Religion und Religionskritik

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§ 3 Die theologische Rezeption der Aufklärung

Der spätere Beginn der zu betrachtenden Epoche erklärt sich schlicht daraus, dass es sich um eine Reaktion und spezifische Form der Aneignung dessen handelt, was durch die philosophische Aufklärung in die Diskussion gebracht worden war. Mit einer gewissen Phasenverzögerung hat die Theologie nicht mehr allein ihre Tradition verteidigt, sondern sich auf die aufklärerischen Positionen eingelassen und diese teilweise sehr weitreichend übernommen oder sich zumindest von ihnen zu einem eigenen Weg anregen lassen. Zwar ließen sich in diesem Kapitel sehr viele Positionen anführen, aber das würde kaum zu einer Erweiterung des inhaltlichen Spektrums führen. Die Neologen und die Rationalisten können im engeren Sinne als Theologen der Aufklärung angesprochen werden, während Schleiermacher bereits darüber hinausgeht und ihr mit einem eigenen theologischen Weg antwortet, der allerdings ohne die Aufklärung und ihre theologische Rezeption so nicht denkbar gewesen wäre. Es handelt sich zunächst vor allem um einen mehr oder weniger konsequent und eigenständig vollzogenen Anpassungsvorgang, in dem wenig eigene sachliche Originalität zu finden ist, was sich dann aber bei Schleiermacher ändert, weil dieser zwar das Modernisierungsinteresse der Aufklärung teilt, aber für die Theologie schließlich doch eine eigenständige Perspektive sucht, mit der er sich von den Neologen und Rationalisten auch entschlossen trennt. Es ist eine Konsequenz der Entscheidung, den Idealismus als bekenntnishafte Selbstüberbietung der Aufklärung gleichsam als deren spezifischen Schlusspunkt zu thematisieren (→ § 2,10), wenn nun auch die Erörterung der Aufklärungstheologie mit Marheineke als dem exponierten Vertreter der theologischen Hegelrezeption abgeschlossen wird.

Wenden wir uns zunächst einigen theologiegeschichtlichen Aspekten zu. Nach der Reformation war die Theologie beider Konfessionen zunächst vorrangig mit der Verteidigung und Stabilisierung ihrer Position in dem aufgebrochenen Gegensatz beschäftigt. Die römisch-katholische Selbstvergewisserung vollzog sich vor allem im Konzil von Trient (1545 – 1563) und seiner weiteren Rezeption – allen historisch zu registrierenden Widrigkeiten beim Zustandekommen und der ordentlichen Durchführung zum Trotz handelt es sich für die römisch-katholische Kirche um eines der bedeutendsten Konzilien, dem nach wie vor in der Tradition ein herausgehobener Rang zugemessen wird. Auf der protestantischen Seite ist das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts von der Festigung des reformatorischen Bekenntnisses und seiner theologischen Vertiefung – nicht zuletzt in kritischer Auseinandersetzung mit den Beschlüssen des Konzils von Trient – geprägt, wie sie vor allem in der sogenannten altprotestantischen Orthodoxie betrieben wurde. Die Intensität der theologischen|63◄ ►64| Dezisionen führte zumindest teilweise zu einer erneuten scholastischen Entfremdung der Theologie von dem tatsächlichen Leben der Kirche.

Der dadurch geweckte Überdruss ließ die Zeit reifen für entschlossene Schritte in die inzwischen allseits spürbare neue Zeit, die insbesondere in der Aufklärung zu eigenem Selbstbewusstsein gefunden hat. Insbesondere im 18. Jahrhundert kommt es vor allem in der protestantischen Welt zu unterschiedlichen Aufbrüchen, die darin einig sind, dem konkreten Leben ein eigenes Gewicht im Blick auf die theologische Urteilsbildung einzuräumen. Der reformatorische prinzipielle Primat der Lehre über das Leben muss einer differenzierteren Sichtweise Platz machen, die allerdings auf sehr unterschiedliche Weise verfolgt und zur Geltung gebracht wird. Das führt aufs Ganze gesehen zu einer mehrschichtigen Diskussionslage, in der sich bereits die unterschiedlichen theologischen Mentalitäten herauszubilden beginnen, die in gewisser Weise bis heute prägend geblieben sind und sich inzwischen in vergleichbarer Weise in allen Konfessionen finden: die meist eher konservativen Traditionalisten, die weltoffenen Liberalen und ethisch engagierten Praktiker. Während die Traditionalisten nun als die Altgläubigen gelten, werden die sich der Aufklärung zuwendenden liberalen Theologen ‚Neologen‘ genannt. Die Betonung des authentisch praktizierten Glaubens ist auch ein Hauptanliegen des Pietismus, der sich damit in seinem Ursprung durchaus als modern qualifiziert.

