Karl Barth

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Zugleich hebt er – wohl ein wenig überpointiert und allzu offenherzig – hervor, dass es keinen Grund gäbe, über die abwesende römische Kirche irgendwelche „sentimentalen Tränen“ (15) zu vergießen, da sie ihrem Selbstverständnis nach tatsächlich nicht dazu gehöre (die französische Originalfassung sei gegenüber der bereits geglätteten deutschen Übersetzung noch angriffiger wesen). Der Ton mag dabei gewiss auf „sentimental“ gelegen haben, weil es Barth schlicht um die nüchterne Wahrnehmung des offiziellen Ist-Zustandes ging. Die Bemerkung hatte aber zugleich einen recht provokativen Charakter, der dann im Nachhinein für einen bitteren Nachgeschmack der Vollversammlung gesorgt hat, weil der römisch-katholische Gast Jean Daniélou SJ seiner tiefen Enttäuschung über Barths ‚unchristliche‘ Behandlung dieses Umstandes eine deutliche Rückmeldung widmete (16 f). Barth spitzte daraufhin in der Sache die Differenz auf die seines Erachtens überfordernde Paradoxie zu, „daß wir Ihren unbedingten Superioritätsanspruch ernstnehmen und uns doch nach Ihrer Anwesenheit hätten sehnen sollen“ (19). Aus heutiger Sicht wird man sagen müssen, dass eine Feststellung dieser Art wohl kaum das letzte Wort zu dieser zweifellos gegebenen Spannung sein kann; aber man wird auch kaum überschätzen können, wie sehr sich zwischen 1948 und heute die ökumenische Gesprächslage verändert hat. In Amsterdam hatte Barth seine kurze Ansprache vor dem reformierten Konvent mit einer kritischen Bemerkung zu der andauernden Selbstfeier der Ökumene und ihrer Akteure (15) beschlossen, die bis heute leider kaum etwas an Relevanz eingebüßt hat.

Nach der Vollversammlung bekannte Barth in Basel in seinem öffentlichen Bericht, dass er als „neubekehrter Ökumeniker“ zurückgekehrt sei.151 Als bereits zwei Jahre später die Vorbereitungen für die nächste Vollversammlung in Evanston 1954 begannen, ließ sich Barth spontan für Mitarbeit an dem vorläufig formulierten Hauptthema ‚Die christliche Hoffnung‘ gewinnen. Die drei Vorbereitungstagungen nahmen nach inhaltlichen Startschwierigkeiten und erneuter Müdigkeit Barths insbesondere über die „Anglosachsen, das ökumenische Lächeln, […] das ewige Ausgleichen der verschiedenen points“ (198) in Barths Wahrnehmung einen erfreulichen Verlauf, weil es trotz der heterogenen Zusammensetzung der Kommission gelungen war, in wichtigen Fragen zu gemeinsamen Positionierungen durchzudringen, in welchen die Kirchen zur Wahrnehmung ihres Wächteramtes angehalten und an ihre bekennende Dimension erinnert werden. Indem das Vorbereitungsdokument sich auf die Umkehr der Kirchen konzentrierte und nicht einfach irgendwelche Forderungen nach außen annoncierte, entsprach es in seiner erstaunlichen Einvernehmlichkeit in einem unerwarteten Ausmaß den Erwartungen, die Barth an eine kirchliche Verlautbarung stellte. Dennoch sagte er dann doch ohne irgendwelche Selbstdistanzierungen seine Teilnahme an der Vollversammlung ab, weil er seine Dogmatik, die er als seinen eigentlichen Beitrag zur gegenwärtigen theologischen Selbstbesinnung der Kirche ansah, nicht so lange liegen lassen wolle. Immerhin hat sich Barth weiter in einem Seminar intensiv mit dem Vorbereitungsdokument beschäftigt, was dann zu einem vom Seminar ausgearbeiteten Ergänzungsvorschlag zu dem vorliegenden Dokument führte, der dann auch den Delegierten der Vollversammlung zur Abstimmung vorgelegt wurde.

