Karl Barth

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

mit Entsetzen auch die Namen ungefähr aller meiner deutschen Lehrer (mit ehrenvoller Ausnahme Martin Rades!) entdecken . Eine ganze Welt von theologischer Exegese, Ethik, Dogmatik und Predigt, die ich bis dahin für grundsätzlich glaubwürdig gehalten hatte, kam damit und mit dem, was man damals von den deutschen Theologen sonst zu lesen bekam, bis auf die Grundlagen ins Schwanken.

25



An dem „ethischen Versagen“ wurde Barth zugleich auch deutlich, „daß auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein könnten.“

26

 Barth wurde es schrecklich zu Mute, wenn zu dem Durcheinander von Kriegslust und Vaterlandliebe schließlich auch noch „die Theologen kommen und alles nun religiös verklären wollen mit ihrer furchtbar gewandten Dialektik. Da regt sich aller Widerspruch in mir, “

27

 Die selbstverständliche Inanspruchnahme Gottes als religiöse Bestätigungsinstanz einer doch vor allem ohne ihn vorangetriebenen Geschichte nimmt Gott die ihm zukommende Souveränität und macht ihn zu seinem ornamentalen Element der gerade protegierten politisch-militärischen Praxis. Doch auch schon vor der Veröffentlichung des Manifestes beklagte Barth am 30. August 1914 in einer Predigt, „wie jetzt der Name Gottes hereingezogen wird in das sündliche, leidenschaftliche Treiben des Menschen, als sei er einer von den alten Kriegsgöttern, zu denen unsere heidnischen Vorfahren riefen.“

28

 Und hinsichtlich der Kommentierung des Kriegsausbruches in der „Christlichen Welt“ schrieb er Martin Rade: „Aber warum lassen Sie bei dieser ganzen weltlichen, sündigen Notwendigkeit Gott nicht aus dem Spiele?“

29

 Da „wird fortgesetzt etwas mit Gott, Gotteserfahrung, Gotteswillen begründet, was ich mit dem Gegenteil von Gott in Verbindung setzen muß, wenn ich nicht allen klaren Inhalt des Wortes ‚Gott‘ preisgeben soll.“ (127) Rade verwies dagegen auf die Tiefe des Erlebens, die es nicht zulasse, Gott hier außen vor zu lassen, selbst wenn da auf den verborgenen Gott zugegriffen werden müsse. Doch Barth hielt dem entgegen, dass Gott zwangsläufig partikularisiert und zu einem wehrlosen Parteigänger der jeweils ablaufenden Geschichte gemacht werde, wenn er vom menschlichen Erleben aus in den Blick genommen werde.



Die Frage, die sich hier für Barth folgenreich auftut, ist die ebenso unruhige wie grundlegende Frage, von woher menschliche Gottesrede überhaupt zu einem gewissen Stehvermögen kommen kann. Eröffnet eine bestimmte Wahrnehmung unserer Lebensumstände eine belastbare Perspektive auf Gott, in der sich erkennen ließe, auf welche Weise Gott in Anspruch genommen werden kann? Oder müsste es nicht umgekehrt darum gehen, dass Gott sich dem Menschen zuwendet und ihn in einer ganz besonderen Weise in Anspruch nimmt – aber wie kann es zu einer verlässlichen Erkenntnis dieser Zuwendung Gottes kommen? Barth liegt vorrangig daran, die Aporie in den Blick zu rücken, die er nun unausweichlich mit der Gottesfrage verbunden sieht. In einer Predigt konstatiert Barth angesichts der allzu selbstverständlichen Bereitstellung Gottes für die jeweiligen geschichtlichen Bedarfe die Möglichkeit, dass damit zu rechnen sei, dass er gerade nicht da ist, wo wir ihn gern postieren:



Und nun ist uns Gott ein Fremder geworden. Das ist unser Zustand. Wir haben uns so verhalten, daß er nicht bei uns bleiben konnte. Der Hochmut überfiel uns, daß wir mehr sein wollten als Gottes Kinder, große, selbständige Wesen wollten wir werden, wohl gar Gott selber gleich, selber wollten wir ausmachen und wissen, was gut und böse sei. Und Gott ließ uns gehen. Nein, er ließ uns stehen, da wo wir uns hingestellt, und ging weiter, ohne uns, und wurde uns ein Fremder.