1. Die Neologie

Schon der Begriff weist auf das zentrale Anliegen: Es geht um eine konsequente Erneuerung der Theologie und des Christentums. War für die Reformation, wie der Begriff bereits deutlich zu erkennen gibt, das Motiv der Wiederherstellung des rechten Glaubens und der Kirche – orientiert an ihren Ursprüngen – leitend, so wird nun alles Pathos in die entschlossene Erneuerung gelegt. Das wird vor allem darin erkennbar, dass diese Erneuerung ausdrücklich die Verabschiedung von überkommenen Lehren und Einstellungen einschließt. Die Bindung an die überkommenen Bekenntnisgrundlagen verliert an Überzeugungskraft und macht Platz für ein undogmatisch verstandenes Christentum, das sich dem Geist der Aufklärung verpflichtet weiß. Es beginnt die Zeit, in der sich zumindest ein Teil der Theologenschaft vor allem mit den Anpassungsproblemen der Theologie an die sich jeweils vollziehenden Veränderungen im allgemeinen öffentlichen Selbstbewusstsein beschäftigt. Es liegt in der Natur der in den Mittelpunkt gerückten (apologetischen) Intention, dass diese Erneuerungen nicht durch eine besondere Originalität auffallen, sondern vor allem in dem möglichst konsequent durchgeführten Nachweis bestehen, dass es der Theologie nicht nur keine Mühe mache, sondern ihr eben auch überaus gut anstehe, wenn sie sich diesen oder jenen Neuverortungen des Menschen in seiner Zeit anschließe und diese auch selbst für sich zur Grundlage für ihre eigenen Artikulationen und Positionierungen mache. Der Nachweis, auf der jeweiligen Höhe der Zeit |64◄ ►65| zu sein, wird vor allem dadurch erbracht, dass die Theologie – natürlich immer etwas zeitverzögert und somit auch niemals wirklich ganz modern – sich unter Zurücklassung bisheriger Bedenken zur Anwaltschaft für die epochalen Grundeinstellungen zur Verfügung stellt und sich daran beteiligt, diesen so zu einer möglichst flächendeckenden Resonanz zu verhelfen. Sie versucht auf diese Weise das altmodische Kleid prinzipieller Gestrigkeit loszuwerden, auch wenn natürlich die übernommenen neuen Kleider immer schon von anderen ein wenig abgetragen sind. Wann immer eine neue Mode in Sicht kommt, stellt sich die Theologie zunächst gern mit der stets beharrlichen Mehrheit warnend gegen diese, um sich dann aber im Zuge der sich durchsetzenden Akzeptanz auch dieser möglichst lautstark anzuschließen. Auch unabhängig von der hier anklingenden Kritik bleibt festzuhalten, dass mit der Neologie eine Theologie auf den Plan tritt, die sich programmatisch vor allem an ihrer aktuellen Resonanzfähigkeit und weniger an der Bewahrung der spezifischen Kontur des überkommenen christlichen Bekenntnisses orientiert.


E. Hirsch, Geschichte IV, 89 – 119

1.1 Friedrich Germanus Lüdke

Als einflussreicher Protagonist der umstrittenen Neologie war Friedrich Germanus Lüdke (1730 – 1792) davon überzeugt, dass die Verpflichtung auf die alten Bekenntnisse der Kirche einen gesetzlichen Religionseifer beförderten, der den eigentlichen Religionslehren des christlichen Glaubens entgegenstehe.