Dieser Ergänzungschorschlag greift das bereits von Visser’t Hooft registrierte Fehlen der Hoffnung für die Juden in grundsätzlicher Weise auf und hebt die ökumenisch grundlegende Bedeutung Israels nicht nur für die Eschatologie, sondern auch für das Selbstverständnis der Kirche in ihrem Streben nach Einheit hervor. Im Anschluss an Röm 11,1 f wird die bleibende Erwählung Israels infolge der Treue Gottes in ihrer ekklesiologischen Bedeutung zur Geltung gebracht. Damit wird ein emotional hoch aufgeladenes Thema in die Aufmerksamkeit der Ökumene gerückt, das dazu geeignet war, tiefe Gräben aufzureißen. In diesem Ergänzungsvorschlag findet sich ein Satz, der für Barths spätere Bestimmungsversuche des ökumenischen Problems ein grundlegendes Gewicht behalten sollte: „Das Problem der Einheit der Kirche mit Israel ist das erste Problem der ökumenischen Einigung.“ (221) In Evanston konnte sich die Vollversammlung dem Vorschlag aus Basel nicht anschließen, und bis heute hat der ÖRK dies Desiderat nicht mit der nötigen theologischen Sorgfalt aufgegriffen. Auch im Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil kritisierte Barth das Israel-Defizit, und ausgerechnet angesichts der besonderen Herausforderungen, denen er sich bei seinem Besuch in Rom 1966 ausgesetzt sah, hob er genau diesen Fundamentalaspekt erneut hervor und regte damit eine Neuorientierung für das Ökumeneverständnis an, deren systematische Reichweite bis heute im besten Fall geahnt wird:

Es gibt viele gute Beziehungen zwischen der römisch-katholischen Kirche und vielen protestantischen Kirchen […] Aber wir sollten nicht vergessen, daß es schließlich nur eine tatsächlich große ökumenische Frage gibt: unsere Beziehung zum Judentum.152

Barth deklarierte seine Entscheidung gegen Evanston als eine Prioritätenentscheidung und nicht als eine Entscheidung gegen die Ökumene. Tatsächlich hielt er sich von diesem Zeitpunkt an konsequent gegenüber der Ökumene im Hintergrund. Immerhin zeigen die Hinweise in den in dieser Zeit erscheinenden Bänden der Versöhnungslehre, daß Barth unter weitgehender Zurückstellung seiner gebliebenen Vorbehalte in den von der Ökumene ausgehenden Impulsen einen verheißungsvollen Aufbruch zu würdigen wusste. Beiden Hauptwurzeln der Genfer Ökumene konnte Barth nun etwas abgewinnen: Die Bewegung für Praktisches Christentum („Life and Work“) erinnert die Ökumene daran, dass die Einheit für die Kirche kein Selbstzweck sein darf, und „Glaube und Kirchenverfassung“ („Faith and Order“) sorgt sich um die Herstellung und Bewahrung des notwendigen Zusammenhangs zwischen der kirchlichen Einheit und der christlichen Botschaft an die Welt. Zudem würdigte Barth die sich weiter entwickelnde politische Rolle der Ökumene, in der sie als internationales Organ beispielgebend für die Verständigung im Ost-West-Antagonismus auftrat (KD IV/3, 37–39).

Seit dem Ende der 1950er Jahre galt Barths Aufmerksamkeit allerdings mehr dem Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche. Dies hat einerseits seinen Grund darin, dass diese im Zuge der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils in unerwarteter Weise in Bewegung geriet, und zum anderen schlicht darin, dass seine Theologie zu den wenigen protestantischen Stimmen gehörte, die in der katholischen Theologie wahrgenommen und diskutiert wurden. Barth beteiligte sich nicht an den vor allem in Genf gepflegten Mutmaßungen, wie sich die in Rom vollziehende Erneuerung („aggiornamento“) auf das Gespräch mit Genf auswirken werde, oder an der kirchenpolitischen Mutmaßung, ob Rom nun versuche werde, in der Frage nach der Einheit der Kirche das Heft des Handelns auf seine Seite zu ziehen und damit Genf früher oder später das Wasser abzugraben. Was Barth faszinierte, war ein Erneuerungsimpuls, der auch die in die Genf versammelten Kirchen zu eigener Erneuerung anregen möge, weil er „nicht nur in der Bewahrung des vielberufenen ‚Erbes der Reformation‘, nicht nur in der Pflege unserer eigenen Konventionen und Traditionen, nicht nur […] in allerlei zeitgemäßen Auseinandersetzungen, Geschäftigkeiten, Korrekturen, Neuansätzen, sondern in der Erfahrung und im Fruchtbarwerden einer Grundlagenkrisis bestehen würde“.153 Das vitale Bewusstsein um die eigene Erneuerungsbedürftigkeit steht für Barth im Vordergrund, das vor allem durch die problematische Selbsteinschätzung gefährdet werde, dass man sich bereits auf dem richtigen Weg befinde. Es könnte „eine christlich gesunde Regel sein […], sich selbst gegenüber immer ein bißchen bedenklicher zu sein als dem Anderen gegenüber“ (17). Schließlich ist für Barth die Zielperspektive nicht in einer interkonfessionellen Vereinigung zu suchen, sondern in der Ausgießung des Heiligen Geistes auf die gespaltene Kirche, die in all ihren Teilen dieser Bitte bedürftig bleiben werde. Das spiegelt sich auch deutlich in Barths Formulierung wieder, die sich als sein fundamentales ökumenisches Credo bezeichnen lässt:

Der Weg zur Einheit der Kirche kann von dort, kann aber auch von hier aus nur der ihrer Erneuerung sein. Erneuerung heißt aber Buße. Und Buße heißt Umkehr: nicht der Anderen, sondern eigene Umkehr. (18)

Sachlich ist Barth seinen Überlegungen von 1935 treu geblieben, als er in Genf das erste Mal im Rahmen einer von der Ökumene organisierten Veranstaltung aufgetreten war. Seinerzeit hielt Barth die Abwesenheit Roms in der ökumenischen Bewegung „nicht für ein Unglück“154, weil er in der katholischen Kirche die nötige kritische Selbstdistanz nicht erkennen konnte. Jetzt aber räumte er mit anhaltender Vorsicht und zugleich ermutigender Zuversicht ein, dass natürlich auch für die katholische Kirche gelte, was es an Hoffnungsvollem für die Einheit der im ÖRK versammelten Kirchen zu sagen gäbe. In den Interviews und Gesprächen, die uns aus den Jahren zwischen 1963 und 1968 erhalten sind, spielt die vom Konzil ausgehende Herausforderung an die ganze Ökumene eine große Rolle.

Da Barth aus gesundheitlichen Gründen 1963 die Einladung des im Juni 1960 eingerichteten „Sekretariats für die Förderung der Einheit der Christen“ zur Teilnahme als Beobachter an den beiden letzten Sessionen des Konzils nicht annehmen konnte, fragte er im Mai 1966 den Präsidenten des Einheitsrates Augustin Kardinal Bea, ob er seinen Besuch nachholen könne, um sich genauer über die Bedeutung des Konzils informieren zu können. Er trat gut vorbereitet155 zusammen mit seiner Frau und seinem vierzig Jahre jüngeren katholischen Arzt und Freund Alfred Briellmann Ende September seine einwöchige Reise nach Rom an, wo er Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen fand und auch von Papst Paul VI zu einem Gespräch empfangen wurde.

 

Im Wintersemester 1966/67 setzte sich Barth intensiv in einem Kolloquium mit der von ihm besonders geschätzten Konstitution des zweiten Vatikanums „Dei Verbum“ auseinander – mit einer Sondersitzung über die Offenbarungskonstitution am 25. Feb. 1967, in welcher der seinerzeit in Tübingen lehrende Joseph Ratzinger zu Gast war. Im Winter 1967/68 stand dann die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ auf dem Plan156 – aus gesundheitlichen Gründen konnte Barth diese Lehrveranstaltung nicht bis zum Semesterschluss durchführen. Wenn er sich dazwischen im Sommersemester 1967 Calvin zuwandte, so hatte auch dies eine von Barth immer wieder betonte ökumenische Dimension, denn für ihn war Calvin gleichsam der Vater ökumenischer Theologie.157

Die letzten – unabgeschlossen gebliebenen – Überlegungen, die Barth vor seinem Sterben in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember 1968 niederschrieb, galten auch der Ökumene. Gewiss hat dies etwas Zufälliges, aber es zeigt immerhin, dass er sich angesichts der Tatsache, dass er mehr oder weniger allen an ihn herangetragenen Bitten eine Absage erteilen musste, dieser Anfrage öffnete, weil er glaubte, zu dem angefragten Thema noch etwas sagen zu sollen. Er hatte für den Januar 1969 einen Vortrag über die Einheit der Kirche und die gegenwärtige ökumenische Situation zugesagt, der im Rahmen der ökumenischen Gebetswoche in der Paulusakademie in Zürich vor einem katholischen und evangelischen Publikum gehalten werden sollte – Barth spricht in seinem Vortragskonzept präziser von „petrinisch-katholischen“ und „evangelisch-katholischen“ Christen.158 Seine Überlegungen sollten in drei Schritten erfolgen, die er unter die ebenso programmatisch wie dynamisch zu verstehende Überschrift stellte: Aufbrechen – Umkehren – Bekennen. Es sind die Verben, die in besonderer Weise für die Bewegung stehen, in der sich Kirche ökumenisch ereignet, und zwar jenseits der nicht einfach zu überwindenden konfessionellen Trennungen.

