Transkulturelle Kommunikation

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Wie kommunizieren wir?

Manche Menschen (darunter auch manche Wissenschaftler*innen) vertreten die Meinung, Kommunikation sei nur das, was wir bewusst mitteilen wollen. Mit anderen Worten, der Ausdruck Kommunikation bezeichne nur eine intentional (beabsichtigt) gesetzte Handlung, die einen bestimmten Zweck erfüllen soll. Wir gehen aber hier davon aus, dass Kommunikation alles umfasst, was Menschen einander mitteilen, bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt. Mehr noch: Wir vertreten die Ansicht, dass alles, was wir anderen Menschen mitteilen, ob in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, ob ohne ein Wort oder gar ohne etwas zu „tun“, als Kommunikation gilt.

Wir könnten also sagen: Kommunikation ist jede Art von menschlichem Verhalten, das von (einem) anderen Menschen wahrgenommen wird. Wir können also das Prinzip „Man kann nicht nicht kommunizieren“ um eine Einsicht ergänzen: Wir können uns nicht nicht verhalten.

Kommunikation und Verstehen

An unserer Reaktion auf das obige Bild haben wir festgestellt, dass das Bild uns „etwas sagt“, ohne dass wir ein Wort gehört oder eine Bewegung gesehen hätten. Wir sehen Menschen und „denken uns etwas“. Sie teilen uns etwas mit, weil es uns Menschen nicht möglich ist, etwas zu sehen (oder zu hören oder zu spüren oder …), ohne wissen zu wollen, was es ist. Wir wollen uns auskennen. Wir wollen uns orientieren können. Vor allem bei anderen Menschen. Wir könnten auch sagen: Wir wollen verstehen.

Genau wie das Kommunizieren-Müssen ist auch das Verstehen-Wollen ein Grundbedürfnis des Menschseins. Eigentlich handelt es sich um ein Grundbedürfnis aller Organismen: Jedes Lebewesen muss sich in seinem Weltteil (in seiner Nische) auskennen, um sich zurechtzufinden. Es muss wissen, wer oder was freundlich oder feindlich gesinnt ist, was ihm guttut und was gefährlich ist, etc.

Ebenso geht es uns Menschen. Wir sind auf das Verstehen angewiesen. Niemand hat es gerne, wenn er*sie „die Welt nicht versteht“. Wir mögen es nicht, wenn wir einen anderen Menschen nicht verstehen. Probieren Sie es aus: Sagen Sie „Ich kenne mich bei ihm nicht aus“ oder „Ich verstehe sie einfach nicht“ und versuchen Sie, dabei zu lächeln oder glücklich zu wirken. Das fällt den meisten von uns schwer. Üblicherweise runzeln wir die Stirn und/oder sind irritiert, wenn wir etwas nicht verstehen.

Verstehen und Interpretieren

Wir sind deswegen irritiert, weil das Nicht-Verstehen ein Nicht-einordnen-Können bedeutet. Wenn wir etwas nicht verstehen, können wir „nichts damit anfangen“. Wir kennen uns nicht aus, wissen nicht, woran wir sind. Wir können uns nicht orientieren. In vielen Varianten des Englischen sagen wir, wenn wir etwas nicht verstehen: I can’t make sense of it. (Etwa: Ich sehe keinen Sinn darin. Das ergibt für mich keinen Sinn.) Und dieses Gefühl ist für niemanden angenehm.

Wir umgehen dieses Problem (oder versuchen, es zu lösen), indem wir die Welt um uns mit Bedeutung versehen. Wir sehen Sinn in unserer Um-Welt. Und was wir darin sehen, ist etwas, das für uns Sinn macht.

