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15

Am darauffolgenden Tag zogen die fremden Eindrücke der über siebenhunderttausend Einwohner zählenden Metropole an Paul vorbei.

An der Seite von Arjun besuchte er Swayambhunath, den großen Tempelkomplex im westlichen Stadtteil, der zugleich eine buddhistische und hinduistische Heiligenstätte war. Auf einem Hügel gelegen, galt die Anlage als eines der ältesten religiösen Bauwerke der Welt. Das Alter der inneren Heiligtümer, im besonderen der Stupa, die mit ihren zwei Türmen von nahezu ganz Kathmandu aus zu sehen war, wurde auf über zweieinhalbtausend Jahre geschätzt.

Bevor Paul jedoch die Treppe zum Tempel emporstieg, die, wie Arjun ihm erklärte, ebenso viele Stufen wie ein Jahr Tage hatte, bewunderte er an ihrem Fuße auf einer Steinplatte die Fußabdrücke Buddhas.

Im Inneren des Tempels traf er auf Hunderte Gläubige, die in traditionellen Ritualen mit monotonem Gesang im Gebet versunken ihre Religion praktizierten. Die Verankerung der Bevölkerung mit ihrem Glauben schien Paul auf geradezu beängstigende Weise intakt. Schrieb er doch jeder Form der Abhängigkeit von religiöser Verklärung eine proportional entgegengesetzte Entwicklung des individuellen Bewusstseins und der Eigenverantwortung zu. Während seines weiteren, ausgedehnten Rundgangs durch die Anlage verschenkte Paul zahllose Ein-Dollar-Scheine an völlig verarmte Ausgestoßene, die ihn immer wieder um Almosen bettelnd umlagerten.

Nicht minder staunte er über die vielen Affen, die den Touristen verspielt und frech ihre Lunchpakete stahlen. Aufgrund der großen Population der drolligen Säugetiere war der Anlage auch der Beiname Affentempel verliehen worden.

Am Rückweg ins Stadtzentrum erlebte Paul am Ufer des Bagmati, einem Fluss, der durch die Stadt dem Ganges zuströmte, eine weitere Szene des ihm so fremden gesellschaftlichen Kodex: die öffentliche Beisetzung eines Verstorbenen. Von Angehörigen auf einen flachen, rechteckigen Scheiterhaufen gebettet und mit nassem Stroh bedeckt, wurde der Körper unter den Blicken zahlreicher Schaulustiger verbrannt. Danach wurde seine Asche in den Fluss gekehrt.

Wenige fünfzig Meter flussaufwärts badeten ausgelassene Kinder mit Bällen spielend im selben Wasser und Frauen in bunten Saris wuschen ihre Wäsche darin.

Paul enthielt sich jeder Beurteilung des Erlebten, hätte er doch gleich welche Form der Einschätzung als anmaßend und fehl am Platz empfunden.

Am frühen Nachmittag ließ ihn Arjun eine Weile in einem der Straßencafés warten, um mit Pauls Reisepass von den zuständigen Ämtern noch die letzten Genehmigungen für die Weiterreise ins Landesinnere einzuholen.

Wie im Flug verging die Stunde mit der Beobachtung einzelner Männer- und Frauengruppen, die in den angrenzenden Cafés unter steter Trennung der Geschlechter wild miteinander diskutierten oder entspannt erzählten, aßen, tranken und lachten. Später am Tag schlängelte er sich, wieder begleitet von Arjun, durch den von lärmenden Touristen und Einheimischen völlig überlaufenen Bazar. Paul fand sogar einen Stand, an dem Shilas verkauft wurden, bekam jedoch keinen mit gold-gelbem Filament zu Gesicht.

Da er sich vorgenommen hatte, die Eindrücke seiner Reise in Notizform festzuhalten, erstand er ein kleines in Leder gebundenes, mit Prägedruck verziertes Büchlein.

Gegen Abend aßen die beiden Männer dann in einem Restaurant, das für seine nepalesischen Spezialitäten bekannt war. Der vielen ausländischen Gäste wegen, waren die Speisen, wie Arjun beschwor, schonend zubereitet.