30



Barth erhebt den Vorwurf, dass wir längst die Gerechtigkeit Gottes unseren doch eher kontingenten moralischen, rechtlichen und religiösen Gerechtigkeiten untergeordnet haben. In der Religion zeigt sich der Selbstbetrug am deutlichsten; es geht nicht um Gott, sondern vor allem um uns selbst. Ist sie nicht „ein Turm von Babel, über den Teufel lauter lacht als über alles Andere?!“

31



Was soll all das Predigen, Taufen, Konfirmieren, Läuten und Orgeln? all die religiösen Stimmungen und Erbauungen, all die „sittlich-religiösen“ Ratschläge „den Eheleuten zum Geleite“, die Gemeindehäuser mit und ohne Projektionsapparat, die Anstrengungen zur Belebung des Kirchengesanges, unsere unsäglich zahmen und nichtssagenden kirchlichen Monatsblättlein und was sonst noch zu dem Apparat moderner Kirchlichkeit gehören mag! Wird denn dadurch etwas anders in unserm Verhältnis zur Gerechtigkeit Gottes? Erwarten wir auch nur, dass dadurch etwas anders werde? (238 f)



Barth beklagt die Selbstverschlossenheit all unserer Lebensdimensionen, die sich bestenfalls um ein Surrogat, aber eben nicht um die Wirklichkeit selber drehen – Barth spricht in dieser Zeit immer wieder von einem „als ob“, mit dem wir uns über die Wirklichkeit hinwegtäuschen. Ihre Wurzel hat diese Täuschung in dem Umstand, dass wir längst das der von uns beherrschten Welt gegenüber prinzipiell Neue und Andersartige Gottes den Bedingungen und Bedürfnissen unserer alten Welt unterworfen haben, und es bleibt zu fragen, von wo aus sich dies Neue und Andersartige Gottes wieder entdecken lässt. Zwar hatte Barth auch vor dem Kriegsausbruch die Andersartigkeit Gottes durchaus im Blick,

32

 aber sie war ganz und gar von der vorherrschenden idealistischen Orientierung geprägt. Jetzt wurde er von ersten Zweifeln an den Grundentscheidungen der Theologie des 19. Jahrhunderts erfasst, die alle in irgendeiner Weise mit dem Namen Friedrich Schleiermacher verbunden sind. Gotteserkenntnis könne sich nur dort auf einem verheißungsvollen Weg befinden, wo nicht von einer prästabilisierten Harmonie ausgegangen wird, die es dann nur noch freizulegen gilt, sondern wo um die grundsätzliche Schwierigkeit gewusst wird, dass es dem Menschen keineswegs offenstehe und nahe liege, in angemessener Weise von Gott zu reden. Nicht die Frage nach der Existenz Gottes ist gemeint – in dieser Frage bleibt der Mensch im Grunde unerschüttert bei sich selbst –, sondern die viel brisantere, die sich aus der Voraussetzung seiner Existenz ergibt, weil diese dann auch uns selbst in Frage stellt.



Den einzigen Grund, den wir in dieser Situation wieder unter die Füße bekommen können, könne allein im Zeugnis der Bibel gefunden werden, das uns über die uns liegenden Möglichkeiten hinausführen will. Wenn Barth 1917 in einem Vortrag „Die neue Welt in der Bibel“ die an die Bibel zu stellenden Erwartungen dazu ermutigt, von ihren Auskünften über Gott mehr zu erwarten als das, was sich der Mensch über Gott selber zu sagen geneigt ist, dann klingt hier in einer eher versteckten Formulierung das erste Mal das zentrale theologische Motiv an, das von nun an in zunehmender Deutlichkeit seine ganze Theologie prägen wird. Er spricht von dem besonderen „Tone vom Ostermorgen“,

33

 der grundsätzlich über all das hinausgeht, was sich im Horizont unserer Erfahrungen erwarten lässt. Damit wird die entscheidende Herausforderung unserer Erwartung angesprochen, zu der uns die Bibel ermutigt, auch wenn diese über all das hinausgeht, was es vom Menschen und den Bedingungen seiner Welt aus zu erwarten gibt. Wenn es um Gott geht, steht mehr zur Debatte als die idealisierte Duplizierung unserer zufälligen Wertschätzungen in unserem Umgang mit unserer Welt.



