Karl Barth

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Es verhält sich nämlich so, daß, wer wirklich und ernstlich zuerst Gesetz und dann erst und unter Voraussetzung dieses zuerst Gesagten, Evangelium sagen würde, beim besten Willen nicht vom Gesetz Gottes und darum dann sicher auch nicht von seinem Evangelium reden würde.110

Barth fasst in gewisser Weise die zentrale Pointe der von ihm noch und noch eingeforderten theologischen Existenz in dieser sachlich ernst zu nehmenden Umstellung von Gesetz und Evangelium zusammen. „Das Gesetz wäre nicht das Gesetz, wenn es nicht geborgen und verschlossen wäre in der Lade des Bundes.“ (1) Für eine theologische Perspektive bleibt es konstitutiv, dass sie auf das Wort Gottes ausgerichtet ist, wie es in der ersten Wahrheit des Barmer Bekenntnisses ausgesprochen wird. Dieses Wort Gottes hat das Evangelium zu seinem Inhalt und das Gebot Gottes zu seiner Form, wobei sich das eine nicht vom anderen trennen lässt, wie es in der zweiten Barmer Einsicht unterstrichen wird. Barth gibt in diesem Vortrag den in Barmen verabschiedeten Wahrheiten noch einmal einen fundamentaltheologischen Horizont, den er nicht zuletzt für das nötige Stehvermögen der BK in den weiterhin zu erwartenden Auseinandersetzungen für grundlegend hält. Die Ethik wird ganz und gar an die Zuwendung Gottes in der Gnade seines Evangeliums gebunden (vgl. Kap. I.11). Es ist der hier benannte, aber nicht weiter vertiefte bundestheologische Horizont, der in seiner christologischen Interpretation als die Mitte der Selbstoffenbarung Gottes zu verstehen ist (vgl. Kap. I.7). Allein in dem Eintreten Gottes für uns können wir erkennen, „was Gott mit uns und von uns will“ (7). Die Ethik rückt konsequent in den Horizont der Bezeugung der Gnade Gottes:

Es geht immer um den Glauben an Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Es kann also nie Ansprüche und Anforderungen geben, die anderswoher oder die in sich selber Gesetzeskraft hätten: es kann nur Zeugnisse geben. […] Und das Gesetz und alle seine Gebote werden von uns gehalten und erfüllt, wenn sie bei uns Glauben finden, den Glauben an Jesus Christus, das heißt den Glauben, der sich an ihn hält und bei ihm bleibt, einfach darum, weil er das ewige Wort im Fleische ist, das alles vollbracht hat. In diesem Glauben ist aller Gehorsam beschlossen. (12 f)

In der Ethik geht es um nicht mehr, aber eben auch um nicht weniger als um die Konformität unseres Handelns mit dem Handeln Gottes. Es entspricht der hier von Barth angeschlagenen Grundsätzlichkeit, wenn der vorgeschlagene Perspektivenwechsel bis in die 1960er Jahre immer wieder diskutiert worden ist.111

So gut es irgend ging, versuchte Barth auch von Basel aus unter immer schwerer werdenden Bedingungen die Verbindungen nach Deutschland zu halten, aber von allen Möglichkeiten einer direkten Einflussnahme war er jetzt abgeschnitten. Durch das 1938 ergangene Verbot aller seiner Schriften in Deutschland bekam diese Isolation eine zusätzliche Deutlichkeit. Immerhin nahmen eine gewisse Anzahl von Studierenden aus Deutschland die Möglichkeit wahr, für einige Semester zum Studium nach Basel zu gehen, bis schließlich ab 1939 diese in Deutschland nicht mehr anerkannt wurden.

Nun kam es zudem in der Schweiz dazu, dass Barth, nachdem er nicht ohne Zurückhaltung zunächst willkommen geheißen wurde, auch hier bald seinen Weg weithin allein und unter einem wachsenden Argwohn insbesondere der Schweizer Administration zu gehen hatte, die darum fürchtete, dass der durch ihre Neutralität gesicherte Friede in der Schweiz gefährdet sein könnte, wenn die radikale Kritik von Barth als die Position der Schweiz angesehen werde. Es kann durchaus davon gesprochen werden, dass Barth nun auch in der Schweiz einen eigenen Kirchenkampf zu führen hatte, in dem er ebenso wenig wie in Deutschland die Kirchen auf seiner Seite wissen konnte.