Wir wollen also verstehen. Auch wenn wir meinen, nicht verstehen zu wollen, geben wir dem Verhalten, den Äußerungen einer anderen Person irgendeinen Sinn. Wenn wir „nicht verstehen wollen“ bedeutet das meistens, dass wir die Meinung der anderen Person nicht akzeptieren wollen oder ihre Perspektive nicht einnehmen wollen. Es geht dann meist darum, auf die eigene Sichtweise zu pochen, weil ein anderer Sinn uns stören würde. Auch wenn wir nicht verstehen, verstehen wir also etwas. Dies wird oft Missverstehen genannt. Missverstehen fällt auch unter das Verstehen-wollen-Prinzip: Wir verstehen dann eben in unserem Sinne.

Mit anderen Worten: Wir interpretieren, was um uns geschieht. Dazu gehört auch das Verhalten anderer Menschen. Es kommt also eine weitere Einsicht zum Grundprinzip der Kommunikation hinzu: Wir können nicht nicht interpretieren.

Verstehen als Beziehung

Wie verstehen Sie dieses Bild?

Abb. 10:

Vögel (Foto: pixabay)

Oder anders gesagt: Was verstehen Sie an diesem Bild? Das oben erwähnte Verstehensbedürfnis ist so zwingend, dass wir auch „automatisch“ die Kommunikation zwischen anderen Lebewesen interpretieren. Und dies erfolgt klarerweise von unserer, der menschlichen Perspektive aus. Bei allen Bemühungen, eine anthropomorphe (menschenzentrierte) Sichtweise zu vermeiden, wird es uns schwer gelingen, einen Vogel aus der Perspektive eines Vogels zu betrachten. Wir nehmen zwangsläufig den menschlichen Standpunkt ein.

Diese menschliche Sicht der Vögel im obigen Bild beeinflusst, wie wir das Verhalten der Vögel interpretieren. Wir deuten ihre Körpersprache, die Nähe oder Distanz, die sie zueinander halten, nach menschlichen Kriterien.

Der Vogel links im Bild zum Beispiel steht etwas abseits und nimmt dadurch eine stärkere Position ein als die anderen drei, die als Gruppe ihm zuzuhören scheinen. Auch die Kopfhaltung des links stehenden Vogels – nach oben gerichtet – wirkt bestimmt und sogar leicht überheblich.

Natürlich könnte man viel mehr aus diesem Bild lesen. Allein diese kurze Beschreibung zeigt aber, wie sehr unsere Auffassung des „Inhalts“ eines Bildes oder eines Verhaltens mit dem eigenen Standpunkt zusammenhängt.

Wir sehen auch, dass wir eine Beziehung zwischen den Vögeln annehmen und daraus eine Interpretation ableiten: Die körperliche Nähe (oder Distanz) deutet auf die innerliche (emotionale) Beziehung zueinander hin.

Kommunikation ist in der Tat nicht möglich ohne Beziehung – ohne sich aufeinander zu beziehen. Wenn wir eine Person (oder etwas) wahrnehmen, beziehen wir uns auf sie (bzw. darauf). Wir beginnen, sie (oder es) einzuordnen: Wer ist das? Wie gut kennen wir uns? Ist sie mir sympathisch? etc. In den meisten Fällen erfolgt diese Einordnung unbewusst oder automatisch. Bei Eltern oder Freund*innen zum Beispiel müssen wir uns nicht mehr fragen, wer sie sind oder ob wir sie gernhaben: Wir wissen „automatisch“, wie wir zu ihnen stehen. Und wie wir zueinander stehen, beeinflusst wesentlich die Interpretation des gegenseitigen Verhaltens.

Ein Kind, das seinen Eltern vorschreibt, nicht nach Mitternacht nach Hause zu kommen, wird höchstwahrscheinlich als frech gelten. Die meisten Kinder und Jugendlichen erwarten hingegen, dass die Eltern gewisse Regeln aufstellen, und auch wenn diese lästig sind, würde kaum jemand auf die Idee kommen, solche Eltern als frech zu bezeichnen. Frech ist nur jemand, der die akzeptierte Autoritätsgrenze überschreitet.

Die gleiche Äußerung – „Komm nicht zu spät nach Hause!“ – wird also je nach der Beziehung der kommunizierenden Person und deren Autoritätsverhältnis unterschiedlich interpretiert. Der „Inhalt“ der Äußerung ändert sich dementsprechend: Du bist frech oder Du bist lästig bzw. Typisch Eltern.