Der von Barth diagnostizierte Skandal der ebenso beliebigen wie abgründigen Inanspruchnahme Gottes als religiöse Stütze für unsere jeweiligen moralischen Werthaltungen hatte für ihn die Konsequenz, ganz neu die Frage nach den Orientierungen für ein angemessenes Reden von Gott zu stellen, die in der Bibel zu suchen sind. Nach einem Selbstzeugnis von Barth war es sein Freund Eduard Thurneysen, der „für Predigt, Unterricht und Seelsorge eine ‚ganz andere‘ theologische Grundlegung“ einforderte

34

, und diese war eben ganz neu in dem biblischen Zeugnis zu suchen, an dem sich die Theologie von alters her und doch immer wieder in anderer Weise orientiert hat und von dem sie auch immer wieder grundlegend erneuernde Impulse empfangen hat. Unter dem Apfelbaum im Pfarrgarten wandte sich Barth im Sommer 1916 einer intensiven Lektüre des Textes zu, der nicht zuletzt in der Reformation zu grundlegenden wie auch einschneidend verändernden Orientierungen geführt hatte: dem Römerbrief des Paulus. Es ging Barth bei dem entschlossen aufgenommenen Textstudium darum, den Römerbrief so zu lesen, als habe er ihn noch nie gelesen, Satz für Satz, und er schrieb auf, was er angesichts der Worte des Paulus und mit oder gegen die zu Rate gezogene Literatur meinte verstehen zu sollen. Gewiss ist es nicht möglich, die mitgebrachten Prägungen ganz auszuschalten – niemand blickt ohne eigene Prägungen in die Bibel –, aber Barth entdeckte in seiner geschärften Aufmerksamkeit auf die Andersartigkeit des biblisch bezeugten Gottes gegenüber all den Vereinnahmungen, mit denen sich die Theologie angewöhnt hat, Gott einen Platz in unserer Weltwahrnehmung zuzuweisen, den Einspruch des Paulus gegen den von der Kirche in ihrem eigenen Betrieb gepflegten harmlosen Gott. So erhaben er auch in Szene gestellt werden mag, so grundsätzlich unterscheidet sich dieser verharmloste und unseren Bedingungen angepasste Gott von dem, der nach dem Zeugnis des Paulus von sich aus die Erkenntnis des Menschen herausfordert und in Anspruch nimmt. Gegenüber der vom Menschen gepflegten religiösen Welt ist die Frage nach Gott „die Frage nach dem ganz Andern“

35

, das uns nicht einfach zur Verfügung steht, sondern um dessen Erkenntnis nur immer wieder neu gebeten werden kann.

 



Wirkliche Gotteserkenntnis aber weiß sich gerade mit ihren letzten Gewißheiten nicht am Ende, sondern am Anfang der Arbeit, ist mit den Rätseln und Schwierigkeiten des Lebens nie fertig, sondern hebt von Stunde zu Stunde neu an mit ihnen zu ringen. Gotteserkenntnis ist kein Entrinnen in die sichere Höhe reiner Ideen, sondern ein mitleidendes und mitschaffendes und mithoffendes Eintreten auf die Not der jetzigen Welt. Die im Christus geschehene Offenbarung ist ja eben nicht die Mitteilung einer intellektuellen Klarheit, einer Weltformel, deren Besitz die Möglichkeit einer Beruhigung böte, sondern Kraft Gottes, die uns in Bewegung setzt, Schöpfung eines neuen Kosmos, Durchbruch eines göttlichen Keims durch wiedergöttliche Schalen, anhebende Aufarbeitung der unerlösten Reste, Arbeit und Kampf an jedem Punkt und für jede Stunde.