Den abschließenden Drink nahmen sie in einem der zahlreichen Internetcafés zu sich. Nebenher verschickte Paul eine kurze Mail an seinen Vater auf La Gomera und auch an Carl. Zuvor musste er sich allerdings etwas gedulden, da der Strom bald nach dem Betreten des Cafés wieder ausgefallen und das zugehörige Notaggregat defekt war.

Die Mail an seinen Vater löste unerwartet Traurigkeit aus. Sein alter Herr schien ihm plötzlich viel zu fern und die Zeit, die ihm blieb, um das eine oder andere Gespräch zu führen, bedenklich kurz.

In den letzten Jahren war Carl ihm zum zweiten Vater geworden. Auch wenn beiden bewusst war, dass es sich dabei um eine klassische Übertragung handelte, minderte das nicht die Qualität ihrer innigen Beziehung.

„Das hat Kathmandu so an sich“, unterbrach Arjun, der geduldig gewartet hatte, feinfühlig seine Gedanken. „So viel geballte spirituelle Kultur wühlt einen mitunter auf. Kommen Sie, wir trinken ein Glas heißen Roksi. Der wärmt die Seele.“ Gern ließ Paul sich dazu überreden, den nach verdünntem Korn schmeckenden Schnaps zu probieren, und tatsächlich gingen ihm die Zeilen seiner Mails danach leichter von der Hand.

Kurz nach zehn Uhr abends saß er schließlich mit angezogenen Beinen und der Stirnlampe am Kopf auf dem Bett. Mit den ersten Notizen über die vergangenen Tage wollte er noch sein neues Schreibbuch einweihen.

Er hatte Carls Rat, den einen oder anderen feuchtfröhlichen Abend zu verbringen, nicht vergessen. Und da er nun schon vorgebaut hatte, beschloss er, noch etwas mehr zu trinken und sich direkt aus der Whiskyflasche, die auf dem Nachtkästchen neben dem Bett ihren Platz gefunden hatte, den einen oder anderen weiteren Schluck zu genehmigen.

Zudem hielt er diesen Akt, um etwaig noch anstehenden seelischen Nöten vorzubeugen, für dringend angebracht.

16

Das ehemals helle Blau des völlig veralteten Toyota Überlandbusses aus den Siebzigerjahren war von Dellen und Roststellen übersät. Er war bis zum Bersten mit Menschen und Gepäckstücken gefüllt.

Paul und Arjun hatten im Fond des Busses noch zwei Plätze ergattert. Dicht aneinander gedrängt saßen sie nun auf abgenützten Plastiksitzen an einem der Fenster.

Schon nach wenigen Kilometern stadtauswärts empfand Paul, noch etwas geplagt von den Auswirkungen der Schnäpse, die Geräuschkulisse als unerträglich. Heftig aufeinander einredende Einheimische, aufgeregtes Geschrei von Kindern, Hupen und Motorengeräusche des enormen Verkehrsaufkommens und die alles überlagernden Soundeffekte eines Martial-Arts-Movies, das via Monitor über dem Kopf des Fahrers ausgestrahlt wurde, ergaben eine geradezu infernalische Symphonie.

Zudem schien ihm der dichte Straßenverkehr auf der holprigen Überlandstraße ohne geordnete Verkehrsregelung auskommen zu müssen. Immer wieder staunte er über abrupte Bremsmanöver und die darauf durch offene Fenster folgenden heftigen Diskussionen der Fahrer. An den Straßenrändern sah er scheinbar wahllos abgestellte Fahrzeuge, neben denen Männern in Gruppen rauchend ihre Schwätzchen hielten. Zusteigende Mütter gaben ihre Babys unbekümmert an Fremde weiter, währenddessen sie ihr Gepäck verstauten. Oft fanden die Kleinen, nachdem sie durch den halben Bus gereicht wurden, erst wieder etliche Minuten später den Weg über fremde Hände zurück zu ihren Müttern.

Der Lärmpegel war ohrenbetäubend, an Schlaf nicht zu denken und es war Paul ein Rätsel, wie er die, von Arjun angekündigten, neun Stunden Busfahrt überstehen sollte.