Bezogen auf seinen Einfluss in Deutschland bleiben schließlich zwei Begebenheiten zu erwähnen, in denen deutlich wird, dass die inzwischen eingetretene Distanz mehr das Missverstehen als das Verstehen beförderte:

1. Unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Frühjahr 1938 hielten es die Kirchenleitungen der meisten Landeskirchen – wie sich später herausstellte ohne jede staatliche Veranlassung – für opportun, ihren Pfarrern nach dem aktuellen Vorbild der evangelischen Kirche in Österreich nun auch ausdrücklich den Treueid zum Führer abzuverlangen in expliziter Bezugnahme auf die beeidete Treuepflicht der staatlichen Beamten. In diesem Zusammenhang sollte auch die noch unvollendete Einführung des Arierparagraphen in die Kirche komplettiert werden. Für die DC und die sogenannten ‚intakten Kirchen‘ schien beides kein Problem zu sein, während sich in den ‚zerstörten‘ Kirchen der altpreußischen Union deutlicher Widerstand regte. In einem nach Deutschland übermittelten Ratschlag vom 18. Mai 1938, der in hektographierter Form in der BK verbreitet wurde, lehnte Barth jede Eidesleistung ab, weil es in der aktuellen Situation nur noch darum gehen könne, die Staatsgewalt „an ihre Würde als die von Gott eingesetzte Obrigkeit zu erinnern“112. Auf der ersten Tagung der sechsten Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union in Berlin machte sich die BK den Ratschlag Barths nicht zu eigen. Als dann auf der zweiten Tagung der Synode Präses Koch den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates mit der Auskunft zitierte, dass der Eid ausdrücklich vom Staat erwartet werde, schwand der Widerstand und 60 % der Pfarrer folgten der Eideserwartung. Unmittelbar nachdem die Eide geleistet wurden, teilte der NS-Reichsleiter Martin Bormann mit, dass der Staat keinerlei Veranlassung für diesen Eid gegeben habe. Deshalb spiele für die Partei „der Unterschied zwischen den Geistlichen, die den Eid auf den Führer nach 5 Jahren nationalsozialistischer Erhebung geleistet haben und solchen Pfarrern, die ihn nicht leisten, keine Rolle.“113 Die Folge war eine schwere Vertrauenskrise, die auf die Selbstkompromittierung hinwies, unter welcher offenkundig zahlreiche Pfarrer die Eidesleistung vollzogen hatten. Die längst geschwächte BK verlor weiter an ernstzunehmender Bedeutung.

2. Eine besonders einschneidende Irritation ist mit dem berühmt-berüchtigten Brief verbunden, den Barth angesichts der Tschechen- bzw. Sudetenkrise und der mit ihr verbundenen akuten Kriegsgefahr am 19. Sept. 1938 an seinen Prager Freund Josef Hromádka schrieb. Die exzessive Kriegsrhetorik Hitlers brachte die Westmächte dazu, Deutschland weitere Konzessionen einräumen, um nicht in den Krieg gezwungen werden. Für Barth bedeutete dieses Zurückweichen eine politische Resignation, welche leichtfertig die Augen vor den weiterreichenden Absichten Hitlers verschloss. Für ihn war klar, dass es nun an der Zeit sei, dem deutschen Unrechtssystem entgegenzutreten, so dass er u. a. folgende Sätze an Hromádka schrieb, die sich dann am 25. Sept. auch in der deutschsprachigen „Prager Presse“ wiederfanden:

Das eigentlich Furchtbare ist ja nicht der Strom von Lüge und Brutalität, der von dem hitlerischen Deutschland ausgeht, sondern die Möglichkeit, daß in England, Frankreich, Amerika – auch bei uns in der Schweiz – vergessen werden könnte: mit der Freiheit Ihres Volkes steht und fällt heute nach menschlichem Ermessen die von Europa und vielleicht nicht nur von Europa. Ist denn die ganze Welt unter den Bann des bösen Blickes der Riesenschlange geraten? […] Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns – und, ich sage es heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die in dem Dunstkreis der Hitler und Mussolini nur entweder der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann. Merkwürdige Zeiten, lieber Herr Kollege, in denen man bei gesunden Sinnen unmöglich etwas Anderes sagen kann, als daß es um des Glaubens willen geboten ist, die Furcht vor der Gewalt und die Liebe zum Frieden entschlossen an die zweite und die Furcht vor dem Unrecht, die Liebe zur Freiheit ebenso entschlossen an die erste Stelle zu rücken!114