36



Die hier vollzogene Neuorientierung führte auch zu einer deutlichen Distanzierung vom religiösen Sozialismus, weil Barth auch hier eine unheilige Vermischung der menschlichen Aktivitäten und Bewegungen mit der Geschichte Gottes witterte, wie er sie auch selbst noch wenige Jahre zuvor propagierte hatte. In seinem berühmten Tambacher Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft“ (1919), in dem Barth das für Ragaz vorgesehene Thema nach dessen Absage übernommen hatte, provozierte Barth mit der These, dass es in theologischer Perspektive nicht auf den Christen in der Gesellschaft, sondern auf Christus in der Gesellschaft ankomme. In dem kleinen thüringischen Ort Tambach waren etwa hundert Teilnehmer zu einer Tagung im Haus Tannenberg angereist, die in der religiös-sozialen Bewegung einen auch gesellschaftspolitisch hoffnungsvollen Neuaufbruch eines engagierten und demokratisch gesinnten Christentums sahen und vor allem einen jugendbewegt idealisierten Sozialismus der Bergpredigt propagierten. Gegenüber der etablierten konservativen Kirche sah man sich auf der richtigen Seite und auf der Höhe der Zeit. Barths Warnung vor allen (pathetischen) Vereinnahmungen des christlichen Glaubens für irgendwelche historischen Bewegungen war nicht das, was die Teilnehmer dieser Tagung erwartet hatten. Vielmehr setzten sie darauf, ermutigenden theologischen Rückenwind für ihr als richtig erkanntes Engagement zu bekommen. Indem Barth ihnen nun bedeutete, dass die Theologie nicht die Aufgabe habe, irgendwelche gesellschaftlichen Optionen zu sanktionieren, sondern die Beunruhigung zu bedenken habe, die von Gottes keineswegs einfach für eine gesellschaftspolitische Gesinnung vereinnehmbaren Zuwendung zur Welt ausgehe und alle menschlichen Geschichtsentwürfe in Frage stelle, versetzte er die ganze Versammlung in eine irritierende Verlegenheit. Barths programmatisch vorgetragene Kritik galt der wiederum allzu selbstverständlichen Inanspruchnahme des Willens Gottes für das eigene geschichtliche Engagement und damit der theologischen Überhöhung der eigenen politischen Option. Barth warnte in Tambach sein engagiertes Publikum nachdrücklich davor



Christus zum soundsovielten Male zu säkularisieren, heute z. B. der Sozialdemokratie, dem Pazifismus, dem Wandervogel zu Liebe, wie ehemals den Vaterländern, dem Schweizertum und Deutschtum, dem Liberalismus der Gebildeten zu Liebe, das möchte uns allenfalls gelingen. Aber nicht wahr, da graut uns doch davor, wir möchten doch eben Christus nicht ein neues Mal verraten.

37



Während die einen – wie auch Ragaz – durch die dialektische Position Barths die „revolutionäre Wirkung paralysiert“

38

 sahen, verstanden andere die Ausführungen Barths als einen berechtigten Weckruf. Auch wenn er sich in Tambach zunächst nur begrenztes Gehör verschaffen konnte, so weckte aber in der Nachwirkung sein energisches Drängen auf die nicht einfach geschichtlich verrechenbare Besonderheit des Themas der Theologie schon bald eine sich mehr und mehr ausbreitende Aufmerksamkeit. Barth ging es ja in keiner Weise um eine Distanzierung von der Idee und den Zielen des Sozialismus, wohl aber von seiner christlich-theologischen Überhöhung zu einem von Gott ins Recht gesetzten Werkzeug des Willens Gottes. Wiederholt benutzte er zur Kennzeichnung der hier ins Auge zu fassenden wichtigen Differenz in seinem Römerbriefkommentar bereits die später durch Dietrich Bonhoeffer weithin bekanntgewordene Unterscheidung zwischen den vorletzten und den letzten Dingen:



Daß ihr als Christen mit Monarchie, Kapitalismus, Militarismus, Patriotismus und Freisinn nichts zu tun habt, ist so selbstverständlich, daß ich es gar nicht zu sagen brauche. „Die wir der Sünde gestorben sind, wie sollten wir in ihr weiterleben können?“ (6,2). Viel näher liegt euch natürlich die andere Möglichkeit, die im Christus kommende Revolution willkürlich vorauszunehmen und dadurch hintanzuhalten. Und davor warne ich Euch! Die Sache der göttlichen Erneuerung darf nicht vermengt werden mit der Sache des menschlichen Fortschritts. Das Göttliche darf nicht politisiert und das Menschliche nicht theologisiert werden, auch nicht zugunsten der Demokratie und Sozialdemokratie. Ihr müsst euch, mag eure Stellung in den vorletzten Dingen sein, welche sie wolle, freihalten für das Letzte. Ihr dürft in keinem Fall in dem, was ihr gegen den jetzigen Staat tun könnt, die Entscheidung, den Sieg des Gottesreiches suchen.

