Religion und Religionskritik

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§ 2 Die Kritik der Religion

Man könnte sagen, dass eine Überschrift, die zunächst erst einmal erläutert werden muss, eine schlechte Überschrift ist. In diesem Fall ist die Formulierung bewusst auf ihre Erläuterungsbedürftigkeit hin angelegt.

Die Überschrift zu diesem Kapitel enthält einen Genitiv und somit eine durchaus missverständliche Formulierung – wer kritisiert da was? Sie soll unterstreichen, dass da, wo der neuzeitliche Religionsbegriff zur Zeit seiner Einführung in Anwendung kam, also in einem verallgemeinernden Sinne von Religion gesprochen wurde, immer auch eine Dimension der Kritik ins Spiel gebracht wird. Es handelt sich also bei dem Genitiv der Überschrift zunächst um einen genitivus subjectivus, d. h. die Religion ist das Subjekt und somit der Ausgangspunkt der zur Debatte stehenden Kritik. Ihrem Ursprung nach tritt mit der Religion ein gegen den sich selbst verabsolutierenden Dogmatismus der sich gegenseitig ihr Existenzrecht absprechenden Konfessionen kritischer Anspruch auf den Plan. Wir befinden uns im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der Konfessionskriege. Die Einführung des allgemeinen Religionsbegriffs als eine den im Konflikt stehenden Konfessionen übergeordnete Ebene ist verbunden mit der Erwartung, von dieser übergeordneten Ebene aus auf die Konfessionen einen zähmenden Einfluss nehmen zu können, indem sie Minimalbedingungen benennt für das, was in einem Gemeinwesen als Religion anerkannt werden kann. Mit der von den Philosophen und Staatsphilosophen protegierten Religion ist ein eigenes kritisches Potenzial verbunden, das sie in die Lage versetzt, die Konfessionen mit eigenen Kriterien zu konfrontieren, ohne deren Erfüllung sie nicht mit öffentlicher Akzeptanz rechnen können. Etwa ein Jahrhundert später wird dann dieser Genitiv im Zusammenhang mit der Religionskritik (→ § 4) zu einem genitivus objectivus, d.h. die Religion wird dann zum Gegenstand der artikulierten Kritik, sie wird zum Objekt einer sie angreifenden Argumentation.

Nun hätte sich leicht eine auf den ersten Blick so missverständliche Formulierung als Überschrift vermeiden lassen. Allerdings wäre sie dann in jedem Falle kraftloser geworden. Mit ihr wird gleich zu Beginn annonciert, dass es da, wo im neuzeitlichen Sinne die Religion auftritt, in jedem Fall in besonderer Weise kritisch zugeht, eben bereits da, wo die Religion als neu geprägter Begriff überhaupt erst eingeführt wird. Die Kritik, die sich dann später auch gegen sie selbst erhebt, hat durchaus einen vergleichbaren Charakter mit derjenigen, die zunächst von ihr ausgeht. Eben dieser aufs Ganze gesehen enge Zusammenhang wird von dem ambivalenten Genitiv der Überschrift gleich zu Anfang angedeutet, auch wenn es in diesem Kapitel zunächst nur um das kritische Potenzial geht, das vom Religionsverständnis selbst ausgeht.

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1. Die Aufklärung

Epochenabgrenzungen sind deshalb so schwierig, weil die Bestimmung der jeweils ins Auge zu fassenden Charakteristika umstritten ist. Wenn hier die Aufklärung als der entscheidende Entdeckungshorizont für den neuzeitlichen Religionsbegriff annonciert wird, wird diese im weitesten Sinne als die Transformationsphase zur Neuzeit angesehen. Als solche ist die Aufklärung einerseits davon geprägt, den Menschen konsequent aus den Bindungen apodiktisch gesetzter und somit unbefragbarer Autoritäten zu befreien, und andererseits von einem entschlossenen Gestaltungswillen sowohl des individuellen als auch des sozialen Lebens. Die entstehenden Nationalstaaten beanspruchen uneingeschränkte innen- und außenpolitische Selbstbestimmung und verstehen sich als souveräne Akteure der vom Menschen hervorzubringenden Geschichte. Für die Gestaltung des Gemeinwesens rückten die vor allem im Bürgertum aufblühenden wirtschaftlichen Interessen des Frühkapitalismus vor die Dringlichkeit, die konfessionellen Wirrnisse und Feindseligkeiten zu klären. Es waren nicht zuletzt die wirtschaftlichen Erfolge, deren Gefährdung durch Religionsstreitigkeiten, wie sie in besonders drastischer Weise in den Verheerungen der Konfessionskriege vor Augen standen, nicht mehr hingenommen wurde. Insgesamt verschwand die Bereitschaft, den Kirchen irgendeine Entscheidungsmacht in Fragen, die mit der inneren und der äußeren Sicherheit zu tun haben, zuzugestehen. Entschlossen trat die Politik und mit ihr die bürgerliche Gesellschaft – unterstützt durch die zu eigenem Selbstbewusstsein gegenüber der Theologie erstarkte Philosophie – mit einem deutlich artikulierten Souveränitätsanspruch aus dem Schatten der kirchlichen Bevormundung.