Auf dem Umweg über die Niederlande kam der Inhalt des Briefes nach Deutschland. Er war nicht nur das gefundene Fressen für das Propagandaministerium, sondern löste bis tief in die Reihen der BK Unverständnis und Empörung aus. Die BK wurde bedrängt, sich nun endlich öffentlich von Barth loszusagen.115 Es wurde gefragt, ob Barth ein „Wahnsinniger“ oder ein „Verbrecher“ sei. Nur wenige Mitglieder der Bruderräte hatten Verständnis für Barths Zuspitzungen. Martin Rade kritisierte vor allem die Veröffentlichung. Auch in der Schweiz galt der Brief als „schwere Abirrung“. Es wurde ihm vorgeworfen, dass er nun genau das mache, was er in Deutschland so energisch bekämpft habe, indem er Politik und Theologie vermische und damit den Boden von Barmen I verlasse. Genau dies habe Barth selbst stets abgewiesen und unterstrichen, es sei ihm um das in der jeweiligen Situation aus christlicher Perspektive zu Sagende und nicht um eine politische Option mit theologischer Überhöhung gegangen. In einem Brief an seinen Freund Pierre Maury in Paris schrieb er am 12. Okt. 1938 zu diesem Vorwurf: „Habe ich immer vertreten, daß alle menschlichen Entscheidungen dem göttlichen Urteil und der göttlichen Revision unterliegen, so habe ich doch nie vertreten, daß es deshalb menschliche Entscheidungen gar nicht geben dürfe oder daß wenigstens wir Theologen solchen Entscheidungen möglichst auszuweichen oder sie möglichst zu verheimlichen hätten.“ (126) Die Auswirkungen dieses Briefes reichten bis weit in die Nachkriegszeit hinein, wo der inzwischen berühmte „tschechische Soldat“ – wie Barth in der Auseinandersetzung immer wieder formulierte – 1950 in der Debatte um die Wiederaufrüstung Deutschlands116 und über Barth hinaus in den heftigen Auseinandersetzungen um den Nato-Nachrüstungsbeschluss präsent blieb, als über die Legitimität und Dringlichkeit des gebotenen Widerstandes gestritten wurde. In der konkreten Situation 1938 sollte Barth darin Recht behalten, dass durch die Duldung Hitlers der Konflikt nur vertagt werde und somit zu befürchten sei, dass er später ungleich schwieriger sein werde, weil zur Zeit der Sudetenkrise Hitler noch nicht wirklich zum Krieg bereit gewesen sei, was aber nichts daran ändere, dass seine Politik früher oder später auf einen Krieg zulaufe. Und im Blick auf diesen Krieg war sich Barth in aller Deutlichkeit klar darüber, dass er um des Rechts und um der Freiheit willen unvermeidlich zu führen sei, was er auch in alle Himmelrichtungen mit Nachdruck aussprach, ohne damit die Mentalität eines Rachefeldzuges beflügeln zu wollen. Charakteristisch für die vielen Äußerungen, die Barth in dieser Sache wiederholt hat, mag die Passage aus einem Brief vom 7. Sept. 1939 stehen:

 

Es hat wohl schon lange keinen Krieg mehr gegeben, in dem man jedenfalls auf der einen Seite wußte, daß man Alles um einer guten Sache willen auf sich nahm und daß sich jedes Opfer lohnen werde. Aber eben: da ist die andere Seite, die das nicht wissen kann und … nun doch Alles an Opfer und Leiden auch auf sich nehmen muß: für eine in jeder Hinsicht verlorene Sache. So muß man mit den armen Deutschen bestimmt am Meisten Erbarmen haben.117