7.Die Kirchliche Dogmatik

Das theologische Hauptwerk Barths ist die Kirchliche Dogmatik. Sie hat seit den 1930er Jahren bis beinahe zu seinem Lebensende einen großen Teil seiner Schaffenskraft in Anspruch genommen. Bereits 1927 hatte Barth mit einem ersten Band ein umfassendes dogmatisches Werk angekündigt. Doch den vorgelegten Prolegomena zu einer Christlichen Dogmatik im Entwurf folgten nicht die vorgesehenen zwei Folgebände mit den inhaltlichen Darlegungen, sondern Barth entschloss sich, seinen Anlauf noch einmal ganz neu zu konzipieren. Dafür führte er neu erschlossene Einsichten, aber auch „die inzwischen eingetretenen Verschiebungen in der theologischen, kirchlichen und allgemeinen Lage“ (KD I/1, VI) an. Nachdem er sich vom Verlag aufgefordert fand, die ausgehende erste Auflage der Prolegomena seiner Christlichen Dogmatik für eine Neuauflage durchzusehen, wiederholte sich der Umstand, mit dem er sich auch zwölf Jahre vorher angesichts der geplanten zweiten Auflage seines Römerbriefkommentars schon einmal konfrontiert sah:

[Ich] konnte und wollte dasselbe sagen wie einst; aber so wie ich es einst gesagt, konnte ich es jetzt nicht mehr sagen. Was blieb mir übrig, als von vorn anzufangen, und zwar noch einmal dasselbe, aber dasselbe noch einmal ganz anders zu sagen? […] Alle Probleme haben sich mir eben in den fünf Jahren noch sehr viel reicher, bewegter und schwieriger dargestellt. Ich mußte weiter ausholen und breiter begründen. (KD I/1, VI f)

Der Ersetzung des Wortes „christlich“ durch „kirchlich“ im Titel beschreibt Barth als eine Abkehr von einer grundsätzlich zu groß dimensionierten Vokabel und als die gebotene Konzentration auf den konkreten Raum, in dem die Dogmatik allein eine „mögliche und sinnvolle Wissenschaft“ (KD I/1, VIII) ist. Dem Vorwurf, dass er der überlebten Scholastik wieder Eingang die Theologie verschaffe, begegnet er gelassen mit einem Gegenangriff auf

das Banausentum, das überall, wo es seinen Ethizismus nicht wiedererkennt, über „Spekulation“ meint jammern zu dürfen […] Oder soll ich lachen über das schon phonetisch so komische Gerede von fides quae und fides qua, mit dem sich etliche offenbar aller scholastischen Sorgen auf einen Hieb meinen entschlagen, mit dem sie auch mit mir eiligst meinen fertig werden zu können? Oder soll ich vielmehr weinen über die immer noch zunehmende Verwilderung, Langweiligkeit und Bedeutungslosigkeit des modernen Protestantismus, dem […] eine ganze dritte Dimension (sagen wir einmal: die Dimension des […] Geheimnisses) abhanden gekommen ist: damit er mit allem möglichen nichtsnutzigen Ersatz gestraft werden, damit er auf Hochkirche, Deutschkirche, Christengemeinschaft, religiösen Sozialismus und ähnliche betrübte Rotten und Sekten um so hemmungsloser hereinfallen, damit so oder so mancher seiner Prediger und Gläubigen schließlich im Rauschen seines nordischen Blutes und beim politischen „Führer“ religiösen Tiefsinn entdecken lernen möchte. (KD I/1, IX f)

Barth ist sich durchaus bewusst, dass es die Kirche, zu der er sich mit seiner Dogmatik bekennt, nicht einfach so gibt – vielmehr registriert er eine verbreitete Theologieabstinenz –, aber nur derjenige könne „auf eine sich selbst ernst nehmende evangelische Kirche […] warten“, der selbst versucht, „an seinem Ort und so gut er es versteht, solche Kirche zu sein.“ (KD I/1, XI)