Im Zusammenhang mit der Aufklärung kommt der Bestimmung des neuzeitlichen Religionsbegriffs eine besondere Rolle zu. Indem im Blick auf seinen Wahrheitsanspruch dem Bekenntnis des Glaubens konsequent jede verallgemeinerungsfähige Öffentlichkeitsrelevanz bestritten wurde, verliert es seine integrative Bedeutung für das Zusammenleben der Gesellschaft. Die verschiedenen Glaubensbekenntnisse, die nun unter dem Begriff der Religion in gewisser Weise neutralisiert wurden, werden dem aufgewerteten privaten Bereich zugewiesen, wo nach eigenem Gutdünken über die Wahrheitsfrage entschieden werden mag. Religion wird nicht weiterhin unter dem Blickpunkt ihrer angemessenen inhaltlichen und kultischen Gestaltung thematisiert, sondern sie wird zu einem formalen Begriff, unter dem sich sehr unterschiedliche inhaltliche Konkretionen vorstellen lassen. Vom Begriff der Religion als solchem geht keine Klärungsambition hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit mehr aus. Ihre Angemessenheit wird allein am Maßstab ihrer Sozialverträglichkeit bemessen.

Diese Wahrheitsabstinenz des allgemeinen Religionsverständnisses bedeutet aber keineswegs, dass es sich bei der Religion um einen harmlosen und gleichsam reibungslosen Begriff handelt. Vielmehr ist der neuzeitliche Religionsbegriff – wie bereits angedeutet – gerade im Blick auf die Motivation seiner Einführung ein zutiefst kritischer Begriff, indem er sich gegen alle Absolutheitsansprüche stellt, wie sie in |26◄ ►27| den konfessionellen Antagonismen aufeinander prallten. In der Neutralität der Wahrheitsfrage gegenüber verbirgt sich eine grundsätzliche Relativierung aller dogmatischen Exklusivismen, die den jeweiligen Bekenntnissen ihr besonderes Profil geben. Man geht nicht zu weit, wenn in der Neutralität eine Art neues Dogma gesehen wird, das mit dem Anspruch auftritt, an die Stelle der Letztinstanzlichkeit der kirchlich verantworteten Dogmatik zu treten. Die Intentionalität des allgemeinen Religionsbegriffs kann nur recht erfasst werden, wenn auch die von ihm ausgehende dezidierte Kritik in den Blick genommen wird.