Immer wieder blieben seine Blicke an Alltagsszenarien und beeindruckenden Landschaften hängen, die vor den Fenstern vorbeizogen.

Die Armut der Bevölkerung stach allerorts ins Auge. Kärgliche Behausungen, wahllos in unregelmäßigen Abständen, aus Wellblech und Lehmziegeln an die Straße gestellt, waren meist an der Front unverbaut und gaben den Blick auf wenige Quadratmeter Innenraum frei. Mehrere Schlafplätze, Erdkuhlen, die als Abort dienten, und daneben gelegene Feuerstellen, auf denen gekocht wurde, reihten sich eng aneinander.

Ging die Fahrt durch kleinere Dörfer, wechselte die Szenerie und wurde wieder lebendig und übervölkert. Die bunten Saris der Frauen bestimmten dabei mit ihren teils grellen Farben das Bild.

Je länger die Fahrt andauerte, desto häufiger wand sich die Straße üppig bewachsene Steilhänge entlang.

Die Schluchten, oft hart an den Straßenseiten abfallend, waren von beschaulichen Bächen und Flüssen durchzogen, die sich durchs Land schlängelten.

Mit völlig verschwitztem Oberhemd vermischten sich im Lauf der Zeit Eindrücke, Farben und Gerüche in Pauls Wahrnehmung und ergaben einen Flickenteppich, der ihn mehr und mehr wie ein klebriger Mantel umhüllte.

Vier Stunden später war wider Erwarten alles, was ihn zuvor so schreiend bedrängt hatte, zur gewohnten Monotonie geworden und er döste zunehmend abgestumpft vor sich hin.

Zwischendurch fielen ihm sogar die Augen zu und nach einer weiteren Stunde übermannte ihn schließlich tiefer Schlaf.

An ihrem Zielort angekommen, musste Arjun ihn sogar etwas unsanft wecken.

Paul schreckte desorientiert auf, wehrte sich kurz, entschuldigte sich aber gleich, als er realisierte, wo er sich befand und dass alles seine Ordnung hatte.

Der Bus war zum Stillstand gekommen, die Fahrgäste stiegen aus und nachdem Paul seine Füße auf festen Grund gesetzt hatte, bestaunte er überwältigt die entfernt aufragenden schneebedeckten Giganten. Ihre Gipfel waren vom untergehenden Sonnenlicht in zartes Orange getaucht und hoben sich mit scharfen Konturen vom indigoblauen Abendhimmel ab.

Das Dorf Banglung am Unterlauf des Kali Gandaki unterschied sich nicht wesentlich von den Außenbezirken Kathmandus, wie sie Paul bei seiner Fahrt vom Flughafen ins Zentrum erlebt hatte.

Einfache Steinhäuser mit verwitterten Holzaufbauten reihten sich an einer einzigen Straße entlang aneinander. Verwaschene Farben, verfallene Mauerwerke, trockene Schotterwege und schiefe Holzbalken, die überall als Stützen eingesetzt waren, zeichneten dasselbe Bild verbrauchten Reizes.

Über den Köpfen der Passanten warfen bunt gemischte Reklametafeln ihr flackerndes Licht auf die schmalen Gehsteige.

 

Männergruppen unterhielten sich in Straßencafés, Frauengruppen schlenderten mit ihren Kindern an den Händen die Straße entlang, Touristen feilschten an den wenigen Verkaufsständen, um alles, was sie für ihre bevorstehenden Trekkingtouren noch auf Vorrat besorgen mussten.

Überall traf man auf Lastenträger, sogenannte Porters, die ihre schweren, randvoll gefüllten Tragesäcke mit angespannten Nacken durch einen Gurt, der über die Stirn führte, auf dem Rücken des Weges schleppten.

Am Rand des Dorfes, direkt am Eingang des Gandakitales, hatte Arjun die Zimmer für die Nacht reserviert.

Die Herzlichkeit der Bevölkerung erstaunte Paul einmal mehr, als er die schlichte Behausung betrat und mit Ingwertee, Hefegebäck und offenem Lachen in faltigen Gesichtern begrüßt wurde.

