Religion und Religionskritik

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Rousseau bewegt sich vorbehaltlos auf der Linie der vernunftorientierten Aufklärung. Alles muss sich vor der Vernunft ausweisen, und was vor ihr nicht bestehen kann, darf auch keine Geltung beanspruchen. Doch diese durchaus anspruchsvolle Rolle der Vernunft macht sie nicht zugleich auch noch zur Quelle aller Orientierung und Einsicht. Vielmehr wird die Vernunft durch das Gefühl und die Intuition über-boten|43◄ ►44| – hier zeichnet sich eine Öffnung der Aufklärung hin zur Romantik ab. Das Verständnis der natürlichen Religion bekommt eine eigene Rolle zugewiesen, die sie für die Vernunft unentbehrlich macht. Rousseau legt in dem Erziehungsroman Emile sein eigenes Glaubensbekenntnis in den Mund eines ‚savoyischen Vikars‘, der leidenschaftlich eine intuitive moralische Religion des freien Menschen lehrt.

Ort dieser Intuition ist das Gewissen. Jeder Mensch soll seinem Gewissen als dem Erregungsort frommer Subjektivität folgen. Es wird gleichsam als Sprachrohr der unverstellten Natur verstanden. Nicht allein schon in der Vernunft, sondern im Grunde erst im Gewissen erweist sich die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Im Gewissen zeigt sich wirkliche Lebenskraft, Tugend und Freiheit. Es gilt für Rousseau als der entscheidende Beleg dafür, dass der Mensch von Natur aus gut ist.

Gewissen! Gewissen! Göttlicher Instinkt! Unsterbliche und himmlische Stimme! Sicherer Führer eines unwissenden und beschränkten, aber verständigen und freien Wesens! Untrüglicher Richter über Gut und Böse, der den Menschen gottähnlich macht! Du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die Sittlichkeit! Ohne dich fühle ich nichts in mir, das mich über die Tiere erhebt, als das traurige Vorrecht, mich mit Hilfe eines ungeregelten Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrtum zu Irrtum zu verlieren.52

Die Angewiesenheit von Verstand und Vernunft wird unmissverständlich hervorgehoben. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, dass die Intuition nicht einfach eine Inspektion der eigenen Subjektivität darstellt, sondern als Begegnung mit dem Wesen der Natur und somit der Wirklichkeit verstanden wird. Wichtig bleibt zu beachten, dass das Gewissen zwar in jedem Einzelnen spricht, aber es wird deshalb nicht zum Ausdruck individueller Subjektivität, sondern Rousseau misst dem Gewissen eine unhintergehbare Objektivität zu, der man sich im Grunde nicht entziehen könne. Das Gewissen wird nicht als eine hinzugewonnene Dimension der Individualität gefeiert, sondern als ein bildungsunabhängig gegebener Zugang zum Wahren und Guten. Dieser Zugang wird nicht durch die Erziehung erschlossen, sondern ist von Natur aus in jedem Menschen gegeben. Der Mensch ist von Natur aus gut und solange er sich der Führung seines Gefühls überlässt, vermag er auch gut zu bleiben.

Von hier aus ergibt sich Rousseaus Konzept einer ‚natürlichen Religion‘, die an die Stelle der tradierten Offenbarungsreligion treten soll und all ihre Anstößigkeiten überwindet.