Es mag überraschen, wenn dieses Kapitel den deutschen Idealismus im Rahmen der Aufklärung thematisiert. Gewiss kann gesagt werden, dass der kritische Anspruch der Aufklärung bei Kant zu seinem Höhepunkt und Abschluss gekommen sei und dass der Idealismus weniger von einer aufklärerischen Kritik als vielmehr von einer über sie hinausgehenden systematisierten Positionalität geprägt sei. Ging es bei Kant um die kritische Frage nach den Kriterien, so präsentiert der Idealismus nun einen eigenen Standpunkt. Das ist die entscheidende Veränderung. Auf der anderen Seite wusste sich der Idealismus insofern an dem Projekt der Aufklärung beteiligt, als er sich gedrängt sah, der durch die Aufklärung etablierten Kritik einen die menschliche Vernunft übergreifenden und diese einschließenden geistphilosophischen Rahmen zu geben. Zwar geht der Idealismus auch entschlossen über Wesenszüge der Aufklärung hinaus, die auf eine Dynamisierung und Historisierung verfestigter Gesamtbilder ausgerichtet waren, aber er ist gerade in seinem Systematisierungsinteresse doch ganz und gar davon bestimmt, die Errungenschaften der Aufklärung so zu sichern, dass es auf solidem Weg grundsätzlich nicht mehr möglich sein sollte, diese infrage zu stellen. Es wäre nicht das erste Beispiel, wo aus dem verständlichen Sicherungsinteresse dann plötzlich ein architektonisch durchgestyltes Gebäude entsteht, in dem nur noch mit Mühe erkennbar bleibt, was es durch seine Errichtung zu sichern galt (als Beispiel kann etwa die ausdifferenzierte Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie gelten, die davon bewegt war, das Erbe der Reformation zu ‚sichern‘). Bei Kant zeigen sich ja längst auch dezidierte Systematisierungslinien der Aufklärung, denen dann im Idealismus noch eine grundsätzlich erweiterte Fundierung gegeben wurde. Philosophiegeschichtlich gesehen gibt es zudem mehr Gründe, im Idealismus den Abschluss einer Entwicklung zu sehen als den Anfang einer neuen Epoche, die dann wohl auf ihn selbst beschränkt werden müsste. Das entspricht auch seinem Selbstbewusstsein. Die Alternative zur Thematisierung in diesem Kapitel könnte daher nur ein eigenes Kapitel sein, was dann aber unweigerlich zu einer Überbewertung des Idealismus führen würde, wie sie allerdings immer wieder gern – insbesondere in apologetisch ausgerichteten Kreisen der Theologie – vorgenommen wird.

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2. Thomas Hobbes

Thomas Hobbes (1588 – 1679) gilt als einer der Begründer des Rationalismus, der sich auf die Natur und die menschliche Vernunft beruft. Der Öffentlichkeitsanspruch der Religion wird von Hobbes konsequent der Staatsraison unterstellt.

Der erste große Vertreter der neuzeitlichen Staatsphilosophie war Thomas Hobbes. Er stellte die ordnungspolitische Bedeutung des Staates heraus, um die erodierende Situation zu befrieden und verlässliche Verhältnisse für ein gedeihliches Zusammenleben zu sichern. Die erbittertsten Konflikte registrierte Hobbes unter den rivalisierenden christlichen Konfessionen, aber er hatte keineswegs nur diese im Blick. Vielmehr verweist Hobbes auf das zänkische Verhalten des auf Selbstdurchsetzung bedachten Menschen, das er mit der bekannten Wendung des Plinius charakterisiert: „Der Mensch ist des Menschen Wolf “. Individuelle Selbsterhaltung und das Streben nach Lustgewinn verstricken die Menschen in andauernde Rivalisierungen. Dieser als Naturzustand des Menschen verstandene Umstand beschreibt in aller Klarheit den vom Leistungsprinzip geprägten Konkurrenzindividualismus des neuzeitlichen Bürgertums. Der Hintergrund dafür, dass diese Situation als natürlich ausgegeben wird, ist in der sich durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftsform zu suchen. Hobbes bringt das Lebensprinzip der vom Kapitalismus geprägten Wirklichkeit pointiert auf den Punkt: „Die Glückseligkeit daher, die wir als ein dauerndes Lustgefühl verstehen, besteht nicht darin, daß man Erfolg gehabt hat, sondern daß man Erfolg hat.“38

 

Dem Staat fällt die Aufgabe zu, die Individualinteressen mit dem Gemeinwohl so auszubalancieren, dass die Konkurrenzwirklichkeit in friedlichen Bahnen verläuft und das Eigentum des Einzelnen geschützt wird. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, wird der Staat mit besonderer Macht ausgestattet. Der staatliche Souveränitätsanspruch schließt auch die Bestimmungshoheit hinsichtlich der Religion ein, zumindest was ihre öffentliche Gestaltung anbelangt. Die als besonders friedensgefährdend angesehenen Religionen (gemeint sind hier zunächst vor allem die verschiedenen christlichen Konfessionen) werden hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs ganz und gar in die Privatheit verwiesen, während die Religion als gesellschaftsintegrative Kraft konsequent unter die Regie des Staates gestellt wird. Da es weniger auf den Charakter der Religion als vielmehr ihren Vollzug ankommt, konzentriert Hobbes seine Aufmerksamkeit auf den Kult:

