtschafteten. Ihre Tochter Olga lebte mit ihrer Familie lange Jahre nicht weit ihm von entfernt im Westerwald. Leider war sie vor ein paar Jahren verstorben.



»Darf ist es sehen?«



Heinrich reichte Albert das Album herüber.



»Herr Wójcik bittet uns, dass wir uns doch an den Tisch setzen möchten. Er möchte uns gerne einen Kaffee anbieten.«



Albert legte das Album zur Seite. Alle nahmen Platz am Tisch. Er war liebevoll mit einem blumenverzierten Kaffeeservice gedeckt. In der Mitte der Tafel standen ein Käsekuchen und eine Schokoladentorte. Der alte Wójcik sprach ein paar Worte und deutete auf seine Tochter und die Enkelin.



»Den Kuchen, den haben Danuta und Patrycja gebacken«, dolmetschte Heinrich.



»Meine Mutter konnte auch immer eine vorzügliche Schokoladentorte backen«, erinnerte sich Albert und freute sich auf das erste Stück.



Danuta war in die Küche gegangen, um den Kaffee zu holen.



»Sagen Sie, Herr Wójcik, woher stammen Sie eigentlich?«



Albert war neugierig geworden, seit er diese Leute kennen gelernt hatte.



Der alte Pole rückte den Stuhl, auf dem er saß, näher an den Tisch. Dann begann er zu erzählen.



»Herr Wójcik stammt aus der Region Kresy«, übersetzte Heinrich. »Seine Eltern besaßen dort einen großen Bauernhof, den sie leider verlassen mussten, als man seine Familie von dort umsiedelte. Eines Morgens stand da jemand vor der Tür, erzählte, dass die Familie wegmüsse und was sie mitnehmen durften. Mit einem Pferdewagen wurde alles zum Abtransport an den Bahnhof gebracht. Seine Eltern erhielten einen Hof in Ostpreußen unweit entfernt von Allenstein zugewiesen. Der verfiel jedoch zusehends, weil die Wójciks nicht die geeigneten Gerätschaften besaßen, um das Land zu bewirtschaften.«



Dieses Land zu bewirtschaften, das war nie einfach, das wussten auch Albert und Heinrich. Dafür bedurfte es der Erfahrungen von Generationen. In manchen Landstrichen konnte man mit Maschinen nichts ausrichten, das ging nur mit Pferden.



Heinrich hielt kurz inne. Dann fuhr er mit dem Übersetzen fort.



»Als Wójciks Eltern starben, verfiel der Hof gänzlich. Er bekam später mit seiner Frau diese Haushälfte in Klotainen zugewiesen, die sie noch immer bewohnen. Er werde wohl auch hier sterben, meinte Herr Wójcik, wenn es ihn nicht gerade draußen bei der Gartenarbeit erwischt.«



Zwischenzeitlich kehrte Danuta mit dem Kaffee aus der Küche zurück. Sie schenkte ein, dann stellte sie die Kanne auf den Tisch und gesellte sich zu der Runde.



»Was darf ich Ihnen anbieten?«, fragte sie auf Polnisch und deutete auf den Kuchen.



Albert verstand sofort und zeigte auf den Käsekuchen.



Danuta nahm seinen Teller entgegen und platzierte ein großes Stück Kuchen darauf.



»Sagen Sie, Herr Wójcik, wer hat das Haus eigentlich vor Ihnen bewohnt? Also direkt nach dem Krieg«, fragte Albert.



Heinrich übersetzte Wort für Wort und hörte, was der alte Pole zu sagen hatte.



»Unser Gastgeber sagt, dass er das nicht so genau weiß. Diese Haushälfte hat wohl auch eine Zeit lang leer gestanden.«



»Wie schmeckt Ihnen unser Kuchen?«, wollte Danuta wissen.



»Vorzüglich«, lobte Albert. Er drehte sich kurz zur Anrichte und griff nach dem Fotoalbum, das er zuvor dorthin gelegt hatte.



»Wollen wir doch mal sehen, was dieses alte Büchlein so zu erzählen hat.«



Vorsichtig klappte Albert das Deckblatt zur Seite. Die ersten Fotografien, die er sah, waren alt, sehr alt. Es handelte sich um Hochzeitsfotos, entstanden vermutlich um das Jahr 1900.



»Das sind höchstwahrscheinlich die Eltern der alten Lipowskis!«, mutmaßte Albert, während Heinrich weiter dolmetschte.



Alle am Tisch warteten gespannt darauf, was Albert ihnen zu erzählen hatte. Auch die kleine Patrycia blickte ihn mit großen, wissbegierigen Augen an.



»Schau, und das hier, dass sind sie als Kinder. Das Foto entstand da drüben vor dem alten Kastanienbaum.«



Albert deutete mit dem Zeigefinger zum Fenster.



»Und hier, das ist ihr Hochzeitsbild mit der ganzen Hochzeitsgesellschaft auf dem gepflasterten Innenhof.«



»Ja, das waren damals große Gesellschaften, wenn jemand heiratete«, sprudelte es aus Albert heraus. »Meine Mutter, die war eine gelernte Köchin. Sie hat häufig bei Feierlichkeiten im Dorf in der Küche geholfen. Gefeiert wurde meistens im Freien, im Herbst, dann, wenn die Felder bestellt waren.«

 



Albert blätterte weiter. Er blickte auf ein Foto, das ein kleines Backsteingebäude zeigte.



»Das hier, das sind Fotos, die in den 1930er- und 1940er-Jahren in Klotainen gemacht wurden. Da kann ich mich noch gut dran erinnern. Das da, das war unsere Schule.«



Albert schob das Album näher an Patrycja heran.



»Schau Patrycja, hier bin ich zur Schule gegangen. Ach Gott, und das da auf diesem Foto, das ist unsere alte Klasse.«



Albert war gerührt.



»Hier, Patrycja, das da in der zweiten Reihe auf dem Foto, siehst du, der Lange dort, der mit dem breiten Grinsen im Gesicht, das da, das bin ich.«



Das

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