Im Vorwort des 1932 erschienenen ersten Halbbandes der Prolegomena notiert Barth die vorgesehene Gliederung des ganzen Werkes, das dann in den mehr als dreißig Jahren der Bearbeitung schließlich nicht zum Abschluss gebracht werden konnte. Im Wissen um die unterschiedlichen Möglichkeiten, den Weg der Dogmatik zu gestalten, hält sich Barth an die ebenso traditionelle wie schlichte Konzeption, die der inneren Struktur des christlichen Gottesverständnisses folgt, indem sie zunächst den trinitarischen Zugang zu Gott und dann die drei Erscheinungsweisen Gottes in Vater, Sohn und Heiligem Geist bedenkt. Neben den Prolegomena (Bd. I, zwei Teilbände) liegen die Gotteslehre (Bd. II, zwei Teilbände), die Schöpfungslehre (Bd. III, vier Teilbände) und die Versöhnungslehre (Bd. IV, fünf Teilbände und ein posthum erschienener Band mit Fragmenten der nicht mehr fertiggestellten Versöhnungsethik159) vor = 13 Teilbände mit insgesamt 9720 zum Teil überaus engbedruckten Seiten. Die Lehre vom Heiligen Geist, die Erlösungslehre, die für den fünften Band vorgesehen war, hat Barth nicht mehr in Angriff nehmen können.

Er bekannte sich bei seinem Neuanfang ausdrücklich zu der Ausführlichkeit, in der er sich gedrängt sah, seine theologische Perspektive entfalten zu müssen, und zugleich konnte er in dem für ihn so charakteristischen Humor, der die Selbstdistanz belegt, die er sich zeitlebens bewahrt hat, im Nov. 1949 an seinen Sohn Christoph schreiben, dass er sich manchmal die Frage stelle: „Salomonischer Tempelbau oder babylonischer Turmbau?“; unabhängig von dieser nicht zu entscheidenden Alternative sei er sich sicher, „daß die Engel manchmal kichern über mein Unternehmen; aber wir wollen einmal vermuten, es könnte auch ein wohlwollendes Kichern sein.“160

Auch wenn Barth die Gliederung der KD fest vor Augen stand, so blieb sie doch ein Unternehmen, in dem sich Barth immer wieder durch neue Einsichten auf vorher kaum geahnte Wege gewiesen fand, so dass er sich auch nicht scheute, früher gemachte Überlegungen neu zu akzentuieren bzw. in eine veränderte Perspektive zu bringen. Es wäre ein gründliches Missverständnis, von der auf den ersten Blick traditionellen Form auf einen ebenso traditionellen Inhalt zu schließen. Der Inhalt ist allein insofern traditionell, als Barth sich wie kaum jemand vor ihm darum bemüht, die Tradition – einschließlich die der alten Kirche – zu Worte kommen zu lassen und sie auf diese Weise zu vergegenwärtigen. Seine eigenen Pointierungen sind jedoch alles andere als traditionell, weil Barth im Horizont seiner biblischen Orientierungen durchgängig zu Neuakzentuierungen durchdringt. Das eine gehört essenziell mit dem anderen zusammen. Die intensive Beschäftigung mit der Tradition zeigt, dass Barth seine eigenen Vorschläge auf der einen Seite nicht einfach unvermittelt und freihändig in den Raum stellt, sondern sich konsequent im Gespräch mit den Entscheidungen der Lehrauseinandersetzungen der Kirche befindet und sich somit ausdrücklich in ihre Geschichte hineinstellt. Es kann grundsätzlich nicht darum gehen, nun etwa eine neue Kirche anfangen zu wollen. Auf der anderen Seite geht er durchgängig davon aus, dass die Tradition nicht um ihrer selbst willen bemüht wird, sondern erst darin recht verstanden und in Anspruch genommen wird, dass sie uns dazu befähigt und ermächtigt, heute auch über das von ihr Gesagte hinaus unser eigenes Wort zu sagen. Erst wenn wir selber – an unserem konkreten Ort und in unserer konkreten Zeit – sagen können, was wir die Kirche in ihrer bisherigen Geschichte zu sagen versuchen hören, wenn wir also für uns weiter zu verdeutlichen versuchen, was die Kirche in ihrem bisherigen Bemühen um rechtes Verstehen unterschiedlich deutlich und überzeugend formuliert hat, stellt sich die Kirche der von ihr zu erwartenden Verantwortung, der sie nicht einfach im Verweis auf die Tradition gerecht werden kann. Und so bleibt die KD bei aller Stringenz der Gesamtarchitektur kontinuierlich und spürbar im Gespräch mit dem Kontext ihrer sich auch verändernden Zeit, auch wenn Barth dies nur selten explizit macht.