Das Hauptanliegen des Engagements von Friedrich G. Lüdke besteht in der Ablösung des traditionellen orthodoxen Kirchenglaubens in seiner Bindung an die Bekenntnisse und insbesondere die Bekenntnisschriften (die „symbolischen Bücher“) durch ein an konsensfähigen Religionseinsichten orientiertes Christentum. Während im Pietismus die traditionelle Dogmatik unberührt blieb, aber mehr oder weniger stillschweigend auf die zweite Stelle gerückt wurde, erheben die Neologen die Kritik der Dogmatik zu ihrem ausdrücklichen Programm. Von dem noch radikaleren Rationalismus (→ § 3,2) unterscheiden sich die Neologen dadurch, dass sie sich auf den ethischen Gehalt des Glaubens konzentrieren und dabei – wie es ausdrücklich bei Johann Spalding der Fall ist (→ § 3,1.2) – durchaus auch das Gemüt bzw. das moralische Empfinden einbeziehen, während für den Rationalismus allein die Plausibilitätsbestätigung durch die Vernunft zählt.

Wie im Renaissance-Humanismus wird auch in der Neologie die Dogmen- bzw. Lehrkritik durch die Berufung auf die biblischen Grundlagen vollzogen. Der Berliner Diakonus an St. Nicolai, Lüdke, hebt in besonderer Weise das von der Bibel unmittelbar bereitgestellte Erneuerungspotential für das angemessene Verständnis des christlichen Glaubens hervor. Er wirft den Kirchen und der sie prägenden theologischen Lehre vor, dass sie komplizierte Bestimmungen und schulmeisterliche Unterscheidungen auf eine künstliche Weise mit biblischen Aussagen verknüpfe, anstatt umgekehrt von den klaren und lebensorientierten Aussagen der Bibel auszugehen.

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Meines Bedünkens bleibt es ein sehr großer Fehler, daß unsere strengen Eiferer um die vermeinte Reinigkeit der Lehre, wenn jemand diesen und jenen Lehrsatz aus den symbolischen Büchern als unrichtig verwirft, nicht erst die Schrift fragen, und danach beurteilen, ob ihn die Verfasser jener Bücher auch recht bestimmt haben, sondern ihn schon immer als richtig ausgemacht voraussetzen und dann bemüht sind, ihn aus der Bibel heraus zu erklären; oder wenn das auf eine ungezwungene Art nicht angehen will, alsdenn auf allerhand Spitzfindigkeiten fallen und Gründe hervorsuchen, wodurch sie ihn schützen oder ihm einen solchen Sinn geben können, daß er doch vernünftig und biblisch herauskomme. Und dies soll denn der rechte Sinn sein, den jene dabei gehabt hätten. Diese Umschweife brauchte man gar nicht, wenn man den graden näheren Weg zur Quelle der Wahrheit, zur heiligen Schrift gehen wollte. Es ließe sich an manchen einzelnen harten Lehrsätzen einer herrschenden Kirche zeigen, zu was für Subtilitäten und scholastischen Distinktionen man seine Zuflucht nehme, um ihnen einen verständlichen Sinn zu geben, und auf was für erkünstelte Gründe man von Zeit zu Zeit studiere, um zu beweisen, daß in den Schriftstellen, die man dahin zieht, derselbe Satz wirklich gelehrt werde. Auf die Weise, welche aber Gang und Gebe unter uns ist, muß freiwillig aus der Hälfte unserer Theologie eine bloß polemische Wissenschaft werden. Man sollte doch, um richtig zu beurteilen, ob dieser oder jener Lehrsatz einer Kirche, wahr oder falsch sei, einmal überall vergessen, daß es eine Formula Concordiae und eine Synode von Dordrecht gäbe, und dann sehen, was man aus der heiligen Schrift und dem Zusammenhange der darin augenscheinlich gegründeten Wahrheiten herausbrächte, alsdenn würde der Streitsucht und der Sektiererei unter den protestantischen Christen weit weniger sein.1

 

Was für die Lehre gilt, ist dann auch auf das Leben zu beziehen. Was dem Verstehen der christlichen Wahrheit schadet, wirkt sich auch unmittelbar im christlichen Leben aus, weil die Aufrichtigkeit der zu erwartenden Gottesfurcht durch die unzugängliche Lehre unentwegt auf eine Probe gestellt wird. Ohne als richtig erkannte Grundsätze verliert der Glaube seine Überzeugungskraft und dann auch seine eigentliche, das Leben prägende Bedeutung. Wo der Erkenntnis keine rechte Chance zum Wachstum gegeben wird, wird auch „das Wachstum einer gereinigten und gewissenhaften Tugend“ (140) behindert. Daraus ergibt sich die Forderung, die theologische Lehre von allem überflüssigen Ballast zu befreien, sodass sie für das „tätige Christentum“ wieder ihrer dienenden Bedeutung gerecht werden kann.