Der Kult ist nun entweder privat oder öffentlich. Privat ist der Kult, den die einzelnen Menschen nach eigenem Gutdünken ausüben; öffentlich der, den sie auf Geheiß des Staates ausüben. Der private wiederum wird entweder von einem einzelnen im geheimen ausgeübt oder von mehreren gemeinsam. Jener ist ein Zeichen aufrichtiger Frömmigkeit; denn wozu dient Heuchelei dem, den niemand sieht als nur der Eine, der auch die Heuchelei durchschaut? Der |28◄ ►29| gemeinschaftliche Kult dagegen kann erheuchelt sein und auf eigennützigen Nebenabsichten beruhen. Beim geheimen Kulte gibt es keine Zeremonien. Zeremonien nenne ich diejenigen Zeichen der Frömmigkeit von Handlungen, die nicht aus der Natur der Handlungen entspringen, sondern vom Staat willkürlich vorgeschrieben sind....

Öffentlicher Kult kann nicht ohne Zeremonien sein; denn öffentlicher Kult ist der, welcher auf Befehl des Staates als Zeichen der Verehrung, die man Gott entgegenbringt, von allen Bürgern, und zwar an bestimmten Stellen und zu bestimmten Zeiten, ausgeübt wird. Das Recht zu entscheiden, was geziemend ist, was nicht, steht beim öffentlichen Gottesdienst nur dem Staate zu. Zeremonien als Zeichen der Frömmigkeit von Handlungen fließen nicht nur, wie beim rein vernünftigen Kult, aus der Natur der Handlung selber, sondern können auch vom Staate willkürlich festgesetzt werden. Daher vieles sich im Gottesdienst bei einem Volke finden muß, was bei einem anderen nicht ist, so daß bisweilen der Kult der einen von den anderen verlacht wird. Einen von Gott unmittelbar angeordneten Kult hat es niemals gegeben außer bei den Juden, da er selbst ihr König war. Bei den anderen Völkern waren die Zeremonien zwar bei einigen vernünftiger als bei anderen, bei allen indessen gebot die Vernunft, die durch das staatliche Gesetz angeordneten Zeremonien auszuüben.39

In der Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion kommen die Kirchen auf der Seite der privaten Religion zu stehen. Die dogmatischen Fragen und mit ihnen eben auch alle konfessionellen Konflikte werden zu einer Privatangelegenheit erklärt. Diese Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion hat sich bis hinein ins 19. Jahrhundert ausgewirkt und ihre Nebenwirkungen lassen sich bis heute ausmachen.

Die Religion, soweit sie von allgemeiner Relevanz ist, wird konsequent der Staatsraison unterworfen. Sie ist allein im Blick auf ihre praktischen Auswirkungen zugunsten des öffentlichen Lebens von Interesse. Der allein für den Frieden zuständige Souverän bestimmt die Art und Weise der öffentlichen Gottesverehrung. Die Kirchen haben sich uneingeschränkt den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen, da sich in ihren Grundlagen keine besondere Belehrung über die öffentlichen Angelegenheiten finden:

Ferner hat unser Erlöser den Bürgern keine andern Gesetze in betreff der Staatsregierung gegeben, als die natürlichen Gesetze, d. h. das Gebot zum bürgerlichen Gehorsam. Deshalb darf kein Bürger für sich bestimmen, wer dem Staate als Freund oder Feind gelten soll, wann ein Krieg begonnen, wann ein Bündnis, wann Friede oder Waffenstillstand geschlossen werden soll; auch hat kein Bürger darüber zu entscheiden, welche Bürger, welche und welcher Menschen Machtbefugnisse, welche Lehren, welche Sitten, welche Reden, welche und welcher Menschen Verbindungen das Wohl des Staates fördern oder gefährden. Also gebührt die Entscheidung über alles dies und ähnliches, soweit es nötig ist, dem Staate, d. h. dem höchsten Herrscher.40