39



Es war dann auch dieser Römerbriefkommentar, durch den Barth jetzt in Deutschland wahrgenommen wurde. Nachdem der Verkauf des Buches zunächst nur äußerst schleppend verlief und vor allem auf die Schweiz beschränkt war, wurde Barth nach seinem Tambacher Vortrag in Deutschland zu einer bekannten und zugleich umstrittenen Person, so dass der inzwischen vom Münchener Christian Kaiser Verlag übernommene Band bald vergriffen war und nach einer neuen Auflage verlangte. Der umtriebige Münchener Pfarrer und theologische Berater des Kaiser Verlages, Georg Merz, prophezeite in seiner Rezension von Barths Römerbrief, dass Barth es sei, der „den Gang der Theologie auf lange hinaus bestimmen werde.“

40

 Es liegt aber im spezifischen Charakter dieses Buches als Dokument eines entschlossen gewagten Neuanfangs und zugleich ungewissen Übergangs auf ein noch unbestelltes Feld, dass Barth sich nicht in der Lage sah, das Buch einfach unverändert ein zweites Mal in den Druck zu geben. Aber da er nun einmal – ohne es beabsichtigt zu haben – am Glockenseil gezogen und damit nicht ohne eigenes Erschrecken verbreitet Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe – so schreibt Barth im Rückblick auf seinen Weg –, habe er sich genötigt gesehen, nun auch behutsam weiterzugehen in die eingeschlagene Richtung.

41

 Es ist ein sprechender Beleg für die keineswegs abgeschlossene Dynamik der sich auch für Barth erst nach und nach deutlicher abzeichnenden Konturen der vorzunehmenden Fundamentalrevision der Theologie, dass er seinen „Römerbrief“ nur nach einer gründlichen Überarbeitung erneut veröffentlichen konnte, bei der von der ersten Auflage „kein Stein auf dem andern geblieben“

42

 sei. 1922 erschien der Römerbrief in vollkommen neu bearbeiteter Gestalt, in der er dann schnell hintereinander mehrere Auflagen erlebte.



Barth bemühte sich, der ins Auge zu fassenden Wende eine konsequentere Richtung zu geben. Es ist das Ernstmachen mit der Gottheit Gottes und d. h. mit der besonderen Wirklichkeit Christi, die uns in aller Deutlichkeit darauf stößt, dass Gott „der ganz Andere“ ist. Barth betont die Diastase gegenüber den menschlichen Sehnsüchten und Wünschen, in die Gott „senkrecht von oben“ das Nein und Ja seines Zornes und seine Gnade ergehen lässt. Er bezieht sich auf die Christentumskritik von Blumhardt, Overbeck und Dostojewski ebenso wie auf die Feuerbachs und Nietzsches. Erst wenn die Instrumente durchschaut sind, mit denen der neuzeitliche Mensch sich angewöhnt hat seine tatsächliche Existenznot mehr oder weniger trügerisch zu überspielen, besteht die Chance, die Offenbarung Gottes in ihrer unverrechenbaren Besonderheit in den Blick zu bekommen und damit zu einer Wahrnehmung der Wirklichkeit vorzudringen, die erkennen lässt, wie es tatsächlich um uns bestellt ist.



Seit 1919 hängt über Barths Schreibtisch das für ihn in besonderer Weise sinnbildlich gewordene Altarbild des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald.

43

 In seinem ebenso programmatischen wie verschlüsselten Vortrag vor der christlichen Studentenkonferenz 1920 in Aarau mit dem eher blassen Titel „Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke“ ist dieses Bild ein Impulsgeber, auf den er auch später immer wieder zurückgekommen ist:



Wir denken an Johannes den Täufer auf Grünewalds Kreuzigungsbild mit seiner in fast unmöglicher Weise zeigenden Hand. Diese Hand ist’s, die in der Bibel dokumentiert ist.