Das Nachtmahl bestand aus einem Reisgericht mit frischem Gemüse und einfachem Fladenbrot, einer Kost, mit der er sich in den kommenden Wochen würde vorwiegend begnügen müssen.

Auf der Pritsche sitzend, in einer mit modrigem Holz der Tränenkiefer vertäfelten engen Kammer, schloss Paul den Tag mit einem Eintrag in sein Büchlein.

Er hatte beschlossen, sowohl die paar Zeilen als auch den Schluck Whisky vor dem Einschlafen als kleines, allabendliches Ritual einzuführen.

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„Guten Morgen, mein Freund!“ Arjun strahlte mit einer Energie, die Paul nicht annähernd imstande war aufzubringen. Er fühlte sich im Gegenteil, als hätte er nur wenige Stunden Schlaf hinter sich. Nachdem der den kleinen Speiseraum betreten und einen Blick auf den uralten Klingelwecker am Fenstersims geworfen hatte, stellte er überrascht fest, dass er damit auch richtig lag.

„Es ist fünf Uhr am Morgen!“, rief er Arjun in gespielt vorwurfsvollem Ton über den Frühstückstisch hinweg zu. „Warum hast du mich geweckt? Was, um alles in der Welt, wollen wir so früh?“

„Wir wollen uns auf den Weg machen, mein Freund. Es gibt nichts Schöneres auf dieser Welt als Sonnenaufgänge im Himalaya. Das willst du doch nicht verpassen?“

„Es hätte nicht unbedingt gleich der erste sein müssen.“ Er blickte zum kleinen Holzfenster auf der anderen Seite des Raumes, bückte sich vor und sah voll Staunen durch die verschlierte Glasscheibe, wie das erste, geradezu magische Licht des Tages die Berghänge überströmte. „Andererseits muss ich dir recht geben. Das ist wirklich atemberaubend.“

„Und das ist noch gar nichts gegen das, was dich in den kommenden Tagen erwartet. Glaub mir, das wirst du dein Leben lang nicht vergessen.“ Er lachte fröhlich und war sich nicht annähernd bewusst, wie sehr er damit recht behalten sollte.

In Absprache mit Arjun hatte Paul auf einen Porter verzichtet. Den kleinen Trolley mit den zusätzlichen Reiseutensilien hatte er in Arjuns Wohnung unterbringen dürfen und so blieb ihm für die Tour nur der rote Trekkingrucksack. Er traute sich zu, die mäßige Last auf seinen Schultern auch in steilem Gelände und nach mehreren Tagen selbst tragen zu können.

Für die Verpflegung des Zwei-Mann-Teams wäre in Dörfern und Lodges auf der Route, die vor ihnen lag, ohnehin gesorgt. Paul hoffte, sollte er den Tempel tatsächlich finden, auch dort mit wenigen Utensilien das Auslangen zu finden. So bestand ihr Gepäck, neben den nötigsten Bekleidungsstücken wie Unterwäsche, Shirts, Pullovern, wetterfesten Überhosen und Anoraks sowie einer weiteren Flasche Whisky, vorwiegend aus Wasserflaschen und Batterien. Paul hatte sogar drei Slips dabei.

Während der ersten Etappe ihrer Wanderung wurden die beiden vom satten Grün der subtropischen Landschaft und weitläufig angelegten Reisterrassen umgeben. Die anhaltende Stille, die sie schon kurz nach dem Verlassen des Dorfes einhüllte, wurde nur vom Tosen zahlreicher Wasserfälle unterbrochen, die sich über schroffes Gestein wild rauschend in die Tiefe ergossen.

Paul empfand inmitten dieses Wechselspiels aus beschaulicher Einkehr und lebendiger Natur zum ersten Mal in dem fremden Land das Gefühl, angekommen zu sein.

Mit ruhigen Schritten marschierten die beiden vor sich hin und ließen zahlreiche andere Wanderer an sich vorbeiziehen.

„Die holen wir alle noch ein“, erklärte Arjun, „spätestens über viertausend Metern geht ihnen nämlich im wahrsten Sinn des Wortes die Luft aus.“ Er lächelte verschmitzt und ergänzte: „Außerdem müssen wir uns an die Höhe langsam gewöhnen.