Wollte man also in der protestantischen Kirche heutzutage dem tätigen Christentum aufhelfen und eine reine Gottesfurcht und Tugend unter den Bekennern des Evangeliums befördern, so sollte man sich doch ja einer größeren Aufklärung seiner theoretischen Wahrheiten nicht widersetzen, sondern vielmehr die Christen zu verständlichen Religionsbegriffen anführen und die Bibel recht verstehen lehren; man sollte sie mit unfruchtbaren Ideen, die keinen Einfluß in die inneren Gemütsgesinnungen des Menschen haben, verschonen, die klar erkannten Grundsätze der Lehre Jesu ihrem Herzen tief einzuprägen suchen und allen Unterricht darauf anlegen, daß durch die Wahrheit eine Tugend in ihren Seelen angerichtet würde, die mehr als den äußerlichen Schein davon hätte, und einmal an jenem großen Tag der Rechenschaft die Probe halten könnte. (141 f.)

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Die traditionelle Dogmatik wird als rechthaberisch und zänkisch abgewiesen. Sie diene vor allem dem kirchlichen Stolz, nicht aber dem tugendhaften Leben der Kirche. Lüdke spricht von „blinden Eiferern“ und „orthodoxen Machtansprüchen“ (155). Dabei ließ es sich offenkundig problemlos mit dem dagegen mobilisierten aufklärerischen Pathos verbinden, wenn man für sich die menschenfreundliche Religion in Anspruch nahm und zugleich den Juden (und dem mit ihnen verbundenen eifernden Geist) die Schuld dafür zuwies, die Saat der Streitsucht gesät zu haben, die dann allerdings von machtbewussten Repräsentanten der Kirche weiter gepflegt wurde.

Die Kreuzigung des Erlösers, die Bande der Apostel, die Hinrichtungen anderer Zeugen der Wahrheit mit ihnen, so viel Empörung in den Städten, so viel Aufwiegelung des Pöbels, wenn die ersten Lehrer des Evangeliums öffentlich predigten, das waren ja alles Wirkungen eines feindseligen Zorns aufgebrachter Juden, die mit ihrem Unverstand um Gott eiferten. Und als die Christen erst die Oberhand bekamen und mächtig wurden, da machten sie es zum Teil ebenso, da führten solche Lehrer unter ihnen, welche ganz den Geist der Pharisäer und Schriftgelehrten geerbt hatten, von einem blinden Eifer erhitzt, Ungerechtigkeiten in die Welt ein, die unbeschreiblich sind. (143 f.)

Der unchristliche Verfolgungsgeist, der mit den usurpierten und partikularisierten Wahrheitsansprüchen einhergehe, befördere vor allem den Aberglauben und die Streitsucht. Dagegen sei in Übereinstimmung mit den einfachen Lehren der Bibel – ohne weitere Ergänzungen und Konditionierungen – eine mit der Vernunft übereinkommende Harmonie anzustreben. Lüdke verfolgt dabei eine deutliche apologetische Absicht, die von der Sorge bestimmt ist, den christlichen Glauben in den Augen der ihm fern Stehenden nicht anstößig erscheinen zu lassen.

Ich habe schon angemerkt, dass man die Fehler der Menschen, von denen die Religion gelehrt wird, nicht der Religion selbst zur Last legen sollte. Aber wie schwer ist es doch für Leute, die ohnehin eine Abneigung dagegen haben, das von einander abzusondern. Und wenn wir nun die Ungläubigen sehen lassen, wie wir in so manchen Fällen unsre Sache mit der Sache Gottes vermengen; wie wir manche unerweisliche väterliche Meinung mit so großer Heftigkeit verfechten; wie wir gegen andere Religionsparteien, oder in manchen Dingen von uns abgehende Glieder unserer eigenen Kirche, so gar wenig Nachsicht und Gelindigkeit im Urteilen beweisen; und uns in dem Eifer für die vermeinte Reinigkeit der Lehre so weit vergessen, daß wir Vernunft, Gewissen, Billigkeit, Menschenliebe und anständige Sitten darüber hintansetzen, grade als ob es in der Hitze des Streits darauf gar nicht ankäme; was müssen sie alsdenn, wenn ihre Seelen vielleicht von Natur sanfter und durch eine feine Erziehung edelmütiger gebildet worden sind, natürlicherweise wohl von uns denken? (154 f.)