Der Krieg sei gleichsam als Polizeimaßnahme in Wahrheit auch für Deutschland zu führen und nicht als ein wie auch immer gearteter heiliger Krieg mit der entsprechenden religiösen Begleitmusik.118 Wurde Barth im Zusammenhang mit seiner sozialistischen Option gern „Pazifismus“ zum Vorwurf gemacht, so wurden ihm nun seine Appelle zur Verteidigungsbereitschaft der Schweiz als „Militarismus“ vorgeworfen. In besonderer Weise stand für ihn die Schweiz für das, was es gegen den Nationalsozialismus zu verteidigen galt und um dessen willen dem Konflikt mit dem Nationalsozialismus nicht mit faulen Kompromissen ausgewichen werden könne, wie er sie allerdings die Schweizer Politik – in der Regel auch wieder im vorauslaufenden Gehorsam – immer wieder eingehen sah.119 Das genau ist der Hintergrund, weshalb Barth nun auch von der Schweiz als Sicherheitsrisiko und somit als staatsgefährdend eingestuft und entsprechend beobachtet, abgehört und sogar bis hin zum Redeverbot reglementiert wurde.120 Er appellierte an die Kirchen, dass sie ihrer Verantwortung gegenüber dem Staat nachkommen sollten, indem sie diesen vor einem Einknicken gegenüber dem Nationalsozialismus warnen sollten. Es wurde ihm vorgeworfen, die Theologie zur Verbrämung seiner problematischen politischen Ansichten zu instrumentalisieren, und verbat sich vonseiten der Administration die Einmischung der Theologie in die Politik. Theologisch dürfe er freilich reden, aber er solle sich ganz der Politik enthalten. Barth, der sich energisch gegen diese Vorwürfe verwahrte, die er als Angriff auf das reformierte Bekenntnis verstand, war dagegen davon überzeugt, mit seinem Engagement nichts anderes zu tun, als eben die Schweiz gegen ihre Selbstaufgabe zu verteidigen und damit die dem Christen im Staat zugewiesene Verantwortung wahrzunehmen. Die aus Berlin zu vernehmenden Verstimmungen über seine Beurteilung Deutschlands konnte er nur als Bestätigung seiner Einschätzungen registrieren. Als Konsequenz seines Plädoyers für eine wehrhafte Verteidigungsbereitschaft meldete er sich im April 1940 zum bewaffneten Hilfsdienst, was konkret bedeutete, dass er nun bis zum Kriegsende immer wieder für ein paar Wochen (insgesamt 104 Tage) als Soldat für militärische Wachdienste zur Verfügung stehen musste. Die gleiche nachdrückliche Ermutigung zu standfester Verteidigung richtete er auch beinahe an alle Kriegsgegner Deutschlands, insbesondere an die Kirchen und ihre Verantwortungsträger. Um nach dem Krieg zu erwartenden Legendenbildungen von vornherein das Wasser abzugraben, sorgte Barth gleich 1945 für eine Veröffentlichung seiner wichtigsten Texte zu dem Konflikt um Deutschland, die er mit einem prägnanten Vorwort versah.121

