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7

Das leichte und wärmende Glücksgefühl begleitete ihn den restlichen Tag über.

Die Sitzungen vergingen schnell und als er am Abend die Praxis verlassen wollte, begegnete ihm Carl auf dem Flur.

„So spät bist du doch sonst nicht mehr in der Praxis?“, sprach Paul ihn erstaunt an.

„Es wird Winter und die Golfplätze sperren zu“, antwortete Carl mit seiner sonoren Bassstimme und einem Augenzwinkern, „also bleibt mir abends wieder Zeit, mich im Gegensatz zu Golf mit den unwesentlichen Themen des Lebens zu beschäftigen, wie Terminplanung, Klientengespräche oder der unsäglichen Archivierung meiner Notizbücher.“ Der groß gewachsene, mittlerweile gealterte Herr strahlte schelmisch. „Lass uns noch was trinken gehen“, fügte er hinzu, „haben wir ohnedies schon zu lange nicht mehr getan und gleich um die Ecke hat ein neuer schottischer Pub eröffnet. Die führen gesegnete Single Malt Whiskys.“

Nachdem der Kellner mit schottischem Akzent eine für Paul erschreckend lange Liste unverständlicher Namen von Whiskysorten aufgezählt hatte, war er dankbar, dass Carl kurzerhand für sie beide die Entscheidung traf.

„Zur Feier des Tages genehmigen wir uns einen 18 Jahre alten Macallan. Das ist der Ferrari unter den sanft rauchigen Sorten der Speyside, dem Herzland des schottischen Whiskys“, erklärte er stolz und fügte hinzu: „Wusstest du, dass der keltische Ursprung des Wortes übersetzt Wasser des Lebens bedeutet?“

„Ich wusste nicht mal, dass du ein Kenner bist!“

„Das Ergebnis der Golfreise im letzten Sommer. Mein Golfspiel war grausam, aber der Whisky war großartig.“ Carl lachte auf.

„Und was genau haben wir zu feiern?“, fragte Paul.

„Also“, begann Carl nun etwas zurückhaltend, „ich wollte ohnedies schon länger mit dir darüber sprechen, bislang hat sich aber keine Gelegenheit ergeben.“

Paul sah seinen Freund erwartungsvoll an.

Carl seufzte tief, schob seine Brille auf die Stirn und beugte sich etwas vor: „Die letzten Monate haben mir gezeigt, dass ich langsam alt werde. Lange Zeit habe ich versucht, die Alterserscheinungen einfach zu ignorieren. Aber mittlerweile geht das nicht mehr. Ich vergesse einfach zu viel. Und allzu oft vergesse ich sogar, das, was ich vergessen könnte, wenigstens zu notieren.“ Er lächelte mild. „Meine Konzentration lässt zusehends nach und, was das Schlimmste ist, auch mein Engagement. Mein Herz ist müde geworden. Es schlägt, um es pathetisch zu sagen, nicht mehr mit dem meiner Klienten. Ich verbringe meine Zeit mittlerweile tatsächlich lieber auf dem Golfplatz oder mit einem Buch und Whisky auf der Veranda meines Hauses als mit der Psyche der Menschen. Obwohl mich diese Arbeit ein Leben lang zutiefst erfüllt hat.“

Der Kellner kam mit zwei kleinen, bauchigen Gläsern, in denen die bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte. Nachdem er sie abgesetzt hatte, nahmen die beiden einen kräftigen Schluck, wonach sich Pauls Gesicht zu einer Grimasse verzog. Selbst bei milden Sorten war er den immer noch intensiven Geschmack nicht gewohnt. Carl musste lachen und kam, nun wieder aufgerichtet, mit Elan zum Punkt:

„Ich möchte mich im Frühjahr aus der Praxis zurückziehen und dir die Leitung übertragen.“ Er beobachtete Pauls Reaktion. „Was sagst du?“

Paul war mehr als überrascht. Er wandte sich aus Carls Blickfeld und vor seinem inneren Auge tauchten Bilder und Gedanken der vergangenen Tage auf.

Wie hinter Schleiern die Silhouette eines vertrauten Gebäudes. Der Herr zeigt denen, die ihn suchen, stets einen Weg.

Eins mit allem und von allem zugleich unendlich beschützt und behütet.