Du findest in meinen Darlegungen nur die natürliche Religion, und es ist seltsam, daß auch noch eine andere notwendig sein soll. Woran soll ich diese Notwendigkeit erkennen? Wessen kann ich schuldig sein, wenn ich Gott nach der Vernunft, die er meinem Geist gibt, und nach den Gefühlen, die er meinem Herzen einflößte, diene? Welche Reinheit der Moral, welches Dogma, das dem Menschen nützt und seinen Schöpfer ehrt, kann ich aus einer positiven Glaubenslehre ziehen, die ich nicht auch ohne sie aus dem richtigen Gebrauch meiner Fähigkeiten ziehen könnte? Zeig mir, was man zur Ehre Gottes, zum Wohl der Gesellschaft und zu meinem eigenen Vorteil den Pflichten des natürlichen Gesetzes hinzufügen kann und welche Tugend du aus einem neuen Kult ziehen kannst, der nicht eine Konsequenz meines Kultes wä-re.|44◄ ►45| Die höchsten Vorstellungen von der Gottheit gibt uns die Vernunft ein. Betrachte das Schauspiel der Natur, hör auf die innere Stimme. Hat Gott nicht alles vor unseren Augen, vor unserem Gewissen und unserem Urteil ausgebreitet? Was können uns die Menschen mehr sagen? Ihre Offenbarungen erniedrigen Gott nur, da sie ihm menschliche Leidenschaften beilegen, statt unsere Begriffe über das große Wesen aufzuklären. Ich sehe, wie die einzelnen Dogmen sie verwirren; statt sie zu erhöhen, ziehen sie sie herab; den unbegreiflichen Geheimnissen, die die Gottheit umgeben, fügen sie sinnlose Widersprüche hinzu und machen den Menschen stolz, unduldsam und grausam; statt den Frieden auf der Erde zu stiften, überziehen sie sie mit Feuer und mit Schwert. Ich frage mich, wozu das dienen soll, und weiß keine Antwort. Ich sehe nur die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts.

Man sagt mir, daß eine Offenbarung notwendig sei, um die Menschen zu lehren, wie wir Gott dienen sollen. Als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeiten der seltsamen Kulte an, die sie eingeführt haben, und übersieht, daß alle Verschiedenartigkeit aus der Phantasie der Offenbarungen kommt. Seit die Völker auf den Gedanken kamen, Gott sprechen zu lassen, hat jeder ihn auf seine Weise reden lassen, was er hören wollte. Wenn man nur darauf gehört hätte, was Gott dem Menschen ins Herz sagt, so hätte es immer nur eine einzige Religion gegeben. (312)

Suchen wir also aufrichtig die Wahrheit! Geben wir nichts auf das Vorrecht der Geburt, auf die Autorität der Kirchenväter und der Pfarrer, sondern unterziehen wir alles, was sie uns seit der Kindheit gelehrt haben, der Prüfung des Gewissens und der Vernunft. Und wenn sie schreien: Unterwirf deine Vernunft! Dasselbe könnte mir jeder Betrüger sagen. Wenn ich meine Vernunft unterwerfen soll, brauche ich vernünftige Gründe dazu. (314)

Alles, was von der Religion zu erwarten ist, bietet die natürliche Religion. Sie bedarf keiner Ergänzung. Die reine Moral, um die es in der natürlichen Religion geht, ehrt sowohl Gott als auch den Menschen. Zwar gesteht Rousseau zu, dass die überkommene Theologie in ihrem Umgang mit der Offenbarung auch manchen tiefsinnigen und sogar nützlichen Gedanken verbunden haben mag, aber jede Verpflichtung auf eine dieser Lehren ist grundsätzlich abzulehnen. Der alleinige Maßstab zur Beurteilung, der von allen Menschen bereits mitgebracht wird, ist die natürliche Religion.

Neben dieser persönlichen Intuitionsreligion kennt Rousseau in Übereinstimmung mit den bisher besprochenen Vertretern der Aufklärung auch noch eine ‚bürgerliche Religion‘ bzw. ‚zivile Religion‘, die für das gesellschaftliche Zusammenleben von fundamentaler Bedeutung ist. Die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion wird von ihm ausdrücklich geteilt.

Für den Staat ist es allerdings wichtig, daß jeder Bürger eine Religion habe, die ihm vorschreibe, seine Pflichten zu lieben. Aber die Dogmen dieser Religion sind dagegen für den Staat wie für seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben, was er will, ohne daß der Souverän es zu wissen braucht. Da er für die andere Welt nicht zuständig ist, geht ihn das, was das Schicksal seiner Untertanen im Jenseits sein wird, nichts an, wenn sie nur in dieser Welt gute Bürger sind.

Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän erlassen werden. Sie dürfen keine Dogmen sein, sondern Gemeinschaftsgefühle, ohne die es |45◄ ►46| unmöglich ist, weder guter Staatsbürger noch treuer Untertan zu sein. Zwar kann niemand gezwungen werden, daran zu glauben, aber der Souverän kann jeden aus dem Staat verbannen, der nicht daran glaubt. Er kann ihn nicht als Ungläubigen verbannen, sondern als Feind der Gesellschaft, der unfähig ist, die Gesetze und die Gerechtigkeit aufrichtig zu lieben und notfalls sein Leben für seine Pflicht zu opfern. Wer diese Glaubenssätze anerkannt hat und sich dennoch benimmt, als glaube er nicht daran, der soll mit dem Tod bestraft werden. Er hat das größte aller Verbrechen begangen: er hat vor dem Gesetz einen Meineid geleistet.53

Es wird deutlich, dass nach wie vor die Frage der inneren Sicherheit ein zentrales Problem für den modernen Staat darstellt. Auch wenn keine spezifische Staatstheologie vorgetragen wird, so wird dennoch umgekehrt die religiöse Verankerung des Staats nach wie vor als unverzichtbar angesehen. Die nähere Betrachtung der Glaubenssätze der bürgerlichen Religion zeigt deutlich die Spuren der Kriterien, die wir bereits bei Herbert von Cherbury als wegweisend registriert haben (→ § 1,1.3). Auffällig ist lediglich, dass nun die ausdrückliche Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages herausgestellt wird, was nochmals den hohen Rang der als notwendig erachten Staatsraison unterstreicht:

Die Glaubenssätze der bürgerlichen Religion müssen einfach sein, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen. Diese positiven Sätze sind: Die Existenz einer mächtigen, vernünftigen, wohltätigen, vorausschauenden und vorsorglichen Gottheit; das künftige Leben; die Belohnung der Gerechten, die Bestrafung der Bösen; die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze. Es gibt nur einen negativen Satz: Unduldsamkeit. Sie gehört den Kulten an, die wir ausgeschlossen haben. (207)

Es sind insbesondere diese Formulierungen Rousseaus, an die dann etwa 200 Jahre später die von Robert N. Bellah angestoßene Diskussion über die Gestalt und die Bedeutung einer civil religion in recht unterschiedlicher Weise immer wieder angeschlossen hat (→ § 8,1.1).


G. Mensching, Rousseau zur Einführung, Hamburg 2003 B. H. F. Taureck, Rousseau. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck 2009

 

8. Gotthold Ephraim Lessing

Gotthold E. Lessing (1729 – 1781 ) hat der deutschen Aufklärung einen besonderen Stempel aufgedrückt, indem er sich nicht in die institutionellen Konkurrenzen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft hineinziehen ließ, sondern der Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Wahrheit nachging.

Wenn wir in Lessing gleichsam einer milden Form der Aufklärung begegnen, so hat das seinen Hauptgrund darin, dass er sich kaum an den institutionell orientierten Positionierungen der englischen und französischen Aufklärung beteiligte. Wenn Lessing der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Religion nachgeht, beeindruckt ihn weder der Weg der Neologen mit ih-rer|46◄ ►47| konsequent rationalen Schriftauslegung (→ § 3) noch der der Deisten mit ihrem Postulat einer vor allem moralisch verstandenen natürlichen Religion. Vielmehr bewegt ihn die Frage, was einer Glaubensaussage ihre besondere Evidenz zu geben vermag. Die schlichte Berufung auf die Vernunft greift zu kurz, wenn nicht auch ihr spezifischer Gebrauch näher bestimmt wird. Zur Begründung einer Glaubensaussage bleibt die Berufung auf irgendwelche zurückliegenden Geschichtsereignisse entschieden zu schwach. Die Geschichte ist nicht der vermeintlich feste Boden, auf dem unverrückbare Tatsachen aufliegen, sondern sie ist im Gegenteil ihrem Wesen nach eine zufällige Berufungsinstanz, die prinzipiell nicht über die Kraft verfügt, „notwendige Vernunftwahrheiten“ zu begründen.

Wenn keine historische Wahrheit demonstriret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriret werden.

Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.

Ich leugne also gar nicht, daß in Christo Weissagungen erfüllet worden; ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder gethan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden; seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind, (mögen doch diese Nachrichten so unwidersprochen, so unwidersprechlich seyn, als sie immer wollen:) mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürffen. Diese anderweitigen Lehren nehme ich aus anderweitigen Gründen an.54

Von den geschichtlichen Ereignissen sieht sich Lessing getrennt; dazwischen liegt der gern immer wieder zitierte „garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe“ (7). Lessing bestreitet nicht die historische Stimmigkeit von bezeugten Ereignissen und den daraus gezogenen Lehren, wie beispielsweise das Wunder der nicht zu widerlegenden Auferstehung Jesu und dem von den Jüngern daraus abgeleiteten Bekenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes sei.