Das wird uns am besten vor der Schwindelkrankheit schützen. Alles maßvoll, Schritt für Schritt und Atemzug für Atemzug.“

Der Weg wand sich das ausgedehnte Flussufer entlang. Bergauf und bergab folgte Paul seinem schon zum Freund gewordenen Trekkingführer an Eichenwäldern und Farndschungeln vorbei über unendlich scheinende Ebenen wie auch durch Gärten knorrig verwunschener Baumgruppen.

Arjun hatte Ramchandras Bericht einige Anhaltspunkte entnehmen können, die ihre Route zumindest bis zu einer gewissen Region vorzeichnete.

Die nahezu hundert Kilometer lange Wegstrecke würde sie Richtung Thorong La führen, dem höchsten, dauerhaft begangenen Pass der Welt mitten im Annapurna-Massiv. Den Pass selbst würden sie jedoch nicht überqueren, da sie einige Kilometer davor Richtung Tilicho Lake, einem ebenso hochgelegenen Bergsee, abzweigen müssten. Nach einer weiteren Wegstrecke über den See hinaus wären sie dann allerdings bei ihrer Suche auf sich allein gestellt, weil ab dieser Zone Ramchandras Erinnerung ausgesetzt hatte. Sie wusste nur noch zu berichten, dass ihre Mutter sie in diesem, schon gut viereinhalbtausend Meter hoch gelegenen Areal stets in ein festes Tuch gewickelt auf ihren Schultern weitergetragen hätte. Dabei wäre sie immer in tiefen Schlaf gefallen und hätte in keiner Weise mehr abschätzen können, welche Richtung ihre Mutter danach für wie lange eingeschlagen hätte.

Arjun stellte, sofern alles im Rahmen des Erwarteten verlaufen würde, für den Aufstieg bis zu diesem Punkt eine Dauer von acht Tagen in Aussicht.

Zur dritten Nacht ihrer Tour wurden die beiden in einer Lodge direkt am Fluss willkommen geheißen. Gleich nach der Ankunft musste sich Paul eine gute Stunde in dem üblichen, schlichten Zimmer ausruhen und empfand die engen Wände, nach der mitunter beängstigenden Weite der Landschaft, als beschützend und heimelig. Durchs Fenster war das Rauschen eines nahen Wasserfalles zu hören.

Noch vor dem Abendessen stieg er über Geröll einige Meter zum steinigen Flussbett hinab. Nach bereits gut vierzig Kilometern Wanderung an diesen ersten Tagen schmerzten seine Achillessehnen bei jedem Schritt und er entschied sich am flachen Ufer zu einigen Dehnungsübungen. Der angeschwemmte gräuliche Bergsand bildete eine kleine Düne und nach wenigen Versuchen, seine gespannten Unterschenkel zu dehnen, um die Sehnen zu entlasten, spürte er unter seinem linken Fuß einen harten Widerstand. Er bückte sich, wischte den Sand beiseite und traute seinen Augen kaum, als darunter ein Shaligram Shila zum Vorschein kam, der seinem eigenen bis hin zur goldgelben Farbe aufs Auge glich.

Zufälle, dachte er lächelnd und blickte in Richtung des Wasserfalles, der die letzten durch das Tal fallenden Sonnenstrahlen in hellen Regenbogenfarben versprühte. Er nahm den Stein behutsam an sich und fuhr mit seinen Übungen fort.

Arjun hatte mit dem Essen bereits auf ihn gewartet, als Paul kurze Zeit später das behagliche, nur durch Kerzen beleuchtete, schmale Zimmer betrat.

„Ich habe etwas für dich“, sagte er zu seinem Freund und hielt ihm den Shila hin.