Nach einer Weile sagte er mit Bedacht: „Das ist zu früh, Carl.“

Er atmete durch und erklärte: „Ich bin noch nicht so weit. Ich kenne dich gut und lange genug, um mir sicher zu sein, dass du dir einen solchen Schritt reiflich überlegt hast. Und du liegst vermutlich sogar richtig, wenn du meinst, ich könnte das bewältigen. Nur“, es fiel ihm schwer, die passenden Worte zu finden, um den Freund nicht vor den Kopf zu stoßen, „es haben sich auch bei mir in den letzten Wochen Ereignisse zugetragen, die mir zeigen, dass ich dich zuvor leider noch eine Weile im Stich lassen muss. Darüber wollte ich meinerseits mit dir sprechen. Bis vor wenigen Stunden war mir das allerdings noch nicht so klar.“ Er stockte.

„Sprich ruhig weiter“, sagte Carl mit hochgezogenen Brauen. „Ich bin gut in dem, was ich tue. Das weiß ich schon“, holte Paul aus, „ich habe viel gelernt, mein Buch ist ein Erfolg und die Praxisstunden sind voll mit Klienten. Doch“, er suchte nach Worten, „etwas fehlt. Ich kann es nicht genau benennen. Auch nicht nach all unseren Stunden der Supervision, den Jahren der Ausbildung und der umfassenden Kenntnis psychischer Zustände, ihrer Ursprünge und Auswirkungen.“ Er wollte es treffender ausdrücken und wusste, das ging nur mit großer Offenheit. „Zum einen ist da diese Unsicherheit, die mich immer wieder einholt. Besonders in Gegenwart von interessanten Frauen. Zum anderen fühle ich manchmal eine Leere in mir, die ich nur durch übermäßigen Arbeitseinsatz ausfüllen kann. In den Abendstunden, wenn ich allein in meinem Bett liege, bin ich oft so erschöpft und aufgewühlt zugleich, dass der Schlaf sich nur schwer und spät einstellt. Etwas fehlt, Carl. Und ich glaube, ich weiß jetzt, wo ich es finden kann.“ Er hielt inne und blickte seinen Mentor direkt an. „Ich werde nach Nepal reisen und dort im Himalaya nach einer geheimen Tempelschule suchen, in der man angeblich alle Charakteranteile durchleben und sein wahres Selbst entdecken kann.“

Sein Mentor richtete sich auf und wollte etwas einwenden. „Warte noch einen Augenblick, bitte.“ Paul musste seine Gedanken noch konkreter fassen. „Das klingt ein bisschen nach esoterischer Verklärung und hört sich so gar nicht nach mir an, das ist mir schon bewusst. Doch du kennst mich wie kein Zweiter und weißt, dass ich eher zu übertriebener Selbstreflexion neige. Gewiss, man ist immer gefährdet, sich selbst zu betrügen, doch hier verhält es sich anders.“ Er sah Carl mit wachen Augen voll Energie an. „Etwas hat es mit dieser Tempelschule auf sich, das mich in ihren Bann zieht. Du selbst hast immer gesagt: Erst wenn objektiv sinnvolle Entscheidungen durch Synchronizitäten bestätigt werden, erweist sich ein Lebensweg als der richtige. Und damit hast du deinem Namensvetter C. G. Jung alle Ehre gemacht. Was nun diese Reise betrifft, häufen sich die Zufälle auf erstaunliche Weise.“ Er kam zum Schluss. „Worum ich dich bitte ist, dass du deinem Schützling, bevor du ihm deine geheiligte Praxis überträgst, noch etwas zusätzliche Zeit zum Reifen gibst. Es handelt sich vielleicht um ein halbes Jahr, nicht mehr. Danach können wir über alles reden. Glaubst du, so lange noch durchhalten zu können?“

Väterlich legte Carl eine Hand auf Pauls Schulter und antwortete mit seiner beinahe hypnotischen Stimme: „Du weißt, eines meiner Talente war es stets, zu erkennen, wann man dem Schicksal die Führung überlassen muss und wann es besser ist zu intervenieren. Diese Gabe, die Energie des Schicksals zu fühlen, habe ich bis heute nicht eingebüßt. Und was du mir eben erzählt hast, ist voll von dieser Energie und ich sehe dich in deiner Kraft. Ich werde alles tun, um dich auf diesem Weg zu unterstützen.“

8

Arjuns Schriftenglisch war hervorragend. Nachdem auf Pauls erste Mail einige Tage bis zur Antwort vergangen waren und er schon erwogen hatte, sich an eine andere Trekkingagentur zu wenden, lernte er seinen künftigen Bergführer im folgenden Mailverkehr als gebildeten und weltoffenen 35-Jährigen kennen. Arjun ebnete ihm von den Einreiseformalitäten bis zur Reservierung des Hotels in Kathmandu und der Planung der Trekkingtour alle weiteren Hürden.