Es ist aber nicht nur eine Frage der Autorität. Ob wir jemanden mögen oder nicht, für schüchtern oder überheblich, intelligent oder dumm halten – alle möglichen Gefühle beeinflussen unsere Interpretation dessen, was jemand in seinem*ihrem Verhalten aussagt.

Eine Lehrerin, die eine Schülerin für grundsätzlich engagiert und intelligent hält, wird eine Frage wie „Könnten Sie das bitte erklären? Ich verstehe nicht, was Sie gerade gesagt haben.“ vermutlich als Wissensdurst und Lernbereitschaft auffassen. Einer anderen Schülerin, die als faul und unruhig gilt, wird womöglich bei der gleichen Frage Desinteresse und mangelndes Lernvermögen unterstellt werden.

Diese Bestimmung des „Inhalts“ einer Äußerung oder eines Verhaltens auf der Basis der Beziehung gilt grundsätzlich in jedem Bereich der Kommunikation, in der wissenschaftlichen und beruflichen Welt und auch im Alltag. Wir können uns nicht nicht beziehen. Beziehung ist Kommunikation, weil wir einander nicht wahrnehmen können, ohne uns aufeinander zu beziehen.

Auf den Punkt gebracht

1 Verhalten ist Kommunikation. Kommunikation ist etwas, das passiert, wenn Menschen einander wahrnehmen.

2 Alle Menschen kommunizieren.

3 Kommunikation ist nicht immer gewollt oder beabsichtigt.

4 Verhalten wird immer interpretiert. Diese Interpretation erfolgt unbewusst oder bewusst.

5 Es gibt kein objektives Verstehen. Alles wird von einem bestimmten Standpunkt aus verstanden.

6 Wir können nicht verstehen, ohne zu interpretieren. Auch Missverstehen ist eine Interpretation.

7 Die Beziehung bestimmt die Interpretation des Inhalts.

Zum Weiterdenken und Vertiefen

1 Sie sehen eine Person auf der Straße, die Sie nicht sehr sympathisch finden, begrüßen sie aber dennoch aus Höflichkeit. Die Person reagiert nicht und geht einfach weiter, ohne zu grüßen. Was empfinden Sie? Wie ordnen Sie ihr Verhalten sein?

2 Das Gleiche passiert ein paar Tage später mit einem*r Freund*in. Sie grüßen, aber es kommt nichts zurück. Was empfinden Sie diesmal? Wie verstehen Sie das Verhalten Ihres*r Freund*in?

2 Kommunikationssituationen und ihre Dimensionen

Wenn wir kommunizieren, tun wir das immer in einer bestimmten Situation. Die Situation hat Einfluss darauf, wie wir kommunizieren, also wie wir unser Verhalten auf andere beziehen. Wir treffen – bewusst oder unbewusst – Entscheidungen darüber, was wir ausdrücken möchten, welche Details wir erwähnen oder auslassen, welche Informationen wir zusätzlich für das Verstehen mitliefern und wie wir diese Informationen darstellen. Um diese Entscheidungen treffen zu können, müssen wir verschiedene Dimensionen der jeweiligen Kommunikationssituation berücksichtigen. Dazu gehören einerseits Rahmenbedingungen wie zeitliche, räumliche und soziale Nähe und Distanz, andererseits aber auch Vorstellungen über das Vorwissen der Kommunikationspartner*innen (der Adressat*innen), potentielle Erwartungen, die auf früheren Erfahrungen beruhen, und unterschiedliche Absichten (Intentionen) bei der Kommunikation.