Diese Dokumentation wird eröffnet mit dem bereits veröffentlichten Vortrag „Rechtfertigung und Recht“, den Barth 1938 an verschiedenen Orten gehalten und in dem er die theologischen Voraussetzungen für seine entschiedenen Positionierungen formuliert hat. Die göttliche Gerechtigkeit und die menschliche Gerechtigkeit haben nicht nur – wie auch die Reformatoren sagten – je ihr eigenes Recht und bestehen daher nebeneinander, sondern – und das ist Neue, was es heute klar ins Auge zu fassen gelte – es besteht auch ein innerer und notwendiger Zusammenhang zwischen beiden, den es zu bedenken und dann auch zu bezeugen gilt.122 Während für die Reformatoren vor allem Joh 18,36 (Mein Reich ist nicht von dieser Welt) der Ausgangspunkt gewesen sei, lenkt Barth die Aufmerksamkeit auf Joh 19,11, wo Jesus Pilatus darauf hinweist, dass er auch nur die Macht über Jesus habe, die ihm ‚von oben‘ gegeben sei (10). Auch im Staat befinden sich daher die Christen im soteriologischen Bereich, d. h. er hat nicht nur als eine aus den wie auch immer zu verstehenden Abgründen der menschlichen Geschichte entstandene Größe in Gott seine dann auch im Auge zu haltende Grenze, sondern in ihm begegnet uns – freilich in indirekter Weise – auch die Herrschaft Christi (20 f). Insofern rückt der Staat in die Perspektive der allein von Gott ausgehenden Rechtfertigung, womit zugleich das prophetische Mandat der Gemeinde gegenüber den jeweiligen realpolitischen Verhältnissen begründet ist (25 f), in dem sie durch ihr Gebet für die Machthabenden und im öffentlichen Engagement den Staat darin begleitet, dass die von ihm geschützte Freiheit und das von ihm geschützte Recht nicht schon in ihm selbst bestehen. Der Staat muss es offenlassen, wie der Mensch jenseits der Freiheit und des Rechts, die durch seine Gewalt geschützt werden, sein Heil erlangt. Er darf nicht zur Kirche werden, die nur zu einer Götzenkirche werden könnte, so wie die Kirche sich nicht auch noch die Rolle des Staates zuzumessen darf, was sie zu einem in jeder Hinsicht unzulänglichen Pfaffenstaat verkehren würde (31). Die hier gebotene Bescheidenheit darf aber keine Trübung der Entschlossenheit bedeuten, mit der die Kirche, welche die Rechtfertigung verkündigt, zugleich für das Recht eintritt, das unter den irdisch-geschichtlichen Bedingungen dieser Verkündigung den nötigen Raum sichert. Barth kann sagen, dass der Staat heimlich davon lebt, dass die Kirche die ihr hier gebotene Verantwortung tatsächlich wahrnimmt (40). Diese Argumentation setzt konsequent die weltanschauliche Neutralität des Staates voraus – er sorgt für die äußeren Lebensbedingungen, ohne die Menschen innerlich an sich zu binden (42). Ebenso wie es absurd wäre, für einen Staat zu beten, welcher der Kirche die Freiheit ihrer Verkündigung bestreitet (38), so wäre ebenfalls unsinnig, sich an Gott mit einer Fürbitte für den Staat zu wenden, ohne sich auch selbst mit den eigenen Möglichkeiten politisch für diesen Staat einzusetzen. Man kann nicht „beten, daß der Staat uns erhalten, und zwar als Rechtsstaat erhalten bleiben oder zum Rechtsstaat wieder werden möge, ohne sich in eigener Person, in eigener Besinnung und mit eigener Tat dafür einzusetzen, daß dies geschehe“ (44). Es ist für Barth ausdrücklich kein Zufall, „daß es gerade im Bereich der christlichen Kirche im Laufe der Zeit gerade zu ‚demokratischen‘, d. h. auf der verantwortlichen Betätigung aller Bürger sich aufbauender Staaten gekommen ist.“ (43) In dem Widerstand gegen die Usurpation des Nationalsozialismus geht es um den in seiner Einleitung erwähnten „politischen Gottesdienst“ (3), zu dem die Kirchen in Wahrnehmung und zur Verteidigung der sie konstituierenden und zu bezeugenden Freiheit aufgerufen sind.

Dieses Kapitel kann nicht abgeschlossen werden, ohne noch ausdrücklich auf ein Thema hinzuweisen, das Barth in seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stets mit im Blick gehabt hat, auch wenn er es in seinem öffentlichen Auftreten nur selten besonders exponiert hat.123 Nach den Pogromen gegen die Juden und ihre Synagogen im November 1938 war endgültig der Zeitpunkt gekommen, von dem an definitiv nicht weiter mit geheimer Diplomatie und persönlichem Engagement auszukommen war. Vor dem „Schweizerischen Evangelischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland“ hielt Barth am 5. Dezember 1938 in Wipkingen einen Vortrag mit dem Thema „Die Kirche und die politische Frage von heute“, in dem er die Kirche dazu aufruft, sich als Zeugin Jesu Christi entschiedener und eindeutiger zu positionieren, weil inzwischen der Charakter und die Ambitionen des Nationalsozialismus unmissverständlich vor Augen stünden, die es verböten, sich auf eine neutrale Position zurückzuziehen.