Der Text macht die Konsequenz deutlich, mit der Hobbes die Kirchen auf die Pflege der privaten Frömmigkeit beschränkt und ihnen jeden Öffentlichkeitsanspruch entzieht .|29◄ ►30| Das, was für die Kirchen gilt, ist auch Gesetz für die anderen im Staate existierenden Religionen, die im christlichen Staat auch am christlichen Gottesdienst teilnehmen müssen. Die Radikalität, in der Hobbes die Souveränität des Staates sichert, zeigt sich darin, dass er mit der Machtzuschreibung an den Staat bis an die Grenze zur Euthanasie vorstößt, indem er ihm das Recht zumisst, darüber zu entscheiden, was ein Mensch oder eben keiner ist und daher auch getötet werden dürfe:

Hat z. B. eine Frau ein Kind von ungewöhnlicher Gestalt geboren und verbietet das Gesetz die Tötung eines Menschen, so entsteht die Frage, ob dieses Kind ein Mensch sei, und es erhebt sich also die weitere Frage, was ein Mensch sei. Hier wird niemand zweifeln, daß die Entscheidung dem Staate zusteht, ohne daß man auf die Definition des Aristoteles, wonach der Mensch ein vernünftiges Geschöpf ist, Rücksicht nehmen kann. Von allen diesen Gegenständen, nämlich Recht, Politik und Naturwissenschaften, hat Christus erklärt, daß es nicht zu seinem Amt gehöre, darüber Vorschriften und Lehrsätze aufzustellen, bis auf den einen, daß die einzelnen Bürger bei allen Streitigkeiten hierüber den Gesetzen und Urteilssprüchen ihres Staates zu gehorchen hätten. (287)

Der despektierliche Umgang mit den Kirchen hat seine Ursachen nicht nur in ihrer flagranten Zerstrittenheit, sondern im Hintergrund steht auch eine rationalistische Ableitung der Religion aus der charakteristischen Eigenschaft des Menschen, über sich selbst hinaus zu fragen. Dort, wo keine Antworten mehr erreichbar sind, gibt schließlich die Phantasie die benötigten Antworten. Wo diese Antworten dann gemeinschaftsbildend werden, ist der Mutterboden für die Religionen zu suchen. Es sind drei Dimensionen des menschlichen Fragens, die in den Religionen auf unterschiedliche Weise entsprechende Antworten bereitstellen:

Erstens ist es eine Eigenart der Natur des Menschen, den Ursachen der Ereignisse, die er sieht, nachzugehen, der eine mehr, der andere weniger. Aber alle Menschen besitzen sie so sehr, daß sie die Ursachen ihres eigenen Glücks oder Unglücks gerne wissen möchten.

Zweitens. Sehen die Menschen ein Ding, das einen Anfang hat, so nehmen sie auch an, daß es eine Ursache hatte, die es dazu bestimmte, gerade zu diesem Zeitpunkt seinen Anfang zu nehmen und nicht früher oder später.

Drittens. Während die Tiere kein anderes Glücksgefühl als den Genuß des täglichen Futters, von Ruhe und von Lust kennen, ... beobachten die Menschen, wie ein Ereignis von einem anderen hervorgebracht wurde und erinnern sich dabei an das, was vorausgegangen war und was darauf folgte. Und kann er sich über die wahren Ursachen der Dinge keine Klarheit verschaffen (denn die Ursachen von Glück und Unglück sind meistens unsichtbar), so nimmt er Ursachen an, die entweder seiner eigenen Phantasie entstammen, oder er vertraut der Autorität anderer Menschen, die er für seine Freunde und für klüger als sich selbst hält.41

Während Hobbes ‚Gott‘ als die Bezeichnung einer ersten und ewigen Ursache alle Dinge ansieht, erkennt er in den Göttern eine menschliche Umgangsweise mit der ihn beschleichenden Furcht vor der Ungewissheit der Zukunft, sodass konsequent betrachtet „ebensoviel Götter erdichtet werden als es Menschen gibt, die sie erdichten. “ (83)

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Gleich zu Beginn der Aufklärung schlägt Hobbes einen kräftigen Grundakkord an. Die Religion wird einerseits hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts dem privaten Glauben zugewiesen, der seinem Wesen nach die Grenzen der Rationalität zur eigenen Selbstvergewisserung überschreitet. Zugleich wird der moralische Nutzen der Religion in die souveräne Obhut des Staates gestellt, in der er im Rahmen der ihm zur Friedenssicherung zugewiesenen Machtbefugnisse frei über sie verfügen kann.


W. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, Hamburg 1992 H. Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt/M. 2001

3. Baruch de Spinoza

Der niederländische Philosoph Baruch (Benedictus) de Spinoza (1632 – 1677) wurde bereits vor seiner öffentlichen Wirksamkeit mit dem Vorwurf freigeistiger Irrlehre aus der Synagoge in Amsterdam ausgeschlossen. Später wurde ihm Pantheismus oder gar Atheismus vorgeworfen. Erst Ende des 18.Jh.s kommt es zu einer gelasseneren Rezeption.

Die Linie der zunächst vernünftigen (→ Herbert von Cherbury; § 1,13) und dann politischen (→ Hobbes; § 2,2) Zähmung der Religion wird von Baruch de Spinoza aufgenommen und fortgeführt. Auch für Spinoza ist der Staat eine vernünftige Einrichtung zum Schutze der Bürger, die um dieses Schutzes willen ihre eigenen Interessen zumindest in bestimmten Bereichen dem Staat unterordnen. Über die Verantwortung für den äußeren und inneren Frieden hinaus hat der Staat die Gedankenfreiheit seiner Bürger zu schützen. Diese Forderung macht Spinoza in einer religiös immer noch unduldsamen Zeit zu einem Vorkämpfer der Toleranz, die sich allerdings mehr auf den freien Gebrauch der Vernunft als die Verteidigung der miteinander konkurrierenden Traditionen bezieht.

Um dem modernen Staatsbürger ein aufgeklärtes Verhältnis zur Religion zu ermöglichen, will Spinoza die traditionelle Theologie durch eine Religionsphilosophie bzw. eine Gottesphilosophie beerben. Der Weg des Glaubens führt zwangsläufig in Aberglauben und Götzendienst und somit in Unfrieden und Unfreiheit, solange er sich vor der Kritik der Vernunft immunisiert. Gott und Wahrheit sind identisch, sodass sich im wahren Denken Gott selbst artikuliert. Vermittels des Denkens kann der Mensch geradezu die grenzenlose Vollkommenheit Gottes repräsentieren. Dabei wird Gott mit dem Akt identifiziert, der im wahren Denken von Vollkommenheit und Unendlichkeit vollzogen wird. Jede Verknüpfung mit einer bestimmten Gestalt soll auf diese Weise ausgeschlossen werden, weil diese immer nur mit endlichen und somit ungöttlichen Vorstellungen vorgenommen werden könnte. Zugleich bedeutet diese Bestimmung auch eine Loslösung von den biblischen Zeugnissen und allen überkommenen Lehrtraditionen. Die Bibel muss zum Gegenstand historischer Kritik werden, um den in ihr enthaltenen Geist Gottes, wie er sich besonders bei den Propheten findet, herauszustellen. Die Schrift wendet sich in ihrer moralisch-praktischen|31◄ ►32| Bedeutung gleichsam an die ungebildeten Massen, indem sie „sich nach der Fassungskraft und den Anschauungen derer richtet, denen die Propheten und Apostel zu predigen pflegten, und zwar aus dem Grunde, damit es die Menschen ohne Widerstreben und mit ganzem Herzen annehmen möchten“.42

Spinoza verfolgt in seiner Philosophie die Vorstellung, dass es essenziell nur eine Substanz geben kann, die als Grund und Ursache für die ganze Wirklichkeit anzusehen ist. Ein streng verstandener Monotheismus wird mit dem cartesianischen Rationalismus verbunden, sodass schließlich Gott identisch wird mit dem in sich geschlossenen Kausalsystem der sich selbst erschaffenden und durch sich selbst geschaffenen Natur. Sowohl der Vorwurf des Pantheismus als auch der des Materialismus berufen sich auf diese Zuspitzung, treffen aber nicht das eigentliche Zentrum seines Anliegens. Alle Begriffe, die sich der Mensch von der Wirklichkeit in Ansehung ihrer Endlichkeit macht, kommen nicht über vage Vorstellungen hinaus, die als solche auch ständig zu revidieren sind.