 

In sogenannten Face-to-Face-Kommunikationssituationen sind alle Beteiligten gleichzeitig anwesend – wie zum Beispiel die Frauen auf dem Foto am Beginn dieses Kapitels (Abbildung 9). Stellen Sie sich vor, dass aus dieser Situation heraus eine der Frauen etwas kommentiert, das auch die anderen im Blickfeld haben: Sie schaut vielleicht auf ein Geschäftslokal, das kürzlich eröffnet worden ist, und macht eine Bemerkung dazu. Den anderen braucht sie es nicht eigens zu beschreiben, sie können es auch selbst sehen. Die Frauen können auf eine gemeinsame Wahrnehmung zurückgreifen. Möglicherweise entwickelt sich das Gespräch dann aber noch in eine andere Richtung und eine der Frauen nimmt auf etwas anderes Bezug, eine Begegnung vom Vortag vielleicht. In diesem Fall muss sie schon mehr erklären und beschreiben, den anderen eine Situation schildern und nachvollziehbar machen, in der sie nicht dabei waren. Geht es dabei um gemeinsame Bekannte oder ein gemeinsames Lebensumfeld, kann die Erzählerin sich aber immer noch auf viel geteiltes Wissen beziehen. Außerdem muss in der Face-to-Face-Kommunikation nicht alles verbalisiert (versprachlicht) werden, was ausgedrückt werden soll, sondern es können auch – bewusst oder unbewusst – nonverbale Elemente der Kommunikation eingesetzt werden, wie Mimik, Gestik oder bestimmte Körperhaltungen.

Wenn nun eine entfernte Bekannte anruft, die wissen möchte, was es Neues gibt, müsste die Erzählerin entscheiden, was sie berichtenswert findet und wie sie es für ihre Gesprächspartnerin darstellt. Dabei würde sie wahrscheinlich darauf Rücksicht nehmen, dass die entfernte Bekannte nicht über dieselben Informationen verfügt wie die Anwesenden. Und wenn nicht gerade Videotelefonie eingesetzt wird, ändert sich die Situation auch dadurch, dass die Gesprächspartnerinnen einander nur hören, aber nicht sehen können.

Die geschilderten Kommunikationssituationen unterscheiden sich in ihren Rahmenbedingungen: in ihrem Verhältnis von Nähe und Distanz, zeitlichen und räumlichen Verhältnissen. In jedem Fall findet informelle mündliche Kommunikation statt, aber die Informationen müssen jeweils unterschiedlich ausgewählt und eingebettet werden. Wenn Kommunikationspartner*innen über einen Bereich sprechen, in dem sie viel gemeinsame Erfahrung teilen, müssen sie wenig erklären. Da reicht manchmal schon eine Anspielung für das Verstehen: Davon leben zum Beispiel „Insider*innen-Witze“.

Außenstehende können diesen Witzen nicht folgen, weil ihnen die „Vorgeschichte“ fehlt. Wenn eine der Frauen beschließen würde, ein Buch über ihr Leben zu schreiben, würde sie diese Vorgeschichte dann vielleicht erzählen und so die Leser*innen auch (scheinbar) zu „Insider*innen“ machen, indem sie sie in die Geheimnisse der Gruppe einweiht. Wie viele und welche Informationen mitgeliefert werden, hängt also auch davon ab, wie eingeschätzt wird, was die Kommunikationspartner*innen wissen – und was sie nicht wissen. Es wird ein bestimmtes Vorwissen vorausgesetzt – und nicht erklärt. Anderes wird nicht vorausgesetzt – und deshalb erklärt. Stillschweigende Voraussetzungen, die nicht explizit an- oder ausgesprochen werden, werden Präsuppositionen genannt, aus dem Lateinischen prae (vor[her]) und suppositio bzw. supponere (Voraussetzung, Unterstellung, Annahme, annehmen). Präsuppositionen sind sehr wichtig in der Kommunikation, weil sie mitsteuern, welche Informationen für das Verstehen notwendig sind und mitgeliefert werden müssen und welche nicht.