Als nächstbeste Reisezeit stellten sich dabei die Monate von März bis Juni heraus. Paul konnte somit sein Versprechen Carl gegenüber halten, die Praxis möglicherweise schon im kommenden Sommer zu übernehmen. Zudem hielt er diesen Zeitraum auch für gerade noch leistbar, stand ihm doch noch ein Gespräch mit seinem Bankbetreuer bevor, in dem er um eine vorübergehende Aussetzung der Rate für seinen Wohnungskredit ersuchen musste.

Drei Monate schienen ihm überdies eine ausreichend lange Zeit, um die Tempelschule zu finden und sich den Lehren zu stellen, die sie versprach, bereitzuhalten.

Auf die Frage danach reagierte Arjun in einem seiner Mails jedoch ausweichend, beinahe sogar gekränkt. Man hätte hin und wieder von solch einem Tempel gehört, doch weder er selbst noch seine Kollegen konnten mit Sicherheit sagen, wo und ob er überhaupt existierte. Zudem hätten Berichte, die vereinzelt von Touristen darüber verbreitet wurden, die Schule als spirituell atheistisch und somit für einen tiefgläubigen Hindu als indiskutabel ausgewiesen. Er versprach jedoch trotz seiner Vorbehalte, Erkundigungen einzuholen, um vielleicht doch eine vage Route bestimmen zu können, die Paul seinem Ziel zumindest näher brächte.

Nachdem Paul seinen Flug gebucht hatte, beendeten die beiden vorübergehend ihren E-Mail-Verkehr mit der Vereinbarung, in den Tagen vor ihrem Zusammentreffen in Kathmandu noch die letzten Daten auszutauschen und den Treffpunkt am Airport zu fixieren. Paul war erleichtert, dass so viele ungeklärte Fragen zu den Details seiner Reise ganz unkompliziert beantwortet worden waren.

Bei einem Treffen mit seiner Verlegerin im Café Jansen während der Weihnachtsfeiertage löste sich schließlich zu Pauls Überraschung sogar noch die Sorge über die Finanzierung der Reisemonate.

„Auch wenn ich es“, begann Jasmin Reuter, „besonders jetzt, da Ihre Verkaufszahlen wirklich beeindruckend sind, gar nicht gern sehe, dass wir die geplanten Lesungen und Signierstunden für, wie lange?!“, unterbrach sie sich abrupt.

 

„Höchstens drei Monate“, antwortete Paul zuversichtlich.

„Also für mindestens vier Monate aussetzen müssen“, fuhr sie erfahren fort, „freut es mich natürlich zu hören, dass sich ein so erfolgreicher Jungautor wie Sie auf Recherche für ein neues Buch begibt.“

Paul hatte diese Begründung für seine bevorstehende unerwartete Absenz vorgeschoben, in der Annahme, dadurch, ohne allzu große Einwände, eine Zustimmung von seiner engagierten Verlegerin zu erlangen. Den Beigeschmack der Notlüge konnte er vor sich selbst mit der Aussicht auf einen möglicherweise tatsächlich interessanten neuen Stoff durchaus rechtfertigen.

Reuters Augen funkelten ihn erwartungsvoll an und einmal mehr bewunderte Paul ihren Geschäftssinn, den sie mit Charme und liebenswerter Natürlichkeit so zielstrebig an den Tag legte. „Sie können bei der kommenden ersten Tantiemenabrechnung im Januar mit einer Summe rechnen, die Sie überraschen wird“, fuhr sie stolz mit einem Blick über ihren Brillenrand fort, „und ich wäre möglicherweise nicht abgeneigt, sogar einen Vorschuss auf Ihr neues Werk in Betracht zu ziehen.“ Paul war erstaunt über dieses großzügige Angebot, empfand jedoch im ersten Moment einen gewissen inneren Widerstand.