In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass dieses ausdrückliche Bemühen um ein allgemein akzeptables Außenbild in aller Deutlichkeit darauf hinweist, dass im Zusammenhang mit der Verbreitung eines aufklärerischen Bewusstseins bereits im 18. Jahrhundert in erheblichen Maße von der Möglichkeit der Distanzierung von den Kirchen Gebrauch gemacht worden ist.

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1.2 Johann Joachim Spalding

Als Hauptvertreter einer praktischkirchlichen Neologie setzte sich Johann J. Spalding (1714 – 1804) vor allem mit dem Pietismus auseinander.

Als Kollege von Fr. G. Lüdke (→ § 3,1.1) und Oberkonsistorialrat in Berlin trat Johann Spalding für eine gemäßigte Rezeption der Aufklärung in der Kirche ein. In seiner Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Pietismus stellt er der Kontingenz des individuellen Bekehrungserlebnisses, in dem der Gläubige aus seiner ausweglosen Schuldverstrickung befreit wird, und der lebenslangen Bedeutung, die diesem Bekehrungserlebnis zugemessen wird, die weitreichende Übereinstimmung des Christentums mit der natürlichen Religion gegenüber. Allerdings überlässt er der Vernunft nicht vollkommen die Regie, so sehr er auch ihre Urteilskraft herausstreicht, sondern verweist – durchaus vergleichbar mit J. J. Rousseau (→ § 2,7), wenn auch mit weniger ausgeprägtem antidogmatischen Affront – auf die spezifische unverfälschbare Wahrnehmungsfähigkeit des Herzens bzw. des Gewissens (Spalding spricht auch vom Gemüt). Er teilt also sowohl die ethische Perspektivierung der Religion als auch deren grundsätzliche Vernünftigkeit mit der Aufklärung und weist zugleich über sie hinaus, indem er Gott im menschlichen Gefühl wirken sieht in dem Versuch, den Menschen von seinen falschen Wegen abzubringen und auf den rechten Weg zu lenken.

Spalding geht es in seiner Argumentation nicht nur um die Resonanzen des Glaubens auf die Vernunft, sondern auch umgekehrt um die Anschlussfähigkeit der Vernunft an den Glauben. Er wirbt nicht – wie Lüdke – in der kirchenentfremdeten Welt für die Religion, sondern in der Kirche für die Anerkennung der von der Aufklärung auf den Schild gehobenen allgemeinen Vernunft. Diese Werbung kann nur Erfolg haben, wenn sie zugleich erkennbar macht, dass ein Festhalten an der Priorität des Glaubens nicht dazu genötigt ist, der Einsichtsfähigkeit der allgemeinen Vernunft die Anerkennung zu versagen. Vielmehr können beide zusammenstehen und sollten dies auch, wenn sie nur recht in ihren spezifischen Ausrichtungen unterschieden und aufeinander bezogen werden. – Ein paar einschlägige Textausschnitte mögen die Schritte seines Gedankengangs andeuten, bevor er mit einer abschließenden Interpretation noch einmal zusammengefasst wird.