 

Das gilt in besonderer Weise im Blick auf die menschlichen Gottesvorstellungen. Jeder Mensch passt Gott seinem jeweiligen Vorstellungsvermögen an. Die Bibel ist ebenfalls nur der Ausdruck des Vorstellungsvermögens einer weit zurückliegenden Zeit, der als solcher nur historische Bedeutung haben und für den gegenwärtigen Menschen keineswegs als verbindlich angesehen werden kann. Aktuell bleibt allein das zugrunde liegende Anliegen, für eine humane Gestaltung des Zusammenlebens zu sorgen. Der rechte Lebenswandel und die Tugend werden in der Bibel in anschaulich ausgeschmückter Verpackung vorgetragen; allerdings ist die sich um die moralische Belehrung rankende Vorstellungswelt einschließlich aller Vorstellungen vom Handeln Gottes für den Glauben nicht essenziell.

Was übrigens Gott oder jenes Vorbild des wahren Lebens ist, ob er Feuer, Geist, Licht, Gedanke usw. ist, gehört nicht zum Glauben, so wenig wie der Grund, aus dem er das Vorbild des wahren Lebens ist, ob deshalb, weil sein Sinn gerecht und barmherzig ist, oder weil alle Dinge durch ihn sind und handeln und infolgedessen auch wir durch ihn erkennen und durch ihn einsehen, was wahrhaft recht und gut ist. Es ist einerlei, was jeder davon hält. Es gehört ferner nicht zum Glauben, ob einer annimmt, daß Gott nach seinem Wesen oder nach seiner Macht allenthalben ist, daß er die Dinge aus Freiheit leitet oder nach Naturnotwendigkeit, daß er die Gesetze als Herrscher vorschreibt oder sie als ewige Wahrheiten lehrt, daß der Mensch aus freiem Willen oder aus der Notwendigkeit göttlichen Ratschlusses Gott gehorcht, und daß endlich die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Bösen auf natürlichem oder übernatürlichem Wege erfolgt. Bei diesen und ähnlichen Fragen ist es in Ansehung des Glaubens gleichgültig, wie ein jeder darüber denkt, solange er nicht zu dem Schlusse kommt, sich eine größere Freiheit zu sündigen herauszunehmen oder Gott weniger gehorsam zu sein. Ja, vielmehr ist ein jeder, wie schon gesagt, verpflichtet, diese Glaubenssätze seiner Fassungskraft anzupassen und sie sich so auszulegen, wie er glaubt, daß er sie leichter, ohne jedes Bedenken und mit ganzem Herzen annehmen kann, um dann Gott aus ganzem Herzen zu gehorchen. (218 f.)

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So sehr es ‚einerlei ist, was jeder davon hält‘, so wenig ist es offenkundig in das Ermessen des Einzelnen gestellt, sich möglicherweise auch gar nicht zum Glauben zu verhalten. Spinoza spricht von einer Pflicht, sich den Glauben so plausibel wie irgend möglich zurechtzulegen, wobei auch in Rechnung zu stellen bleibt, dass sich über die Zeiten hinweg die Vorstellungsweisen gründlich geändert haben, sodass der eingeräumten Freiheit durchaus eine eigene Gestaltungsmöglichkeit entspricht – wobei die Zielrichtung klar bleiben muss: Es geht um den Frieden der Gesellschaft im modernen Nationalstaat. In diesem Sinne spitzt Spinoza seinen Gedankengang zu:

Denn, wie ich schon bemerkt, geradeso wie einst der Glaube entsprechend der Fassungskraft und den Anschauungen der Propheten und des Volkes jener Zeit offenbart und niedergeschrieben worden ist, so ist auch jetzt noch jedermann verpflichtet, ihn seinen Anschauungen anzupassen, um ihn auf diese Weise ohne inneres Widerstreben und ohne Zaudern annehmen zu können. Denn ich habe gezeigt, daß der Glaube nicht so sehr Wahrheit als Frömmigkeit fordert und nur in Ansehung des Gehorsams fromm und seligmachend ist und daß infolgedessen jeder nur in Ansehung des Gehorsams gläubig ist. Nicht wer die besten Gründe für sich hat, hat deshalb notwendig auch den besten Glauben, sondern derjenige, der die besten Werke der Gerechtigkeit und der Liebe aufzuweisen hat. Wie heilsam und notwendig diese Lehre im Staate ist, damit die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben, und namentlich wie viele Ursachen von Wirren und Verbrechen dadurch beseitigt werden, das überlasse ich jedem selbst zu beurteilen. (219)