Wenn ich zu Christi Zeiten gelebt hätte: so würden mich die in seiner Person erfüllten Weissagungen allerdings auf ihn sehr aufmerksam gemacht haben. Hätte ich nun gar gesehen, ihn Wunder thun; hätte ich keine Ursache zu zweifeln gehabt, daß es wahre Wunder gewesen: so würde ich zu einem, von so langeher ausgezeichneten, wunderthätigen Mann, allerdings so viel Vertrauen gewonnen haben, daß ich willig meinen Verstand dem Seinigen unterworfen hätte; daß ich ihm in allen Dingen geglaubt hätte, in welchen eben so ungezweifelte Erfahrungen ihm nicht entgegen gewesen wären.

Oder; wenn ich noch itzt erlebte, daß Christum oder die christliche Religion betreffende Weissagungen, von deren Priorität ich längst gewiß gewesen, auf die unstreitigste Art in Erfüllung gingen; wenn noch itzt von gläubigen Christen Wunder gethan würden, die ich für echte Wunder erkennen müßte: was könnte mich abhalten, mich diesem Beweis des Geistes und der Kraft, wie ihn der Apostel nennt, zu fügen? (3 f.)

|47◄ ►48|

Lessing bestreitet nun aber in der Tat, dass zu seiner Zeit Lehren weiter anerkannt werden müssen, die ihre Begründung in geschichtlichen Ereignissen haben, für die es zur Zeit Lessings keine Analogien und Evidenzen mehr gibt, weil sich die Vorstellungswelt des menschlichen Geistes fortentwickelt hat, wie er es in seiner Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) beschreibt. Die geschichtlichen Offenbarungen werden von Lessing gleichsam als pädagogische Beschleunigungen eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses der Vernunft verstanden, der sich grundsätzlich auch ohne sie vollzogen hätte, dann aber entschieden langsamer. Die Religion hat vermittels der geschichtlichen Offenbarungen dem Menschengeschlecht die Möglichkeit geboten, eine neue Entwicklungsstufe zu erreichen und damit die Zeit der Entwicklung aufs Ganze gesehen zu verkürzen. Aber das Wesen der Religion kann weder aus diesen Offenbarungen abgeleitet noch gar an sie gebunden werden. Es macht keinen Sinn, diese geschichtlichen Katalysatoren nun an sich zu verehren, indem sie aus ihrer Geschichtlichkeit in die Grundsätzlichkeit einer überzeitlich anzuerkennenden Wahrheit gehoben werden. Vielmehr verlieren sie ihre Bedeutung, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben.

Das Wesen der Religion ist jenseits von diesen geschichtlichen Offenbarungen zu suchen. Es liegt in einer dem Menschen entsprechenden tragfähigen Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens nach Maßgabe der Vernunft. Das Geheimnis der Religion – so legt es Lessing in der berühmten Ringparabel in seinem Drama Nathan der Weise (1779) dar – liegt in der Wunderkraft, in der sie die Menschen gegenseitig und vor Gott beliebt und angenehm macht. Daran wird sich die Echtheit einer Religion entscheiden. Blickt sie nur auf sich selbst und liebt somit auch nur sich selbst, so ist sie falscher Schein – es muss sich um einen unechten Ring handeln, der nur vorgibt, ein Geheimnis zu haben. Es ist der weise Rat des Richters über die drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam –, deren Erbe durch den jeweils gleichen Ring symbolisiert wird, dass sich die Echtheit nicht an der Religion selbst erweisen kann – möglicherweise sind alle drei Ringe Kopien und somit ‚unecht‘. Die Echtheit der Religion kann sich allein an dem erweisen, was von ihr für die Menschheit ausgeht.