44



Werden wir es wagen, der zeigenden Hand des Grünewaldschen Täufers mit unserm Blick zu folgen? Wir wissen, wohin sie zeigt. Sie zeigt auf Christus. Aber auf Christus den Gekreuzigten, müssen wir sofort hinzufügen. Das ist’s! sagt die Hand. (685)



Die Mater dolorosa, die Maria Magdalena und der Jünger Johannes, die auf Grünewalds Altarbild das Gegenstück bilden zu dem zeigenden Täufer, sie scheinen anzudeuten, dass es möglich ist, vor dem Geheimnis des Kreuzes in Ratlosigkeit, Entsetzen und Verzweiflung stehen zu bleiben. (692)



Es zeichnet sich der Fokus ab, der Barth gegen das „vermeintliche Besitzen, Schmausen und Austeilen, die verblendete Unart der Religion,“ aufgebracht hat, um nun „einem ehrlichen grimmigen Suchen, Bitten und Anklopfen Platz zu machen“ (694). Zwei Jahre später sagt er seinen Vortrag „Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“ pointiert:



Seufzen: „Veni creator spiritus!“ ist nun einmal nach Röm. 8 hoffnungsvoller als triumphieren, wie wenn man ihn schon hätte. Sie sind in „meine Theologie“ eingeführt, wenn Sie diesen Seufzer gehört haben.

45





4.Professor in Göttingen, Münster und Bonn





Es geht auf die Anregung einiger reformierter Gemeinden und insbesondere auf das Verhandlungsgeschick des Erlanger reformierten Theologen E.F. Karl Müller zurück, an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen nach jahrelangen mühseligen Verhandlungen einen außerordentlichen Lehrstuhl für reformierte Theologie einzurichten, der mit finanzieller Unterstützung amerikanischer Presbyterianer als eine Stiftungsprofessur seinen Anfang nehmen sollte. Für Barth war es „sehr neu“, Anfang 1921 durch die überraschende Einladung, sich im Blick auf die zu besetzende Professur in Göttingen vorzustellen, auf seine „Eigenschaft als reformierter Theologe in so verpflichtender Weise angeredet zu werden“.

46

 Als Pfarrer, der nicht in den Startlöchern für eine Bewerbung auf eine Professur stand, hatte er darauf gedrungen, anstelle der Probevorlesung eine Predigt halten zu dürfen, wie es dann am 27. Februar auch geschah. Nach einigem Zögern und ratsuchender Korrespondenz vor allem mit Rade und Thurneysen nahm er bald nach einem weiteren im Juni abgestatteten Besuch in Göttingen den Ruf auf die niedrig dotierte Honorarprofessur an und begann dort – übrigens zusammen mit dem zeitgleich nach Göttingen berufenen Emanuel Hirsch – bereits in der zweiten Novemberwoche seine Lehrtätigkeit.

47



Damit vollzog sich eine entscheidende Wende in Barths Leben. Er nahm die unerwartet veränderte Situation vor allem als Herausforderung und Gelegenheit, nun in der gebotenen Gründlichkeit das entfalten zu können, auf das er bisher nur hatte hinweisen können. Vor allem galt es nun zu bewähren, wie es möglich ist, mit den in seiner Römerbriefauslegung annoncierten Einsichten an der Universität Theologie zu treiben.

 



Wir hatten Verantwortlichkeiten zu übernehmen, die wir, solange wir einfach in der Opposition standen, so nicht gekannt hatten. Uns war jetzt plötzlich Raum gegeben, um in der Theologie zu sagen, wie wir es denn eigentlich meinten, und in der Kirche zu zeigen, was wir eigentlich wollten und könnten. Wir hatten doch einen Weg erst angetreten, den nun jeder an seinem Ort mühsam genug zu gehen hatte. Im einzelnen war ja alles erst zu entdecken, zu klären und vor allem zu bewähren. Aus der Nähe sahen viele Dinge so ganz anders aus, als wir sie im ersten Anlauf zu sehen meinten.