Er dachte an Lenas Bruder, der berichtet hatte, dass niemand, der den Tempel je gefunden hatte, den Weg dorthin hätte preisgeben dürfen. Und diese Geheimhaltung müsste sich wohl auch auf die Inhalte der Lehren beziehen, anderenfalls hätte man doch bereits etwas darüber gelesen.

„Ihr Angebot ist sehr verlockend, doch muss ich es leider ausschlagen“, formulierte er höflich. „Ich weiß nicht, was mir in Nepal begegnen wird. Ich hoffe etwas“, er suchte die richtigen Worte, „etwas Wesentliches zu erleben. Doch gerade das Wesentliche geschieht immer, bevor etwas geäußert wird oder währenddessen auf einer ganz anderen Ebene. Und danach, wenn es mal geschehen ist, können Worte oft nur den flüchtigen Eindruck der Erinnerung wiedergeben“, formulierte er den oft gehegten Zweifel an seiner schriftstellerischen Fähigkeit. „Ich kann also nicht versprechen, ob ich nach meiner Rückkehr in der Lage sein werde, etwas Sinnvolles darüber zu schreiben. Und ehrlich gesagt glaube ich vor allem, es würde mir einfach zu viel Druck machen.“

„Klingt mir ein wenig nach Ausflucht“, erwiderte Reuter entspannt, „doch wie auch immer, versprechen Sie mir, es wenigstens zu versuchen.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, beugte sich vor und sagte eindringlich: „Sie müssen weiterschreiben, Paul. Alles andere wäre eine Schande bei so viel Talent.“

9

Carls Villa in Esch-Auweiler, einem nördlichen Stadtteil von Köln, nahe des Escher Sees, glich einem Herrenhaus und war mit ihren parkähnlichen Gärten und der ausgedehnten Südterrasse seit Generationen im Besitz der Familie Seyfried.

Carl hatte beschlossen, Pauls vierunddreißigsten Geburtstag Ende Januar als Anlass zu nehmen, um das Praxisteam zu einem Abendessen in sein Domizil einzuladen. Unterstützt von seiner treuen Haushälterin Mathilda lebte er vorwiegend allein in den mit Holz getäfelten weitläufigen Zimmern des ansehnlichen Hauses. Seine geliebte Frau war schon vor Jahren einem langen Krebsleiden erlegen und so nahm er jede Gelegenheit wahr, um den leeren Räumen durch die Einladung von Freunden Leben einzuhauchen.

Er selbst, Suzan, die Physiotherapeutin des Teams, deren Lebensgefährtin Annika, eine Quantenheilerin, und Nora, die systemische Beraterin, hatten sich im Vorfeld abgesprochen und sämtliche Informationen über Trekking in Nepal zusammengetragen. Sie wollten Paul mit allem beschenken, was er auf seiner Reise an nötigen Utensilien brauchen könnte. Die Erkundigungen bei zahlreichen Freunden und nepalerfahrenen Wanderern ergab vor allem eine Hauptregel: Reise mit leichtem Gepäck.

Was schließlich am Gabentisch übrigblieb, war ein leuchtend roter, gerade mal zur Hälfte gefüllter, Hightechrucksack. Bereits vor Pauls Ankunft hatten die Freunde das geräumige Speisezimmer mit einem glitzernden Spruchband und bunten, garantiert echt nepalesischen Gebetsfahnen aus einem Esoterikladen dekoriert. Den ovalen Esstisch zierten üppige Kerzenständer, Silberbesteck und Porzellanerbstücke aus Carls Familienbesitz.

Nora hatte den Wachdienst auf der Eingangsveranda übernommen und so wurde Paul beim Betreten des Hauses von einem aus voller Kehle Happy Birthday singenden Quartett mit Sprühkerzen in Händen förmlich erschlagen. Dass einzelne Töne entsetzlich schief gerieten, machte den Auftritt, der üblicherweise in großem Ernst versammelten Praxisgemeinschaft, umso liebenswerter und endete schließlich in ausgelassener Heiterkeit.

„Und das alles wegen einer Frau?“, fragte Nora zu fortgeschrittener Stunde schon mit leichtem Zungenschlag. „Wir sollten noch mal deine Urfamilie aufstellen.“

Das Festessen, zu dem Carl die besten Tropfen aus seinem Weinkeller aufgetischt hatte, lag bereits hinter ihnen. Nun saß die kleine Gruppe gemütlich im Salon vor dem offenen Kamin. Das knisternde Feuer verbreitete seine wohlige Atmosphäre und nahm der in die hohen Räume einziehenden Kälte die Schärfe.