Im Grunde werden der Staat bzw. die Inhaber der Regierungsgewalt zu den maßgeblichen Auslegern von Religion und Frömmigkeit, sodass auch umgekehrt gilt, dass sich die rechte Frömmigkeit in der Liebe zum Staat bzw. Vaterland zeigt. Und selbst dann, wenn sich die Inhaber der Regierungsgewalt als gottlos erweisen, hat niemand das Recht, gegen sie das göttliche Recht in Schutz zu nehmen. Spinoza kann pointiert sagen:

Sicherlich ist die Liebe zum Vaterland die höchste Frömmigkeit, die man zeigen kann. Denn fällt die Regierung weg, so kann nichts Gutes mehr bestehen, alles kommt in Gefahr, und bloß die Wut und die Gottlosigkeit herrschen zum größten Schrecken aller. Daraus folgt, daß jedes fromme Werk am Nächsten sogleich gottlos wird, wenn dem ganzen Staat daraus ein Schaden erwächst, und daß umgekehrt eine gottlose Tat gegen den Nächsten als frommes Werk anzusehen ist, wenn sie um die Erhaltung des Staates willen geschieht. So ist es z. B. eine fromme Tat, wenn ich dem, der mit mir streitet und mir den Rock nehmen will, auch noch den Mantel gebe. Sobald man sich aber sagen muß, daß diese Handlungsweise verderblich ist für die Erhaltung des Staates, so ist es im Gegenteil eine fromme Tat, jenen vor Gericht zu ziehen, selbst wenn er ein Todesurteil zu gewärtigen hätte. (289f.)

Hier wird man mich nun vielleicht fragen: wer wird denn, wenn die Inhaber der Regierungsgewalt gottlos sein wollen, von Rechts wegen die Frömmigkeit in Schutz nehmen? Sind diese auch dann als die Ausleger der Frömmigkeit anzusehen? ... Soviel ist sicher: wenn die Inhaber der Regierungsgewalt tun wollen, was ihnen beliebt, so ist es einerlei, ob sie das Recht in geistlichen Angelegenheiten haben oder nicht: alles, Weltliches wie Geistliches, wird ins Verderben stürzen; aber noch weit schneller wird das geschehen, wenn Privatleute in aufrührerischer|33◄ ►34| Weise das göttliche Recht beschützen wollen.... Ob wir nun die Wahrheit der Sache selbst oder die Sicherheit des Staates oder ob wir das Gedeihen der Frömmigkeit ins Auge fassen, jedenfalls müssen wir festhalten, daß auch das göttliche Recht oder das Recht in geistlichen Dingen von dem Beschluß der höchsten Gewalten ohne Einschränkung abhängig sein muß und daß nur diese seine Ausleger und Beschützer sind. Daraus ergibt sich, daß nur diejenigen Diener des göttlichen Wortes sind, die das Volk vermöge der Autorität der höchsten Gewalten die Frömmigkeit lehren, wie sie nach deren Entscheide dem öffentlichen Wohle angemessen ist. (294f.)


W. Bartuschat, Baruch de Spinoza, München 2006

W. Röd, Benedictus de Spinoza. Eine Einführung, Stuttgart 2002

4. John Locke

Der englische Philosoph John Locke (1632 – 1704) gilt sowohl als Begründer des Empirismus als auch der modernen liberalen Staatsauffassung unter der Maxime der Volkssouveränität.

Neben dem von Hobbes (→ § 2,2) und Spinoza (→ § 2,3) in den Vordergrund gestellten Motiv des Friedens und der Sicherheit hebt Locke nun auch mit entschlossener Emphase das Motiv der Freiheit hervor, deren Schutz der Regierung Grenzen auferlegt und die Forderung einer Gewaltenteilung aufscheinen lässt (voll ausgebildet erst bei Montesquieu). Zwar kann der Staat ausdrücklich nicht die Oberherrschaft über die Religion beanspruchen, aber zugleich sind die zu tolerierenden Religionsgemeinschaften zu Loyalität und sittlichem Wohlverhalten dem Gemeinwesen gegenüber angehalten. Zwei Aspekte gilt es besonders hervorzuheben: a) die staatsphilosophisch begründete Toleranzforderung und b) den besonderen Zugang zum Gottesglauben und somit zur Religion.