48



Diese Herausforderung hat Barth zunächst durchaus mehr bedrängt als ermutigt. Er empfand seine Entscheidung für die akademische Theologie als einen Sprung, den er mit zusammengebissenen Zähnen wagte. Unter den „achtbaren Gelehrten“ der Fakultät fühlte er sich wie ein umherschweifender „Zigeuner , der nur ein paar verlöcherte Kessel sein eigen nennt und dafür gelegentlich ein Haus anzündet.“

49

 Mit großem Respekt vor der nun von ihm wahrzunehmenden Aufgabe, der ihm auch manchen dramatischen Traum bescherte, und zugleich auch mit einigen Befürchtungen im Blick auf die Kollegenschaft und dem nicht ganz zu unterdrückenden Zweifel, die Entscheidung für Göttingen zu rasch gefällt zu haben, stürzte sich Barth engagiert in die Arbeit, die ihn nicht selten bis tief in die Nacht hinein in Atem hielt.



Im ersten Semester hielt er eine Vorlesung über den Heidelberger Katechismus und eine Vorlesung über den Epheserbrief. Auch wenn Barth mit der konfessionellen Beschränkung seines Lehrstuhls haderte – in dieser Hinsicht ist es dann auch immer wieder zu Konflikten mit der lutherisch geprägten Fakultät gekommen –, arbeitete er sich in den ersten Semestern intensiv in die profilbildenden Quellen der reformierten Tradition ein. In den anschließenden Semestern folgten je eine Vorlesungen über Calvin, Zwingli und die reformierten Bekenntnisschriften. Zugleich bemühte er sich mit konsequentem Exzerpieren um ein Studium der protestantischen Orthodoxie ebenso wie der Alten Kirche und des Spätmittelalters. „Da gabs nun ein tage- und nächtelanges Studieren und Hin- und Herwälzen von alten und neuen Büchern, bis ich einigermaßen – ich will nicht sagen, aufs Roß, aber wenigstens auf den akademischen Esel kam, so daß ich reiten konnte an der Universität.“

50

 In atemberaubender Geschwindigkeit eignete sich Barth ein umfängliches Wissen an, das ihm eine solide Basis zur Explikation seiner nun auch gegenwärtig zu verantwortenden Theologie gab.



Neben seinen akademischen Verpflichtungen nahm Barth zahlreiche Einladungen zu Vorträgen an, die ihm die Bekanntschaft mit vielen Pfarrern und theologisch interessierten Gemeindegliedern verschaffte. Umgekehrt gelangte er unversehens zu einer überaus verbreiteten Bekanntheit auch über den universitären Bereich hinaus. Oft waren es gerade diese Vorträge, in denen sich Barth programmatisch zu deutlichen Zuspitzungen vorwagte, die dann in der akademischen Arbeit noch einmal konjugiert werden mussten. Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre waren es dann auch umgekehrt häufig Früchte seiner akademischen Lehrtätigkeit, auf die er in seinen Vorträgen zurückgreifen konnte. Da es in der Regel schnell zu einer Publikation seiner Vorträge (zudem 1924 und 1928 auch bereits in zwei Sammelbänden) kam, war dafür gesorgt, dass seine theologische Arbeit eine ungewöhnliche hohe und breite Aufmerksamkeit genießen konnte, so dass er schon ebenso ungewöhnlich früh auch selbst zum Gegenstand theologischer Untersuchungen und Auseinandersetzungen wurde. Es ist gewiss ein Indiz für die auf ihn gerichtete interessierte Aufmerksamkeit, dass ihn eine ledige Mutter, die ihn aus seinen Schriften kannte, um Rat ersuchte und um die Patenschaft für ihren Sohn bat, die er dann auch gern übernahm – dieser in Dortmund geborene Sohn ist der später bekannt gewordene Schriftsteller Peter Rühmkorf.

51



Als er für das Sommersemester 1924 nun eine reguläre Vorlesung „Prolegomena zur Dogmatik“ ankündigen wollte, wurde ihm dies von der Fakultät verweigert, und er wurde auf die vereinbarte Beschränkung auf die reformierte Theologie verwiesen, die – um das gleich hinzuzufügen – nach einer Bemerkung seines lutherischen Kollegen Carl Stange einer Kirche im Rang einer „Millennium-Sekte“ diene.