Die Bekenntnisse der Kirche und ihre Tradition fungieren als ernst zu nehmende Verstehenshilfen, in der je konkreten Situation auf die Fragen, welche die Kirche sowohl aus der Bibel wie auch der Zeitung vernimmt, nun ihre heute zu sprechende Antwort zu formulieren und ihre heute wahrzunehmende Verantwortung zu erkennen – das hat Barth bis zu seiner letzten Vorlesung immer wieder betont. Im Zusammentreffen von Bibel und Zeitung – das berühmte, möglicherweise auf Christoph Blumhardt anspielende Zitat findet sich in einem Brief von Barth an Thurneysen vom 11. Nov. 1018, wo er davon spricht, dass er „abwechselnd über der Zeitung und dem N. T.“ brüte161 – wird die Kirche in den Zusammenhang gestellt, in dem die theologische Aufgabe erst ihre spezifische Brisanz bekommt. Ganz schlicht kann Barth im Gespräch mit einem Journalisten formulieren:

Die Bibel lehrt uns, die menschlichen Dinge in ihrem Zentrum, in ihrer Höhe, in ihrer Tiefe zu sehen. Die Zeitung ist der tägliche Bericht über das, was sich in der Menschheit zuträgt. Und die Bibel lehrt uns, daß eben diese Menschheit von Gott geliebt ist.162

Es sind die konkreten gegenwärtigen Herausforderungen, die nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit der theologischen Tradition zusammenstoßen, und Barth geht sehr grundsätzlich davon aus, dass die gesuchte Lösung weder allein in der Inanspruchnahme einer überkommenen Lösung bestehen noch ohne deren Konsultation zuverlässig gefunden werden könne. Darüber hinaus unterscheidet er auch ausdrücklich zwischen regulärer und irregulärer Dogmatik, die beide ihr eigenes Recht haben, ohne aber vollkommen voneinander getrennt zu werden:

Unter regulärer Dogmatik ist ein solches Fragen nach dem Dogma zu verstehen, bei dem es auf diejenige Vollständigkeit abgesehen ist, die der besonderen Aufgabe der Schule, des theologischen Unterrichts, angemessen ist. […] Unter irregulärer Dogmatik ist demgegenüber ein solches Fragen nach dem Dogma zu verstehen, bei dem die Aufgabe der Schule zunächst nicht ins Auge gefasst und bei dem es darum auf die bewusste Vollständigkeit zunächst nicht abgesehen ist. […] Sie wird vielleicht aus bestimmtem geschichtlichem Anlaß nur ein bestimmtes Thema herausgreifen und in den Mittelpunkt rücken. (KD I/1, 292–294)

Im Unterschied zu Melanchthon und Calvin sei beispielsweise Luther „ein geradezu charakteristisch irregulärer Dogmatiker“ (294). Auch Barths Bonner Assistent, der spätere Berliner Theologieprofessor Berlin Helmut Gollwitzer (1908–1993), der sich unter anderem engagiert an den von der 1968er Studentenbewegung auf die Tagesordnung gesetzten gesellschaftspolitischen Debatten beteiligte, oder Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) waren unter dem Druck der jeweiligen geschichtlichen Umstände eindrucksvolle und auch einflussreiche irreguläre Dogmatiker. Wenn Barth für die KD aber den Weg einer regulären Dogmatik ins Auge fasst, verwies er darauf, dass auch der Protestantismus eine schulmäßige, d. h. systematische Gesamtorientierung benötige. Über weite Strecken habe er sich mit irregulärer Dogmatik zufriedengegeben, was ihm nicht immer gutgetan habe (295). Diese Entscheidung wäre aber zutiefst missverstanden, wenn sie als eine Absage an kontextuelle Bezugnahmen verstanden würde. Auch die reguläre Dogmatik wird immer an einem konkreten Ort und in einer konkreten Zeit vollzogen, auch wenn diese nicht die vorrangig treibenden Kräfte für ihre Systematik darstellen.