Es hat heute keinen Sinn mehr, sich die Augen davor zu verschließen und zu leugnen: daß der Sinn und Charakter des Nationalsozialismus schon als politisches Experiment die totale, die prinzipielle, die den Menschen und die Menschen in schlechthinniger Ganzheit nach Leib und Seele nicht nur umfassende und bestimmende, sondern in ihrer Humanität aufhebende, die menschliche Freiheit nicht nur begrenzende und ordnende, sondern vernichtende Diktatur ist […]: diese Staatsform, die totale, die prinzipielle Diktatur, stellt uns vor die Gottesfrage und also vor die Glaubensfrage.124

Dann kommt Barth auf den prinzipiellen Antisemitismus als den eigentlich biblisch-theologisch durchschlagenden Grund für die Wahrnehmung des Nationalsozialismus als „grundsätzlich antichristliche Gegenkirche“ (90, 93) zu sprechen:

Wenn das geschieht, was in dieser Sache in Deutschland jetzt offenkundig beschlossen und schon ins Werk gesetzt ist: die „physische Ausrottung“ gerade des Volkes Israel, der Verbrennung gerade der Synagogen und Thorarollen, die Perhorreszierung gerade des „Judengottes“ und der „Judenbibel“ als Inbegriff alles dessen, was dem deutschen Menschen ein Greuel sein soll – dann ist damit, allein schon damit darüber entschieden: da wird die christliche Kirche in ihrer Wurzel angegriffen und abzutöten versucht. […] Was wären, was sind wir denn ohne Israel? Wer den Juden verwirft und verfolgt, der verwirft und verfolgt doch den, der für die Sünden der Juden und dann und damit erst auch für unsere Sünden gestorben ist. Wer ein prinzipieller Judenfeind ist, der gibt sich als solcher, und wenn er im übrigen ein Engel des Lichtes wäre, als prinzipieller Feind Jesu Christi zu erkennen. Antisemitismus ist Sünde gegen den Heiligen Geist. Denn Antisemitismus heißt Verwerfung der Gnade Gottes. Der Nationalsozialismus aber lebt und webt eben im Antisemitismus. […] Was für Zeichen müssen eigentlich noch geschehen, wenn gerade dieses Zeichen der Kirche nicht sagt, daß sie mit dem Nationalsozialismus positiv nichts, gar nichts zu tun haben, daß sie erwachen und ihm auf der ganzen Linie ein entschlossenes Nein entgegenzustellen hat? (90)

Barth sieht die Kirche hier in den status confessionis, in die Entscheidung zwischen Kirche und Gegenkirche versetzt, die als solche unausweichlich auch eine politische Entscheidung ist: „Was ist denn eine Glaubensentscheidung, wenn sie nie, wenn sie gerade heute, gerade in dieser Sache nicht eine politische, diese politische Entscheidung wird.“ (93 f) Es geht nicht um eine politische Einschätzung, sondern um ein klares Bekenntnis, das sich als solches nicht mit der Rezitation von Glaubenseinsichten zufriedengeben kann, sondern sich erst in der konkreten politischen Positionierung bewährt. Im Dezember 1941 kam es auf der vierten Wipkinger Tagung beinahe zum Bruch, weil Emil Brunner mit der Mehrheit der Versammlung die präsentische Relevanz des Satzes Joh 4, 22 „das Heil kommt von den Juden“ in Abrede stellte und damit in Harmonie mit der verbreiteten antisemitischen Stimmung die von Barth als konstitutiv erkannte theologische Bedeutung Israels für die Kirche bestritt.125 Damit wird eine fundamentale Dimension der Theologie Barths angesprochen, von der er später bedauert hat, sie nicht auch schon in Barmen und all den späteren Auseinandersetzungen deutlicher angesprochen zu haben:

 

Ich empfinde es längst als eine Schuld meinerseits, daß ich sie [sc. die Judenfrage] im Kirchenkampf jedenfalls öffentlich (z. B. in den beiden von mir verfaßten Barmer Erklärungen von 1934) nicht ebenfalls als entscheidend geltend gemacht habe. Ein Text, in dem ich das getan hätte, wäre freilich 1934 bei der damaligen Geistesverfassung auch der „Bekenner“ weder in der reformierten noch in der allgemeinen Synode akzeptabel geworden. Aber das entschuldigt nicht, daß ich damals […] in dieser Sache nicht wenigstens in aller Form gekämpft habe.126

Algner, Kirchliche Dogmatik im Vollzug.