„Paul!“, rief Arjun überrascht aus. „Es gibt keinen Grund, mir deinen Shaligrama zu schenken. Du wirst ihn ja hoffentlich auch noch brauchen, um in den Tempel aufgenommen zu werden.“

„Das ist nicht mein Shila, Arjun. Diesen hier hab ich eben am Fluss gefunden. Er sieht meinem eigenen nur täuschend ähnlich. Und ich habe gelernt, man verschenkt sie nur an Menschen, die einen in der Seele berühren, nicht wahr? Also, dieser hier ist für dich.“

Arjun sah ihn mit ernstem Blick an und rührte sich nicht vom Fleck. Paul war verunsichert, ob er einen Fehler begangen hatte.

Nach einer Weile begann Arjun schließlich verlegen: „Es gibt etwas, das ich dir verschwiegen habe, mein Freund.“ Er hielt inne, nahm zögernd den Stein aus Pauls Hand und betrachtete ihn, als würde es sich um ein kostbares Juwel handeln.

„Komm, setz dich“, sagte er, „lass uns etwas essen. Danach holst du deinen Whisky und wir reden. In Ordnung?“

18

Das Abendmahl verlief zum größten Teil schweigend. Arjun betrachtete immer wieder den Shila, den er neben sich auf den Tisch gelegt hatte, schüttelte mitunter versonnen den Kopf und kaute weiter an den kleinen Stücken etwas zähen Lammfleisches.

Paul konnte sich keinen Reim auf sein Verhalten machen, ließ dem Freund aber Zeit, um sich zu sammeln.

Nach dem Essen saßen die beiden, jeder mit einem Schluck Whisky im zerkratzten Glas, auf der schmalen Holzveranda, die zum Fluss hin an das schlichte Steinhaus gebaut war. Schließlich brach Arjun sein Schweigen und begann zu erzählen.

„Als du mir in einer deiner ersten Mails von dem Shila und deiner Absicht, den Tempel zu suchen, berichtet hast, konnte ich nächtelang kein Auge zutun. Erst Manisha schaffte es mit ihrer Geduld und Weisheit, mich in langen Gesprächen wieder zu beruhigen. In diesen Tagen war es, als würde eine schwere Last von meinen Schultern fallen, und zugleich war ich mit den schlimmsten Ängsten meiner Kindheit konfrontiert.“ Er stockte und blickte traurig, beinah verzweifelt in den Himmel. „Du musst wissen, dass meine Eltern, für nepalesische Verhältnisse, relativ spät geheiratet hatten. Mein Vater wurde dann in seinen fortgeschrittenen Jahren“, es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu sprechen, „zu einem sehr, ja, sehr gewalttätigen Mann. Gewalt durch Männer an ihren Frauen und Kindern ist in unserer Kultur keine Seltenheit. Religiöse Frömmelei und männlicher Stolz ergeben gerade bei strenggläubigen Hindus eine oft gefährliche Mischung.“ Wieder hielt er inne und musste erst durchatmen, bevor er fortfahren konnte. „Es geschah kurz nach meinem achten Geburtstag. Während einer seiner cholerischen Anfälle traf ein Hieb meine Mutter so unglücklich, dass sie mit dem Kopf auf die Kante eines Glastisches fiel. Meine jüngere Schwester und ich kauerten in einer Ecke des Zimmers und mussten das schreckliche Geschehen mit ansehen. Die Verletzung meiner Mutter war so schlimm, dass sie wenige Tage danach“, Trauer brach nun seine Stimme und Tränen liefen ihm über die Wangen, „dass sie wenige Tage danach verstarb.“ Er barg den Kopf in seinen Händen. Paul reagierte instinktiv aus seiner therapeutischen Erfahrung. Er ließ ihm Zeit und legte nur beruhigend eine Hand auf seinen Rücken. „Entschuldige, mein Freund“, fand Arjun schließlich seine Fassung wieder und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Eigentlich ist es lange genug her, um mich nicht mehr dermaßen tief zu berühren. Aber diese Reise mit dir, deine Entschlossenheit und jetzt auch noch der Shila.“ Er griff nach Pauls Hand, drückte sie fest und ließ sie auch während der folgenden Worte nicht mehr los. Langsam sprach er aus, was er außer seiner Frau niemals zuvor einem Menschen anvertraut hatte: „Am Sterbebett hat meine Mutter mir prophezeit, dass eines Tages ein Shila den Weg in meine Hände finden würde. Dieser würde dann die weiteren Tage meines Lebens bestimmen. Weißt du, meine Mutter konnte so manches voraussehen, denn“, er blickte Paul angespannt in die Augen, „es gab im letzten Jahrhundert nicht nur eine nepalesische Meisterin im Tempel der Acht, sondern noch eine weitere, die jüngste, begabteste, die es jemals zu diesen Weihen gebracht hatte: meine Mutter.“ Paul konnte kaum glauben, was er da hörte, und blickte ihn verwundert und gerührt an. „Und das war es“, fuhr Arjun fort, „was meinen Vater so sehr faszinierte, was er in jüngeren Jahren an ihr bewunderte, liebte und dann, je älter er wurde, umso weniger verzeihen konnte: ihre Vergangenheit als Ungläubige, als Hellsichtige, als Magierin des Tempels, die ihn stets und in allen Lebenslagen überflügelte.“