Alle Gedanken, alle Regungen, alle Gefühle, von welchen ich finde, daß sie darauf abzielen, mich von der Sünde zu Gott zu ziehen, die schreibe ich der göttlichen Wirkung zu. Wenn ich eine Verschuldung an mir erkenne, die ich sonst nicht geachtet; wenn der Abscheu gegen Ungerechtigkeit bei mir erweckt und gestärkt wird, wenn die überschwängliche Barmherzigkeit, womit mein ewiger göttlicher Mittler sich um mich verdient gemacht hat, stärkere Triebe der Anbetung, der Liebe, des Vertrauens und der willigsten Nachfolge in mir verursachet; wenn ich mehr Lust zu dem, was recht und gut ist, in mir spüre, so weiß ich daraus, daß der Geist der Gnade in mir geschäftig gewesen, weil doch einmal alles Gute ursprünglich von ihm herkommen muß.69

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Die Erkenntnis von Gott, von seiner Gesinnung gegen uns, von unserer Verbindlichkeit gegen ihn, von den allgemeinen von ihm verordneten Mitteln zur Glückseligkeit kann richtig und wahr sein, wenn sie aus einer regelmäßigen Verbindung der Begriffe und Schlüsse, aus einer gehörigen Einsicht in die Bedeutung der göttlichen Zeugnisse entspringt; allein so lange sie noch in einer Entfernung von unserm Gewissen bleibt, so lange wir unsere eigene Schuld oder Unschuld, unsern eigenen Nutzen oder Schaden nicht zugleich dabei denken, so lange wird dies alles noch immer etwas Kaltes und Unkräftiges sein, welches uns unserm großen Zweck nicht um einen Schritt näher bringt ... Man weiß es, wie groß und wichtig noch immer der Übergang ist von den besten allgemeinen Erkenntnissen und Regungen bis zu der unmittelbaren Anwendung auf sich selbst; und nur von diesem letzteren Schritte kann man sagen, daß er den Menschen unter die eigentliche Zucht des Geistes bringet. Das ist also die Hauptsache und das Entscheidende in den Wirkungen der göttlichen Gnade, um in der menschlichen Seele den Zweck ihrer Wiederherstellung zur Glückseligkeit wirklich zu erreichen. Alles, was sonst von Licht in dem Verstande und von Bewegung in dem Gemüte sein mag, das ist nur eine entferntere Vorbereitung zur Vereinigung mit Gott; und der eigentliche schätzbarste und vorteilhafteste Wert der Einsichten so wohl, als der Empfindungen zeigt sich darin, dass der Mensch das sich insbesondere gesagt sein lässet, dass er seine eigene Sache daraus macht, und daß er also dadurch an seinem Teile zu den Gesinnungen geleitet wird, in welchen er Gott gefallen und glücklich werden kann. (97 – 99)

Ausgangspunkt ist die generelle und plausible Einsicht, dass es Gottes Wille ist, den Menschen von seinem eigenwilligen Weg abzubringen und auf den Weg des Guten zu bringen. Alle Abneigung dem Bösen gegenüber kann als eine Wirkung Gottes verstanden werden. Die allgemeine Stimmigkeit dieses Gedankens lässt sich in der Theologie erweisen, die darin durchaus der allgemeinen vernünftigen Einsicht entspricht. Doch mit der Stimmigkeit der Einsicht ist es noch nicht getan. Es bedarf der Spezifizierung des Allgemeinen auf das Individuelle. Dies kann nun nicht darin bestehen, ein weiteres Mal die Stringenz des Arguments hervorzuheben – auch die traditionelle Dogmatik implizierte eine innere Stringenz –, vielmehr bedarf es gleichsam einer besonderen Bekräftigung der Einsicht durch einen individuellen Evidenzhinweis, durch den es dann auch dazu kommt, dass es nicht allein bei der richtigen Einschätzung bleibt, sondern auch zu dem rechten Handeln kommt. Weder die Dogmatik noch die Vernunft können als hinreichend angesehen werden, solange ihnen nicht über das Gefühl (Gewissen, Herz, Gemüt) ein entsprechender unausweichlicher Impuls die notwendige Gewissheit verleiht. Spalding verweist auf die „gewisse Sprache des Gewissens, die ohne Zweifel demjenigen bekannt und geläufig wird, der selbst aufrichtig mit seinem eigenen Herzen umgehet“ (331). Das principium individuationis liegt im Gewissen als der an den Einzelnen gerichteten Stimme Gottes, die darauf ausgerichtet ist, von dem Abwägen zur Handlung vorzudringen, deren Entschlossenheit sich nicht allein aus der Einsicht ableiten lässt, sondern gleichsam auf eine göttliche Ermutigung zurückzuführen ist.