6.Die Ökumene

Der Hromádkabrief ist nicht zuletzt auch ein Beispiel dafür, dass Barth sich aufgrund seiner Isolation von Deutschland mehr und mehr an die Christen der Deutschland umgebenden Länder, aber auch an die der übrigen Welt wandte. Unmittelbar nach seinem Umzug von Bonn nach Basel intensivierte sich seine Zuwendung zur Ökumene und – wenn auch eher zögerlich – zu den Bemühungen insbesondere in Genf, ihr nun auch in einem Weltkirchenrat einen institutionellen Rahmen für die Bündelung und die Organisation der ökumenischen Aktivitäten zu geben. Noch im Juli 1935 hielt er in Genf auf Einladung von Adolf Keller, seinem ehemaligen Genfer Vikariatsleiter, im Namen des ‚Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum‘ vier Vorlesungen zum Thema „Die Kirche und die Kirchen“, verbunden mit Seminarveranstaltungen zu Calvins Katechismus. Barth plädiert für eine aus dem Bekenntnis des Glaubens perspektivierte Einheit der Kirchen und stellt sich damit gegen die in Genf favorisierte Option, die unterschiedlichen ekklesiologischen Profile miteinander ins Gespräch zu bringen. Es kann von vornherein „nicht um das moralisch-soziologische Ideal der Einheitlichkeit, Einmütigkeit und Eintracht“ gehen, sondern allein „um den zwingenden Inhalt der Erkenntnis, daß der Herr, der Glaube, die Taufe, Gott Eines, ein Einziges sind über Allen, für Alle, in Allen (Eph.4,5).“127 Einheit könne als solche nicht gemacht, „sondern nur im Gehorsam gegen die in Christus schon vollzogene Einheit gefunden und anerkannt werden“ (225).

Barth verwies auch in den kommenden Jahren immer wieder auf die Barmer Theologische Erklärung als ein ökumenisches Ereignis, als ein die Kirchen verbindendes öffentliches Tatzeugnis, in dem nicht erst die unterschiedlichen Bekenntnistraditionen abgestimmt wurden, sondern von den unterschiedlichen Bekenntnissen aus „nach der von Christus gebotenen praktischen Entscheidung gefragt“ (230) wurde in einer Situation, in der sich die Kirche als Kirche zu bewähren hatte, wenn sie sich nicht weltanschaulich untermischen lassen wollte.

Ökumene ist in den Augen Barths in erster Linie eine Frage der Verbindlichkeit des Lebens der Kirche und nur in zweiter Linie eine Angelegenheit zu formulierender Übereinstimmungen und Lehren. Allerdings ging es für Barth nicht wie Nathan Söderblom128 um eine praktisch-diakonische Betätigung der Kirche, durch die sich Erfahrungen ergeben würden, die dann auch die Kirchen näher zusammenrücken ließen, wodurch sich ihre dogmatischen Differenzen gleichsam von selbst relativieren würden. Barth setzte dagegen auf den lebendigen Wesenserweis der Kirche, in dem die Kirche sich nicht um ihre konfessionelle Selbstdefinition sorge, sondern sich als Kirche in einer konfessorischen Existenz tatsächlich lebendig erweise. Anstatt sich sorgenvoll um ihre Selbstbeschreibung zu kümmern, solle sie lieber schlicht und ohne besondere eigene Ambitionen einfach Kirche sein, d. h. lebendig und pünktlich unter den jeweils gegebenen Umständen tätig für den sie tragenden Glauben einstehen. Der dabei mitschwingende kritische Akzent hatte die in den Kirchen gern gepflegte Neigung vor Augen, sich vor allem mit sich selbst zu beschäftigen und vor allem die eigene Konfession gegen die anderen zu verteidigen.