Nachdem sich beide dicke Lammfelldecken aus der Lodge geholt hatten und die Kälte der Nacht heraufzog, erzählte Arjun bewegt weiter.

Die Tatsache, dass seine Mutter ein Mitglied der Lehrerschaft des Tempels war, wurde geheim gehalten, solange er sich erinnern konnte. Sowohl innerhalb der Familie als auch nach außen hin musste das Geheimnis gewahrt bleiben. Sein Vater hatte darauf bestanden, einen, seiner hohen Kaste und den religiösen Doktrinen entsprechenden, streng hinduistischen Lebensstil zu pflegen. Trotz allem hatte Arjuns Mutter den Glauben an ihren Mann nie aufgegeben und ihn auch in späteren Jahren so geliebt wie dreißig Jahre zuvor, als sie ihn bei einem ihrer Aufenthalte in der Stadt als gebildeten und kultivierten Menschen kennengelernt hatte. Ihm zuliebe hatte sie damals schließlich auch den Tempel verlassen und sich, wenn auch mit Widerwillen, den engen Regeln der Familie gefügt.

 

Arjuns Entscheidung, Paul als Klienten anzunehmen, war allein das Ergebnis seiner langen Gespräche mit Manisha, die feinfühlig geahnt hatte, dass diese Aufgabe den alten Schmerz würde wenigstens lindern können.

Zum einen bestand für Arjun also auch ein großes Interesse, den Tempel zu finden, zum anderen war dieser Weg mit dem Trauma des gewaltsamen Todes seiner Mutter belegt – für den sein Vater seiner gesellschaftlichen Stellung wegen nicht einmal zur Rechenschaft gezogen worden war.

Eines stand für Arjun jedoch fest: Die letzte Wegstrecke würde er nicht mit Paul gehen, sondern ihn im besten Fall nur bis in Sichtweite des Gebäudes begleiten. Das hatte er Manisha bereits vor Wochen versprochen. Sollte er sich später den Lehren des Tempels stellen, dann nur gemeinsam mit ihr. Zu schwer wog noch die Last der Vergangenheit und er wollte von vornherein jede mögliche seelische Distanz zu seiner geliebten Frau ausschließen. So vieles hatten sich die beiden in ihren gemeinsamen Jahren schon erkämpfen und Seite an Seite bestehen dürfen. Unter keinen Umständen wollte Arjun riskieren, dass der Tempel seine Familie ein weiters Mal entzweien sollte.

Nach einer guten Stunde verabschiedeten sich die Freunde schließlich zur Nacht. Arjun konnte nun das Shaligrama dankbar annehmen, wickelte es wie einen kostbaren Edelstein in ein Tuch und verstaute es sorgsam in seiner Tasche. Dann stiegen die beiden über die knarrende Holztreppe zu ihren Zimmern hoch.

Paul legte sich auf seine Pritsche und war zu erschöpft, um noch in sein Tagebuch zu schreiben. In der stockdunklen, engen Kammer roch es nach trockenem Holz und nach etwas wie Kampfer.

Die Bilderflut in seinem Kopf versank schließlich unter dem aufziehenden Nebel eines Traumes, in dem Paul abermals die Konturen des vertrauten achtseitigen Gebäudes zu erkennen glaubte.

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