„Natürlich“, entgegnete Paul nicht minder angeheitert, „ich reise knapp zehntausend Kilometer, kämpfe mich tagelang mit Sauerstoffmangel durch die unwirtlichste Region dieses Planeten, um dort schließlich, ganz zufällig, meiner Traumfrau in die Arme zu fallen.“

„Ach, wie romantisch“, meldete sich die sensible Annika zu Wort.

„Dabei hättest du das gar nicht nötig!“, warf Suzan schnippisch ein, „jede dritte Klientin, die dir im Flur begegnet, fragt mich danach, ob du noch zu haben bist.“

„Das hat uns immerhin eine Menge Klientinnen eingebracht“, brummte Carl lachend und wollte Paul Whisky nachschenken, der jedoch mit einer freundlichen Geste ablehnte.

„Kann mir jetzt bitte jemand erklären, wozu die Wäscheleine in meinem tollen neuen Rucksack gut ist?“, versuchte Paul das Thema zu wechseln.

„Natürlich“, antwortete Suzan todernst, „die dient dazu, deine Angebetete an die Leine zu nehmen, dass sie dir nicht wieder davonläuft. Hatten wir ja schon das eine oder andere Mal.“ Das schallende Gelächter wurde von Annika unterbrochen, die den Opfern ihrer geliebten Partnerin stets zu Hilfe eilte, sobald sie im angetrunkenen Zustand zu persönlich wurde.

„Also“, begann sie laut ausholend, erhob sich und brachte damit die Freunde zum Verstummen, „hier die Gebrauchsanleitung unserer, nach umfangreichen Recherchen akribisch ausgewählten Trekkingausrüstung: Rucksack und Wander-schuhe verstehen sich von selbst. Die Schuhe kannst du übrigens ganz unkompliziert umtauschen, falls sie nicht passen sollten. Wir haben vorsichtshalber die Rechnung aufbewahrt. Hinter der Flasche erstklassigem Single Malt, die natürlich Carl beigesteuert hat, verbirgt sich allerdings schon ein wertvoller Hinweis.“

„Nämlich der, dass du nicht vergisst, den einen oder anderen feuchtfröhlichen Abend einzustreuen“, unterbrach Carl ihren Redefluss.

„Lass sie das erzählen“, stellte sich jetzt Suzan ihrer Geliebten zur Seite.

„Schon gut, schon gut“, winkte Carl mit gespieltem Ernst ab. „Weiter in der Liste“, fuhr Annika fort, „der Whisky ist nicht so sehr für feuchtfröhliche Abende gedacht – sonst müsstest du ja auch den ganzen Rucksack mit Flaschen anfüllen, sondern vor allem zur täglichen Desinfizierung deiner Mageninhalte. Ohne Whisky überlebt unsereins Nepal angeblich nicht. Also morgens und abends einen kräftigen Schluck zur Mundund Magenspülung. Kann mir übrigens noch jemand Wein nachschenken? Man trocknet ja völlig aus, wenn man so viel reden muss.“

Carl ließ sich nicht zweimal bitten.

„Danke, großer Meister“, sagte Annika mit einer Verbeugung und fuhr nach einem ordentlichen Schluck fort.

„Jetzt also zur Wäscheleine: Als wichtigste Regel wurde uns aufgetragen, dir jedes überflüssige Gepäckstück auszureden. Und weil sonst der Rucksack bei den Strapazen des Aufstieges auf die Dächer dieser Welt einfach zu schwer wird, wirst du wohl oder übel nicht umhinkommen, deine spärliche Wäsche ab und an zu waschen. Da du aber deinen einzigen Slip am nächsten Tag wieder brauchen wirst, muss selbiger die Nacht auf der Leine verbringen. So einfach ist das.“

„Und ich darf nicht vielleicht zwei Slips mitnehmen?“, warf Paul amüsiert ein.

„Da hat er recht. Das müssen wir noch mal recherchieren.“, meinte Nora todernst.

„Sicher darf er zwei Slips mitnehmen“, schloss Suzan trocken an, „sonst hat er ja nichts zu wechseln, wenn das Höschen beim Liebesspiel feucht wird.“

Nun konnte sich auch Paul nicht mehr halten und verschüttete beinahe den letzten Schluck aus seinem Glas.