Barths Skepsis galt aber nicht vor allem der Bewegung für „Praktisches Christentum“, an deren Stockholmer Weltkirchenkonferenz von 1925 Adolf Keller maßgeblich beteiligt war, sondern ebenso der 1927 in Lausanne weltweit angestoßenen Bewegung „Glauben und Kirchenverfassung“ – „Faith and Order“ – und ihrer vorrangigen Fokussierung auf die Ekklesiologie. Nach seinem Eindruck werde hier die Frage nach der Identität der Kirche vor die von ihnen heute wahrzunehmende konkrete Verantwortung geschoben und damit wirksam dafür gesorgt, gegenseitig vorläufig erst einmal auf Abstand zu bleiben. Beiden Richtungen gegenüber berief er sich auf das „Wunder“ von Barmen, weil es dort gelungen war, in der konkreten Situation und jenseits der unterschiedlichen konfessionellen Bindungen in der Abweisung der die Kirche bedrohenden Irrlehren die eine christliche Kirche wahrnehmbar zu machen. Insofern galt Barmen für Barth zeitlebens – ich folge hier der These von Thomas Herwig – als Paradigma für sein Verständnis von Ökumene, um dessen Wahrnehmung, Zustimmung und Rezeption er sich in seinem ökumenischen Engagement vorrangig verwandt hat.129 Dem rein äußerlichen Zusammenrücken der Kirchen allein vermochte Barth noch nichts abzugewinnen, weshalb er der von Keller hervorgehobenen Nähe zwischen dem Streben nach kirchlicher Einheit und dem Anliegen der dialektischen Theologie,130 mit der dieser Barth für die Ökumene zu gewinnen versuchte, skeptisch gegenüberstand. Diesem mehr quantitativen Aspekt stellte er betont die qualitative Perspektive gegenüber, die auf das zeichenhafte und dann eben repräsentative Ereignis ausgerichtet ist, in dem sich die Wahrheit der christlichen Kirche in ihrer konkreten Bedrängnis die ihr angemessene universale Geltung verschafft. In diesem Sinne wehrte er sich gegen eine hinter der partikularkirchlichen Wirklichkeit stehende abstrakte Universalität, um die Universalität gerade in der lokalen Wirklichkeit der Kirche zu erkennen und zum Leuchten zu bringen. Genau dafür steht auch das Barmer Bekenntnis, und zwar ganz unabhängig davon, ob ihm seine Protagonisten später treu geblieben sind oder nicht.

Bereits im August 1934 hob Barth auf einer internationalen ökumenischen Konferenz für Studierende in La Châtaigneraie in seinem Vortrag „Der Christ als Zeuge“ gewissermaßen die Unzuständigkeit der Kirche für ihre Einheit hervor, um gleichzeitig den Zeugendienst der Christen auf die Assistenz am Selbstzeugnis Gottes zu bescheiden:

Die Kirche steht nicht in der Welt mit einer Botschaft von gewissen Ideen und Weisungen über den Zustand der Welt, sondern wir stehen in der Welt im Grunde nur mit einem Buch in der Hand und haben keine andere Möglichkeit, Zeugnis abzulegen, als die, dieses Buch zu erklären. […] Ein Zeuge im Sinne der Heiligen Schrift ist nur ein Ausleger, ein Erklärer, ein Hermeneut, ein Mann, der dahin zeigt, wo die Propheten und Apostel gesprochen haben.131

Es könne grundsätzlich nicht um die Selbstpräsentation der Kirche gehen, sondern immer nur um den Dienst der Kirche an der Selbstpräsentation Gottes in seinem auch heute ergehenden lebendigen Wort. In der damit ins Bewusstsein gehobenen Alternative findet sich bereits die Alternative der beiden für die Ökumene ins Auge zu fassenden Möglichkeiten. Für Barth kann nur der Weg der Einordnung der Kirche in die Assistentinnenrolle der Zeugin in Frage kommen, auf dem die Kirche sich nicht anmaßt, eine nicht bestehende Einheit herstellen zu wollen. Ihre Perspektive kann vielmehr nur darin bestehen, sich in die bestehende Einheit einzufügen. Barths Versuch, seinem Publikum den engen Zusammenhang von Kirchenkampf und Ökumene vor Augen zu stellen, stieß aber weithin auf Unverständnis und Widerwillen. Barth gewann den enttäuschenden Eindruck, einem Publikum gegenübergestanden zu haben, das sich in seiner gutwilligen Berufung auf die Erfahrung auf der teils neuprotestantischen und teils pietistischen Linie bewegte, auf die sich auch die Gegner der BK in Deutschland beriefen. Er sah sich in seiner Skepsis bekräftigt und begegnete den Versuchen, ihn in Genf mehr oder ganz in die ökumenische Arbeit einzubeziehen, mit deutlicher Zurückhaltung, so dass er schließlich 1935 von Bonn nach Basel gezogen und nicht den mehrfach ausgesendeten Einladungen nach Genf gefolgt ist.