Spalding sieht es als eine Aufgabe des Menschen an, seine Gefühlsregungen kritisch zu prüfen, und geht davon aus, dass sich verlässlich ausmachen lässt, was göttlichen Ursprungs ist und was eben nicht. Es ist der moralische Nutzen, der darüber entscheidet, ob eine Gefühlsregung von Gott oder aus einer anderen Quelle kommt. |69◄ ►70| Im Gewissen findet diese Klärung unzweideutig statt und zugleich wird eine individuelle Identifikation mit dem jeweils angezeigten moralischen Ziel erwirkt. Im Hintergrund steht die Vorstellung einer grundsätzlichen Harmonie zwischen der menschlichen Natur und der göttlichen Gnade – eine ausweglose Verstrickung des Menschen in die Sünde hat in diesem Konzept keinen Platz mehr. Nach Spalding ist die Sünde die dem Mensch durchaus nahe liegende moralische Nachlässigkeit, die aber dem Willen stets einen Ausgang lässt. Die Vernunft weist im Blick auf das Gute in genau die gleiche Richtung wie der Glaube, ist diesem aber insofern unterlegen, als sie nicht die gleiche emotionale Tiefe wie der Glaube erreicht. Hier tritt das klassische Muster neuzeitlicher Apologetik auf, indem sich der Glaube als ein spezifisches Steigerungselement für etwas anbietet, was allgemein als sinnvoll oder auch notwendig angesehen, aber nur mit begrenztem Erfolg propagiert wird. Indem der Erfolg in besonderer Weise mit der erst von der Religion beförderten Steigerung verbunden wird, kann sie sogar von etwas Sinnvollem zu etwas Notwendigem werden, sodass sie sich einer allgemeinen Empfehlung möglichst sicher sein kann.

 

J. Schollmeier, Johann Joachim Spalding: ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung, Gütersloh 1967

1.3 Johann Salomo Semler

Johann S. Semler (1725 – 1791) verbindet das Konzept der Neologie strategisch mit einer Vermittlungsoption mit traditionellen theologischen und kirchlichen Optionen, um die geistige Orientierungskraft des Christentums in der Gesellschaft zu sichern.

Mit Semler erreichen wir bereits die Grenze der Neologie, die in der Ernüchterung erkennbar wird, in der er sich mit den traditionellen Beharrungskräften in den Konfessionen zu arrangieren versucht. Die avisierte allgemeine Harmonie auf dem Boden der natürlichen Religion erwies sich als nicht realisierbar. Im Gegenteil haben sich mit dem Aufkommen der Neologie neue Gräben aufgetan, deren Überwindung sich vor allem deshalb vorläufig als illusorisch erwies, weil längst nicht alle politischen Machthaber als Sympathisanten der Aufklärung auftraten. Ein neuer Konflikt zwischen den sogenannten Altgläubigen und den Neugläubigen (so wurden die Anhänger der Neologie genannt) bahnte sich an. Semler, der selber der Neologie zuneigte, versuchte zwischen den sich formierenden Fronten zu vermitteln, indem er an dem Recht der traditionellen Bekenntnisse und Bekenntnisschriften festhielt, aber die Möglichkeit für ihre unterschiedliche Interpretation einforderte. Auf die Weise wollte er zwischen den unterschiedlichen Richtungen vermitteln, was ihn zum Initiator der sogenannten liberalen Theologie werden ließ, die nicht mehr – wie die Übergangstheologie – auf eine konsensuale allgemeine Entwicklung setzt, sondern für ein friedliches Nebeneinander von verschiedenen Optionen eintritt. Neben seinen bahnbrechenden historisch-kritischen Untersuchungen, die im Interesse des Nachweises standen, dass die Grundlagen des Christentums mit der unvoreingenommenen Vernunft|70◄ ►71| in Einklang stünden, steht das religionspolitische Vermittlungsinteresse im Mittelpunkt seines Engagements.