Annika drückte ihrer Gefährtin im allgemeinen Gelächter einen Kuss auf die Lippen und flüsterte für alle hörbar: „Ich geh gleich mit dir aufs Zimmer, wenn du so weitermachst.“

„Tut euch keinen Zwang an“, sagte Carl, „die Zimmer sind ohnedies für euch bereit, die Betten frisch bezogen und Mathilda ist so einiges gewohnt.“

„Aber zuvor muss ich die Liste noch abarbeiten“, entgegnete Annika, „ich bin schließlich noch nicht durch.“

„Aber mach’s kurz“, sagte Carl, der noch nüchtern genug war, um eine kleine Spitze anzubringen, „Deine Frau ist wieder mal ganz aus dem Höschen.“

„Jetzt ist aber gut“, unterbrach Nora die ausgelassene Stimmung, „schließlich feiern wir Pauls Geburtstag und sollten, wenn jemanden, dann vor allem ihn verwöhnen.“ Sie hatte schon lange ein Auge auf Paul geworfen, doch war dieser ihren dezenten Avancen stets charmant ausgewichen.

„Du hast völlig recht“, nahm Annika das Wort unter fortschreitendem Einfluss des Alkohols wieder auf, „also Paul, geliebter Paul, zum Abschluss noch zur Stirnlampe und den Batterieboxen: Die haben da einfach zu wenig Strom. In Nepal. Nicht nur hoch oben auf den Bergen, sondern überhaupt, im ganzen Land. Ja, so ist das“, sie schlug abschließend einen pathetischen Ton an, „und damit du uns unbeschadet erhalten bleibst, möge dieses Licht auf deiner Stirn dir stets deine steilen Wege erleuchten. So, habe fertig, danke.“ Unter Gelächter und Applaus sank sie sichtlich erschöpft in ihr antikes Polstermöbel.

10

Eingehüllt in Decken, mit Wintermänteln, Schals und Mützen bekleidet, standen Paul und Carl eine gute Stunde später auf der Südterrasse. Paul hatte sich noch zu einem letzten Schluck Whisky überreden lassen und auch zu einer Joya de Nicaragua, Carls Lieblingszigarre.

Die Nacht war klar und der Mond warf sein helles Licht auf den verschneiten Park, der sich weitläufig vor ihnen ausbreitete. Einzelne Skulpturen aus Schnee, geformt von den darunter gelegenen Hecken und Büschen, hoben sich in sanften Konturen glitzernd von der Ebene ab.

Die beiden Männer pafften ihre Zigarren und genossen die ersten Momente von Ruhe an diesem ausgelassenen Abend. Nach einer Weile unterbrach Carl die Stille:

„Deine Klienten sind alle informiert?“ Er wollte kurz auf die offenen Themen der Praxis zu sprechen kommen.

„Es sind nur eine Handvoll“, ging Paul darauf ein, „die du bitte während meiner Abwesenheit betreust. Einen Teil kann ich noch in den nächsten Tagen abschließen und bei den Verbleibenden eine Unterbrechung gut verantworten.“ Pauls Gedanken kreisten um die kommenden Wochen mit all den Vorbereitungen, die noch für die Reise zu treffen waren.

„Was genau ist es, das dich so dorthin zieht?“, fuhr Carl fort und ließ, ganz routinierter Therapeut, seinem Schützling lange Zeit für die Antwort.