Hat von euch jeder seinen Ring von seinem Vater:

So glaube jeder sicher seinen Ring den echten. –

Möglich, daß der Vater nun die Tyranney des Einen Rings nicht länger

In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß,

Daß er euch alle drey geliebt, und gleich geliebt: indem er zwey nicht drücken mögen,

Um einen zu begünstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochenen

Von Vorurtheilen freyen Liebe nach!

Es strebe von euch jeder um die Wette,

Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmuth,

Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, mit innigster Ergebenheit in Gott,

Zu Hülf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte

Bey euern Kindes-Kindeskindern äußern:

So lad’ ich über tausend tausend Jahre, |48◄ ►49|

Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird

Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen,

Als ich, und sprechen. Geht! – So sagte der

Bescheidne Richter.55

Gern wird Lessing als Pionier der Toleranz zwischen den Religionen ausgegeben. Das wird man nur mit größter Zurückhaltung so aufrechterhalten können, denn ihm geht es mehr um die Verlagerung der Wahrheitsfrage von der Lehr- und Bekenntnisebene auf die Praxisebene als um die Anerkennung verschiedener Wahrheitsansprüche unterschiedlicher Religionen. Vielmehr ergibt sich aus der genannten Verlagerung mit innerer Notwendigkeit, dass die traditionell unterschiedenen Religionen gleichsam unversehens in einer Religion zusammenfallen, auch wenn sie sich dabei auf unterschiedliche Traditionen berufen. Nicht die Traditionen sind das Entscheidende – und deshalb stellt sich im Grunde auch gar nicht die Frage ihrer gegenseitigen Anerkennung –, sondern gerade der Erweis der einen gemeinsamen praktischen Wahrheit.


M. Fick, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 22004 F. Niewöhner, Veritas sive varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch von den drei Betrügern, Heidelberg 1988

9. Immanuel Kant

Die deutsche Aufklärung erreicht mit den Kritiken des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724 – 1804) ihren Höhepunkt und zugleich auch ihre Grenze. Neben den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis bewegte Kant vor allem die Frage der Beerbung der traditionellen Metaphysik durch die sittliche Selbstkonstitution des Menschen.

Mit der Kritik der reinen Vernunft eröffnete Kant 1781 die Reihe seiner berühmten Kritiken, mit denen er gleichsam das ganze Themenfeld der Philosophie abschreitet und auf einen selbstkritisch revidierten Stand zu bringen versucht. Ebenso wie in vielen anderen seiner Schriften kommt der zumindest indirekten Auseinandersetzung mit der Religion auch in dieser erkenntnistheoretischen Grundlagenschrift eine große Bedeutung zu. Kant setzt sich mit den traditionellen Gottesbeweisen (dem ontologischen, dem kosmologischen und dem physikotheologischen Gottesbeweis) auseinander und kommt zu dem ebenso klaren wie schlichten Resultat, dass sie alle keinen tragfähigen Gehalt haben.

Ich behaupte nun, daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind; daß aber die Prinzipien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen, |49◄ ►50| folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt, oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne. Denn alle synthetischen Grundsätze des Verstandes sind von immanenten Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist. Soll das empirisch gültige Gesetz der Kausalität zu dem Urwesen führen, so müßte dieses in die Kette der Gegenstände der Erfahrung mitgehören; alsdann wäre es aber, wie alle Erscheinungen, selbst wiederum bedingt.56

Die auf möglichst nüchterne Erkenntnis ausgerichtete Vernunft bleibt auf Anschauung angewiesen, der es hinsichtlich der Thematisierung Gottes gerade ermangelt, sodass es keine Gotteserkenntnis im Sinne exakter unvoreingenommener Erkenntnis geben kann. Das Zitat benennt bereits den Horizont, in dem die Theologie ihren Gegenstand findet: das moralische Gesetz. Es ist der Horizont der praktischen Vernunft, die den Bestimmungen der für den Menschen essenziellen Möglichkeit moralischer Verantwortlichkeit nachgeht und in dem sich auf spezifische Weise nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit ergibt, Gott zu denken. Die Notwendigkeit, von der hier die Rede ist, erscheint als eine Implikation eben der Notwendigkeit, die eine Erweiterung der reinen Vernunft hin zur praktischen Vernunft erforderlich macht. Nicht schon die Erkenntnis macht den Menschen zum Menschen, sondern erst die Möglichkeit sittlich verantwortlicher und d. h. freier Verwirklichung. Ohne die Ausrichtung des Lebens auf ein sittlich zu erreichendes Ziel, das Kant das höchste Gut nennt, bleibt der Mensch fremdbestimmt und damit unter seinem eigentlichen Niveau. Die apriorische Gegebenheit dieses Erfordernisses verlangt nach einem entsprechenden Gebrauch der Vernunft, den Kant die praktische Vernunft nennt. Das folgende grundlegende Zitat erschließt sich nur bei langsamer und möglicherweise auch mehrfacher Lektüre:

Um eine reine Erkenntnis praktisch zu erweitern, muß eine Absicht a priori gegeben sein, d. i. ein Zweck als Objekt (des Willens), welches unabhängig von allen theoretischen Grundsätzen, durch einen den Willen unmittelbar bestimmenden (kategorischen) Imperativ, als praktisch notwendig vorgestellt wird; und das ist hier das höchste Gut. Dieses ist aber nicht möglich, ohne drei theoretische Begriffe (für die sich, weil sie bloße reine Vernunftbegriffe sind, keine korrespondierende Anschauung, mithin auf dem theoretischen Wege keine objektive Realität finden läßt) vorauszusetzen: nämlich Freiheit, Unsterblichkeit und Gott. Also wird durchs praktische Gesetz, welches die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet, die Möglichkeit jener Objekte der reinen spekulativen Vernunft, die objektive Realität, welche diese ihnen nicht sichern konnte, postuliert; wodurch denn die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt, der aber bloß darin besteht, daß jene für sie sonst problematischen (bloß denkbaren) Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirkliche Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres und zwar praktisch schlechthin notwendigen Objekts des höchsten Guts, unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen.57

 

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Gott wird nicht aufgewiesen, sondern er ist – ebenso wie die Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele – ein zwingendes Postulat, ohne das die den Menschen ausmachende Sittlichkeit nicht recht gedacht werden kann. Gott wird verstanden als Ursache und Garant des höchsten Guts, in dessen Pflicht sich die Sittlichkeit weiß und um dessen willen der Mensch seine Freiheit betätigt. Religion entspringt nach Kant keiner Offenbarung, sondern sie ist das elementare Bedürfnis der Moral, die durch die reine praktische Vernunft bestimmt wird.

Unter Glaubenssätzen versteht man nicht, was geglaubt werden soll (denn das Glauben verstattet keinen Imperativ), sondern das, was in praktischer (moralischer) Absicht anzunehmen möglich und zweckmäßig, obgleich nicht eben erweislich ist, mithin nur geglaubt werden kann.58

Seinem Wesen nach ist der Glaube anschauungslos und gegenstandslos, er dient tatsächlich vor allem der moralischen Erbauung des Menschen.

Das ist der Hintergrund für Kants Unterscheidung zwischen einem vernünftigen Religionsglauben und dem Kirchenglauben. Die „wahre, alleinige Religion“ (der Singular ist bemerkenswert) ist von der statuarischen Religion, wie sie im Kirchenglauben in seinen verschiedenen Variationen auftritt, zu unterscheiden. Kant kann auch von der einen wahren Religion und den vielerlei Arten des Glaubens im Sinne der Konfessionen und verschiedenen Religionen sprechen, in denen je auf besondere Weise die wahre Religion verborgen enthalten ist.59 Zugespitzt heißt es:

Die wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart erkennen. Nur zum Behuf einer Kirche, deren es verschiedene gleich gute Formen geben kann, kann es Statuten, d. i. für göttlich gehaltene Verordnungen, geben, die für unsere reine moralische Beurtheilung willkürlich und zufällig sind. Diesen statuarischen Glauben nun (der allenfalls auf ein Volk eingeschränkt ist und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung ein Afterdienst, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes ist, wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen gehandelt wird. (167 f.)