 

Neben der benannten christologischen Konzentration, die nicht nur das Wahrheitskriterium der KD, sondern mit dem gleichen Nachdruck auch das Wirklichkeitskriterium bezeichnet, ist vor allem die durchgängige biblische Orientierung hervorzuheben, die auch da ihren explorativen Charakter behält, wo Barth sich mit auf den ersten Blick unstrittigen Aspekten der Lehrtradition beschäftigt. Pointierter noch als im Leitsatz zu § 1 in KD I/1 hat Barth die Aufgabe der Dogmatik in seiner Bonner Vorlesung von 1947 „Dogmatik im Grundriß“ bestimmt:

Dogmatik ist die Wissenschaft, in der sich die Kirche entsprechend dem jeweiligen Stand ihrer Erkenntnis über den Inhalt ihrer Verkündigung kritisch, d. h. am Maßstab der hl. Schrift und nach Anleitung ihrer Bekenntnisse Rechenschaft gibt.163

Die Bibel als das „Dokument der Epiphanie des Wortes Gottes in der Person Jesu Christi“ (KD I/1, 13) muss die Quelle unserer Einsicht bleiben, weil sie das „maßgebende Zeugnis von Gottes Selbstbezeugung“ (14) bleibt. Und die dem biblischen Zeugnis nachgeordneten Bekenntnisse stehen für Barth im Zeichen des fünften Gebots, Vater und Mutter zu ehren, d. h. für die relative Autorität der überkommenen Lehre, die uns daran erinnert, dass wir nicht die ersten sind, die sich um eine angemessene Rechenschaftsablage über ein angemessenes Verständnis des in Christus ergangenen Wortes Gottes bemühen. Für Barth ist ein Dogma schlicht das, „was in der Kirche gelten sollte als Wiedergabe des Wortes Gottes“ (14). Die Dogmatik zielt aber nicht auf die Fixierung von Lehrstandpunkten oder den Bau eines Lehrgebäudes, sondern hält Ausschau nach einer „Anleitung zu einem Weg, der zu gehen ist, als Darstellung der Bewegung, als eine Sache, die überhaupt nur in dynamischen Begriffen beschrieben werden kann und nicht in statischen.“164

Auch wenn die erwähnte Kontextualität der KD keineswegs nur auf ihren ethischen Gehalt verweist, bleibt besonders darauf aufmerksam zu machen, dass sie natürlich auch eine ethische Seite hat. Für Barth stellt die Ethik kein eigenes theologisches Gebiet dar, das neben der Dogmatik auch noch zu behandeln wäre. Vielmehr gehören Dogmatik und Ethik unauslöslich zusammen, d. h. die Dogmatik hat selbst ethische Relevanz, die auch jeweils zu reflektieren ist (genau das ist Ethik), so wie umgekehrt die Ethik sich allein in ihrer Verbindung zur Dogmatik als theologische Ethik zu qualifizieren vermag. Dieser Aspekt wurde oben bereits bei Barths Neubestimmung des Verhältnisses von Evangelium und Gesetz angesprochen (vgl. Kap. II.5, S. 87 f). Es gehört zu den charakteristischen Besonderheiten KD, dass sie die Ethik konsequent als einen unverzichtbaren integrativen Bestandteil der Dogmatik behandelt, zielt doch das Verstehen des Inhalts des Glaubens nicht auf eine abstrakte Erkenntnis, sondern auf das Leben im Glauben, dem die Ethik ihre besondere Aufmerksamkeit widmet (vgl. Kap. I.11). Der Ethik liegt kein abstraktes Gesetz zugrunde, sondern sie ist auf den Willen und das Gebot des gnädigen Gottes ausgerichtet und fragt nach unseren Entsprechungen zur Gnade Gottes (KD II/2, 640). So wie Gottes gnädige Anrede und Aufrichtung des Menschen den tragenden Aspekt der menschlichen Selbsterkenntnis ausmachen, bleiben sie auch die Befähigung und Ermutigung zu einem dieser Konstitution entsprechenden Leben, das sich als zustimmende Antwort auf die besondere Zuwendung Gottes gestaltet. Die Ethik hat entschieden kein eigenes Thema, sondern reflektiert einen besonderen Aspekt der Dogmatik, der in all ihren Hauptthemen mit zu bedenken ist. Nur so bleibt der unauflösliche Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung, von Glauben und Leben gewahrt.