52

 Im Protokoll der entscheidenden Fakultätsratssitzung zur Berufung von Barth am 12. Mai 1921 war die Zuständigkeit dieser Professur strikt auf die „Einführung in das reformierte Bekenntnis, reformierte Glaubenslehre und reformiertes Gemeindeleben“ beschränkt worden, und eben diese Formulierung findet sich dann auch in den entsprechenden Dokumenten, mit denen Barth in Göttingen etabliert wurde. Und so dürfe Barth nun auch nur eine Vorlesung zur „reformierten“ Dogmatik ankündigen. Auch sonst wurde kaum eine Gelegenheit ausgelassen, Barths Position soweit es irgend geht zu marginalisieren, indem er etwa im Personalverzeichnis erst hinter den Privatdozenten unter der Überschrift „Lehrauftrag für reformierte Theologie“ aufgeführt wurde oder seine Lehrveranstaltungen in den Ankündigungen erst ganz am Schluss nach den angebotenen logopädischen Übungen und Arbeitsgemeinschaften – auf dem schwarzen Brett waren die Vorlesungen Barths bei den Hinweisen auf Musik- und Sportveranstaltungen zu suchen. Nun aber im Konflikt um die Ankündigung der Dogmatikvorlesung kam Barth mit seiner Geduld an eine Grenze, weil er den Anspruch auf Allgemeingültigkeit seiner Theologie in Frage gezogen sah: „Die reformierte Dogmatik ist oekumenisch so gut wie jede andere, verbittet sich also eine solche Firma!“

53

 – alles andere könnte nur eine sinnlose Interpretation seines Lehrauftrages sein. Es kam zu einem monatelangen Konflikt, der bis in das Ministerium getragen wurde und schließlich zu dem Kompromiss führte, dass Barth seine Vorlesung mit dem ins Deutsche übersetzten Titel des dogmatischen Hauptwerkes von Calvin „Unterricht in der christlichen Religion. Prolegomena“ ankündigte.

54



Neben diesen provinziellen Göttinger Universitätspossen kam es aber auch zu grundsätzlichen Kontroversen, unter denen die öffentlich geführte Auseinandersetzung mit seinem Berliner Lehrer Adolf von Harnack besonders hervorsticht, einerseits weil in ihr zwei grundlegend unterschiedliche Bestimmungen der Aufgabe der Theologie aufeinanderprallten, und andererseits, weil es nicht möglich war, noch eine gemeinsame Ebene zu finden, auf der sich die gegeneinander stehenden Positionen als fähig erweisen konnten, sich einen gegenseitigen Respekt zu erweisen.

55

 Da stießen zwei theologische Welten und auch Generationen aufeinander, die unter sich keine gemeinsame Schnittmenge mehr zu haben schienen.



Während Harnack bei Barth einen zum Atheismus tendierenden Kulturskeptizismus ausmacht und ihm Wissenschaftsverachtung vorwirft, hebt Barth die Bindung der Theologie an die unverfügbare Offenbarung und ein dieser Bindung gerecht werdendes Wissenschaftsverständnis hervor. Für Barth muss die Wissenschaft in der Lage sein, der von der Theologie zu fordernden besonderen Sachlichkeit zu entsprechen, wenn anders sie ihren Gegenstand nur verfehlen kann. Es könne nicht angehen, dass die Sachlichkeit der Theologie aus einem unabhängig von ihrem Gegenstand gewonnenen Wissenschaftsverständnis abgeleitet wird, das sich als allgemein ausgibt, faktisch aber auch nur Ausdruck einer im Grunde zufälligen geschichtlichen opinio communis ist. Harnack sieht Barth dagegen „eine Dialektik zu Hilfe“ rufen, „die uns auf einen unsichtbaren Grat führt zwischen dem absoluten religiösen Skeptizismus und dem naiven Biblizismus“ (88). Auf unterschiedlichen Ebenen wirft man sich gegenseitig einen zerstörerischen Relativismus vor: Harnack sieht in der unterstellten subjektiven Willkür Barths letztlich die Auflösung des Christentums drohen. Es sei diese subjektive Usurpation, die schließlich faktisch zu einer Relativierung führen werde. Barth wittert dagegen im historischen Relativismus Harnacks eine gegenst