„Es reicht nicht, Carl“, antwortete Paul schließlich. „Unser Bemühen dreht sich ständig darum, Störungen der Psyche zu beheben, die irgendwann lange zuvor entstanden sind. Wir versuchen etwas zu heilen, dessen Ursprung bisweilen Generationen zurückliegt oder der Kindheit, dem Elternhaus, der Schulzeit entstammt. Unsere Arbeit beginnt oft erst dann, wenn es manchmal bereits zu spät ist. Doch aus all unseren Erfahrungen und all dem Wissen können wir noch immer keine verlässlichen Regelwerke zur Verfügung stellen, die den Menschen dabei helfen, ihren psychischen Nöten vorzubeugen.“ Langsam erwachte sein Feuer. „Wir haben das Wichtigste vergessen, Carl. Man hat uns gepredigt von einem mächtigen Mann im Himmel und seinen Kindern auf Erden, die für ihn gekreuzigt, unterdrückt und vertrieben wurden. Man hat uns geschult im Handwerk des Schnürsenkelbindens, des Radfahrens und des Brotschneidens. Man hat uns unterrichtet in Mathematik, Physik und Biologie. Man hat uns gelehrt, Autos, Fernseher und Maschinen gigantischen Ausmaßes zu bedienen. Man hat uns obendrein die Zugangscodes zum gesammelten Wissen der Menschheit übergeben. Man hat uns veraltete Gebote und technisch wissenschaftliches Handwerk beigebracht.“ Er hielt einen Augenblick inne und fuhr sich über die Stirn. „Doch, Carl, niemand konnte uns zur rechten Zeit während der Jahre unseres Großwerdens lehren, wer wir in der Tiefe unseres Wesens in Wahrheit sind. Und wie wir unsere Gedanken, Gefühle und Körper führen oder bedienen müssen, um die vielen Anlagen, die in uns stecken, angemessen zu verwirklichen. Wir haben das menschliche Handwerk nicht erlernt und darum auch gar keine Chance, nicht irgendwann neurotisch, ängstlich, einsam, depressiv oder einfach nur traurig zu werden.

 

Wir sind Opfer unserer Herzen, die von Opfern ihrer Herzen geschult wurden.“

Der Mond war gerade hinter einer Nebelbank verschwunden und es war Paul, als würde er hinter den Schemen der plötzlichen Dunkelheit einmal mehr etwas Vertrautes erkennen. Tief aus seinem Inneren drang ein Lächeln hervor und zeigte sich als einzelne Träne, die ihm über die Wange lief. „Ich glaube, dass es bei all den bereits bekannten Ansätzen der psychospirituellen Bewusstseinssteuerung noch etwas mehr geben muss, etwas, das tiefer reicht, wesentlicher ist und sich auch von Kindern anwenden lässt. Und dieses Etwas muss grundlegend mit der Steuerung unserer Herzen und Körper, mit unserem ganzen Charakter zu tun haben.“ Er kam zum Ende. „Das, Carl, ist es, was mich zum Tempel zieht.“

Da er es vorzog, im eigenen Bett zu schlafen, ließ sich Paul von einem Taxi nach Hause fahren. Er konnte sich noch gar nicht vorstellen, wie er die vielen Monate in fremden, kargen Zimmern ohne den Schutz seiner vertrauten vier Wände würde überstehen können.

Zudem wollte er einen Morgen im Kreis der zwar liebenswerten, doch für ihn auch anstrengenden Frauengruppe vermeiden. So sehr der Abend ihn amüsiert und geehrt hatte, fühlte er sich besonders dem angriffigen Wesen von Suzan immer etwas zu hilflos ausgeliefert.

Als er, vor dem Badezimmerspiegel stehend, flüchtig sein Gesicht betrachtete, blieb er kurz in seinem Blick gefangen. Oft empfand er bei der Betrachtung seines Spiegelbilds keinerlei Regung, doch diesmal schienen ihm seine Augen, trotz des Alkohols und der späten Stunde, überraschend klar und leuchtend. Er stand etwas gebückt mit seitlich geneigtem Kopf, hatte schon Pyjama und Pantoffel übergestreift und verharrte so eine Weile.

Er stellte sich vor, wie Lena ihn ansehen würde. Seit Wochen waren die Gedanken nun plötzlich ganz bei ihr.

In seinen Augen im Spiegel sah er ihre Augen, als würde sie ihn durch ihn hindurch betrachten. Als würden die Augenpaare zu einem werden. Ich sehe dich, fiel ihm ein Satz aus einem seiner Lieblingsfilme ein. „Ich sehe dich“, sagte er leise zu seinem Spiegelbild.

Im selben Augenblick noch fand er sich schrecklich rührselig und tadelte seinen Hang zu romantischer Verklärung. Er wischte mit der Hand über den Spiegel, als wollte er ihn, unter dem nach einem heißen Bad beschlagenen Glas, wieder zum Vorschein bringen und stapfte ins Schlafzimmer mit den cremefarbenen Wänden und seinem gemütlichen Naturholzbett.

Er war zu müde, um noch zu lesen, und nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, fielen ihm schnell die Augen zu.

Sein letzter Gedanke in dieser Nacht war, dass er Lena wohl niemals wiedersehen würde – denn nach noch mal vier Monaten ohne Kontakt hätten sich ihre Lebenslinien gewiss zu weit voneinander fortbewegt.