Gewiss wird damit ein Aspekt angesprochen, der in der reformierten Tradition eine besondere Aufmerksamkeit erfahren und auch zu kontroverstheologischen Debatten geführt hat, aber er hat inzwischen in allen konfessionellen Traditionen seine eigene Anerkennung gefunden. Allerdings hat sich Barth in der Konsequenz der soeben benannten Gründe stets geweigert, die Ethik – wie es insbesondere in der reformierten Tradition üblich war – als eine Auslegung der zehn Gebote oder auch nur einzelner Gebote zu präsentieren. Gewiss konnte er sich auch grundlegend auf den Dekalog berufen, aber er wollte unter allen Umständen vermeiden, die Ethik als eine Lehre von Verhaltensmaßregeln zu verstehen. Im Zentrum steht das vom Bund Gottes eröffnete und von ihm gehaltene Leben des Menschen mit Gott in der von ihm geschaffenen Schöpfung, das seine Orientierung vor allem in dem konsequenten Eintreten Gottes für seinen Bund findet. Die Versöhnungsethik (KD IV/4 unvollendet) rückt das christliche Leben in den Horizont von Taufe (der mit der Wassertaufe öffentlich vollzogene Eintritt in die Gemeinde als Antwort auf den vom Heiligen Geist geweckten Glauben), Gebet (Vaterunser: Geheiligt werde dein Name!) und Abendmahl (als Danksagung für die Gegenwart Jesu Christi).

In seiner Konzeption hatte Barth einen fünften großen Band für die Eschatologie vorgesehen: die „Lehre von der Erlösung“. Neben den Anspielungen, die sich verstreut in den vorliegenden Bänden finden, skizzierte Barth 1961 in einem Brief den Fokus seiner Aufmerksamkeit für diesen dann nicht mehr geschriebenen Band, der erkennbar werden lässt, dass auch hier noch einmal eine markante Revision der bisherigen Lehrtradition zu erwarten gewesen wäre:

Das „ewige“ Leben ist kein anderes, zweites hinter unserem jetzigen Leben, sondern eben dieses, aber in seiner uns jetzt und hier verborgenen Kehrseite, so wie Gott es sieht: in seinem Verhältnis zu dem, was er in Jesus Christus für die ganze Welt und so auch für uns getan hat. Wir warten und hoffen also – auch im Blick auf unseren Tod – darauf, mit ihm (dem von den Toten auferstandenen Jesus Christus) offenbar zu werden in der Herrlichkeit des Gerichts, aber auch der Gnade Gottes. Das wird das Neue sein: daß die Decke, die jetzt über der ganzen Welt und so auch über unserem Leben liegt (Tränen, Tod, Leid, Geschrei, Schmerz) weggenommen sein, Gottes (in Jesus Christus schon vollzogener) Ratschluß uns vor Augen stehen, der Gegenstand unserer tiefsten Beschämung, aber auch unsres freudigen Dankes und Lobes sein wird.165

Barth hat seine KD konsequent in einem unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Lehrer seiner Studierenden erarbeitet, was nicht zuletzt auch der Grund dafür ist, dass sie nach seiner letzten Vorlesung 1962 keine entschlossene Fortführung mehr erfahren hat. Stück für Stück wurden die ausformulieren Entwürfe in seiner Vorlesung vorgetragen und in dazugehörigen Seminaren und Übungen diskutiert, um dann für den Druck entsprechend überarbeitet zu werden. Neben dem weggefallenen Antrieb durch die Studierenden traf ihn mehr noch die Erkrankung von Charlotte von Kirschbaum, die 1964 mit einer voranschreitenden Demenz einem Pflegeheim anvertraut werden musste, so dass auch die enge Teamarbeit zwischen Karl und ‚Lollo‘ an ihr schmerzlich empfundenes Ende kam. Ohne ihre ebenso treue wie verständnisvolle unermüdliche Hilfe sah sich Barth spätestens 1964/65 nicht mehr im Stande, sein opus magnum weiter zu bearbeiten. Es wird sich nicht recht ermessen lassen, wie groß der Anteil ist, den Charlotte von Kirschbaum insbesondere an diesem Hauptwerk Barths hat, aber es ist davon auszugehen, dass Barth kaum übertreibt, wenn er ihr attestiert, in ihr eine für sein Projekt unverzichtbare und unermessliche Hilfe zu haben, ohne die es niemals die Gestalt angenommen hätte, in der es nun tatsächlich vorliegt (vgl. Kap. II.4, S. 68).166