Um dieses Vermittlungsinteresse praktische umsetzen zu können, greift Semler die Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion auf (→ Hobbes § 2,2; Spinoza § 2,3; Rousseau § 2,7), wobei er der Unterscheidung eine eigene Bestimmung gibt. Während es bei Hobbes um die Sicherung der Oberherrschaft des Staates in allen öffentlichen Angelegenheiten und in diesem Zusammenhang um die Abweisung aller konfessionellen Absolutheitsansprüche im öffentlichen Leben ging, setzt Semler auf die friedensstiftende Wirkung eines Raumes begrenzter Pluralisierung, um zwischen den Alt- und Neugläubigen zu einem lebensfähigen Arrangement gegenseitiger Duldung zu gelangen. Das gemeinsame Dach der öffentlichen Religion findet sich in den Glaubensbekenntnissen und den Bekenntnisschriften. Sie bilden den von allen zu akzeptierenden Raum und signalisieren eine deutliche Grenze gegenüber einer Nivellierung in die Beliebigkeit. Zugleich ist es der Raum, innerhalb dessen es erlaubt sein soll, die verschiedenen Glaubensaussagen unterschiedlich zu interpretieren, und der somit eine Pluralisierung der Theologie ermöglicht. Zwar sollen sich alle Christen allen Unterschieden zum Trotz auf die Bekenntnisse und die Bekenntnisschriften hin ansprechen lassen, aber wie sie im Einzelnen verstanden werden, darf nicht einfach von einer Richtung und eben auch nicht von der Kirche aus festgelegt werden. Ihren Ereignisort hat die öffentliche Religion in der Feier des gemeinsamen Gottesdienstes, während die private Religion sich in ganz unterschiedlichen Lehrverständnissen Ausdruck verschafft. Semler bleibt mit der Betonung der öffentlichen Religion insofern in der Tradition des bisherigen Gebrauchs dieses Begriffs, als er ihr auch eine auf den Staat ausgerichtete Bedeutung zumisst. Im Spiegel der Bekenntnisse und der Bekenntnisschriften kann der Staat erkennen, dass ihm aus der Kirche in ihren unterschiedlichen Artikulationsformen durchaus keine Gefahr erwächst. Die öffentliche Religion wird gleichsam offiziell von der Kirche veranstaltet. Ihr fügt sich der Einzelne um der Gemeinschaft willen, während ihm die private Religion auch die Möglichkeit bereithält, sich selber aktiv an der Wahrnehmung der Religion zu beteiligen. Die

öffentliche Religionsform, woran die gemeinen Mitglieder, die nicht selbst Religionshandlungen verrichten [wie die offiziellen Amtsträger der Kirche (M. W.)], nur leidender Weise oder durch vorübergehende Subordination an die bestellten Religionsdiener teilnehmen, beruht ganz auf der Einrichtung oder Einwilligung der zusammengehörigen Gesellschaft, in Absicht der festgesetzten Umstände, unter welchen die Mitglieder die jedesmalige gemeinschaftliche Darstellung und Übung des Betragens wiederholen, welches sie also zur öffentlichen Verehrung der Gottheit rechnen, daß sie es für eine ihnen unerlaubte und sündliche Aufführung halten, wenn sie nicht diese kenntlichen feierlichen Merkmale ihrer gesellschaftlichen oder bürgerlichen Verbindung ebenso gegen andere darlegen, als von anderen annehmen wollten.

Aber neben dieser öffentlichen Religionsform, welche alle Mitglieder durch ihre Einwilligung in einer besonderen Verbindung miteinander erhält, die mit ihrer bürgerlichen Verfassung immer zusammenhängt: gibt es unter allen Religionsparteien auch eine innere oder Privat-Religion vieler einzelner Menschen, die übrigens immer zu der öffentlichen Religionsform,|71◄ ►72| als öffentliche Mitglieder gehören können: wiewohl es auch bürgerlich hier und da (leider unter den Christen am wenigsten,) frei steht, seine Gegenwart jener öffentlichen feierlichen Versammlung zu entziehen; wenn nur sonst die bürgerlichen oder gesellschaftlichen Abgaben ferner entrichtet wurden, welcher zur Erhaltung der öffentlichen Religionsdiener, oder Gebäude, oder zu anderen legitimen Beiträgen, gehörten. In jedem Staat war eine öffentliche Religionsform zunächst zu festerem Bande der bürgerlichen Gesellschaft durch Gesetze eingeführt; ohne die freistehende moralische Privat-Religion den einzelnen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft hiermit zu untersagen; sie mußten sie nur der öffentlichen Religion nicht entgegenstellen und einen neuen Staat anfangen wollen.