Die „sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut bespritzt haben, [sind] nie etwas anderes als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (108). Die verschiedenen kirchlichen Traditionen können immer nur partikulare Bedeutung beanspruchen, während die wahre Religion einen universalen Anspruch erhebt. Doch die Kirchen sind noch weit davon entfernt, ihre eigene Partikularität wahrzunehmen und daraus im Verhältnis zu den anderen die richtigen Schlüsse zu ziehen.

|51◄ ►52|

Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die einige allgemeine ausgiebt (ob sie zwar auf einen besondern Offenbarungsglauben gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Theil (im Nichtwesentlichen) davon abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden. Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein Ketzer und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch (dergleichen die Römer über den aussprachen, der wider des Senats Einwilligung über den Rubicon ging) ausgestoßen und allen Höllengöttern übergeben. Die angemaßte alleinige Rechtgläubigkeit der Lehrer oder Häupter einer Kirche in dem Punkte des Kirchenglaubens heißt Orthodoxie, welche man wohl in despotische (brutale) und liberale Orthodoxie eintheilen könnte. – Wenn eine Kirche, die ihren Kirchenglauben für allgemein verbindlich ausgiebt, eine katholische, diejenige aber, welche sich gegen diese Ansprüche anderer verwahrt (ob sie gleich diese öfters selbst gerne ausüben möchte, wenn sie könnte), eine protestantische Kirche genannt werden soll: so wird ein aufmerksamer Beobachter manche rühmliche Beispiele von protestantischen Katholiken und dagegen noch mehrere anstößige von erzkatholischen Protestanten antreffen; die erste von Männern einer sich erweiternden Denkungsart (ob es gleich die ihrer Kirche wohl nicht ist), gegen welche die letzteren mit ihrer eingeschränkten gar sehr, doch keineswegs zu ihrem Vortheil abstechen. (108 f.)

Nach Kants Vorstellung käme es darauf an, dass sich die historischen Religionen mehr und mehr der wahren Religion annähern. Nur so ist den anhaltenden widervernünftigen Streitereien wirksam zu begegnen. Faktisch geht der Vorschlag in die Richtung eines schrittweisen Abbaus der kultischen und gottesdienstlichen Elemente, die vor allem als Ausdruck eines Fron- bzw. Lohnglaubens zu bewerten seien, zugunsten der einen moralischen Religion.

Vom Staat erwartet Kant religiöse Neutralität. Dass sich diese auch für Kant nicht einfach außerhalb der eigenen Interessen des Staates vollzieht, zeigt sich darin, dass die Neutralität ihre Grenzen da hat, wo es um die eigenen Ansprüche an seine Bürger geht: „Was den Staat in Religionsdingen allein interessieren darf, ist: wozu die Lehrer derselben anzuhalten sind, damit er nützliche Bürger, gute Soldaten und überhaupt getreue Unterthanen habe.“60


O. Höffe, Immanuel Kant, München 72007

U. Schultz, Immanuel Kant in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 2003

EXKURS: Eine Glosse über Kant von Heinrich Heine

Auch wenn die eigene Stellung von Heinrich Heine (1797 – 1856) zur Religion ein eigenes interessantes Thema wäre, beschränken wir uns hier auf seinen Kommentar zu Kant, wie er sich in der überaus gewitzten Schrift Zur Geschichte der Religion und |52◄ ►53| Philosophie in Deutschland (1834) findet. Mit journalistischem Schwung, scharfer Zunge, plastischer bis drastischer Bildlichkeit und ebenso umsichtiger wie treffsicherer Zuspitzung lässt Heine eine lebendige, ja beinahe spielerisch inszenierte Geschichte ablaufen, hinter deren großartiger Fassade sich allzumeist ganz ‚menschliche‘, und man kann wohl sagen, allzu menschliche Vorgänge verbergen. Doch es ist nicht nur die faszinierende Art, wie es Heine gelingt, die ‚große‘ Philosophie auf den Boden zu ziehen, sondern vor allem die scharfsinnige Diagnose der in seinen Augen eher verfahrenen Situation, die dem für die französische Zeitschrift Revue des deux mondes abgefassten Text einen besonderen Reiz gibt. Es werden ledig ein paar Beobachtungen zu Kant herangezogen und zwar zu seinem aus Gründen der praktischen Vernunft postulierten Gott auf dem Hintergrund seiner Kritik der reinen Vernunft:

Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen trazirt, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es giebt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Thränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, halb gutmüthig und halb ironisch spricht er: ‚der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich seyn – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich seyn – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.‘ In Folge dieses Arguments, unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getödtet.