Außerdem spielen auch die Kommunikationsabsichten (Intentionen) eine wichtige Rolle: Es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck kommuniziert wird, was mit der Kommunikation erreicht werden soll. Stellen wir uns vor, eine der Frauen ist Wissenschaftlerin und forscht über wirtschaftliche Entwicklung. Oder sie ist Journalistin, die eine Reportage zu diesem Thema schreibt. Vielleicht hat die Wissenschaftlerin – oder die Journalistin – jemanden gebeten, das Foto zu machen, um ihre Studie – oder ihren Artikel – zu illustrieren. Falls sie die Szene, die auf dem Foto zu sehen ist, in ihre Studie einbezieht, wird sie dafür sehr wahrscheinlich wieder andere Worte verwenden und andere Informationen auswählen als in einer Autobiografie oder am Telefon gegenüber einer Bekannten. Die Frau agiert in unterschiedlichen Kommunikationsrollen für unterschiedliche Adressat*innen: Für die Leser*innen des Artikels oder der Studie sind zum Teil andere Informationen interessant und notwendig für das Verstehen. Außerdem verfolgen die Journalistin und die Wissenschaftlerin mit ihren Texten andere Absichten als die Verfasserin der Autobiografie: In der Autobiografie steht das Leben einer einzelnen Person im Mittelpunkt und in der Reportage oder der Studie geht es eher darum, die Frauen und ihre Geschichte in einem größeren Kontext betrachten, zum Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung der ganzen Region.

Die Autobiografie, die wissenschaftliche Studie und die Reportage haben aber auch etwas gemeinsam: Sie sind schriftlich gestaltete Texte. Damit kommt eine weitere Dimension der Kommunikationssituation ins Spiel: das mediale Erscheinungsbild. Medien sind Hilfsmittel für die Kommunikation: Texte können schriftlich oder mündlich verbreitet werden, auf Papier, über Schallwellen in der Luft oder über elektronische Kommunikationskanäle, zum Beispiel das Internet. Medien können also als „Transportmittel“ für die Kommunikation betrachtet werden.

Bei schriftlichen Texten vergeht oft zwischen Textproduktion (Schreiben) und Textrezeption (Lesen) längere Zeit. Manchmal werden Texte sehr, sehr viel später noch gelesen (zum Beispiel, wenn wir uns heute mit Texten aus der Antike beschäftigen). Manchmal vergeht hingegen zwischen Schreiben und Lesen nur sehr wenig Zeit (wenn wir zum Beispiel online Zeitung lesen oder mit jemandem chatten). Texte aus großer zeitlicher Distanz sind oft nicht mehr leicht zu verstehen. Wir verfügen heute über andere Informationen als Menschen aus früheren Jahrhunderten und wir haben zum Teil auch andere Erwartungen an Texte, sind andere Kommunikationsstile gewöhnt.

In Kommunikationssituationen spielen, wie wir gesehen haben, Interpretationen eine wichtige Rolle. Diese Interpretationen hängen häufig mit Erwartungen zusammen – und diese Erwartungen haben auch mit Erfahrungen zu tun. Wir alle haben im Laufe unseres Lebens Erfahrungen mit Kommunikationssituationen gemacht und auf Basis dieser Erfahrungen handeln wir in vielen Situationen intuitiv. Die Erfahrungen und die Intuition, die darauf basiert, bestimmen sowohl unser eigenes Handeln als auch unsere Interpretationen des Verhaltens anderer.

Solche intuitiven Interpretationen erfassen aber oft nur einen Teil einer Situation – und die Schlüsse, die jemand aus dem kommunikativen Verhalten anderer zieht, sind auch nicht immer treffsicher. So glaubt etwa Mark Twains „Yankee aus Connecticut“, er sei in einer „Irrenanstalt“ gelandet, als er sich plötzlich im England des 6. Jahrhunderts wiederfindet. Das zweite Kapitel des Romans beginnt mit der folgenden Szene:

KING ARTHUR’S COURT

The moment I got a chance I slipped aside privately and touched an ancient common looking man on the shoulder and said, in an insinuating, confidential way:

„Friend, do me a kindness. Do you belong to the asylum, or are you just on a visit or something like that?“

He looked me over stupidly, and said:

„Marry, fair sir, me seemeth—“

„That will do,“ I said; „I reckon you are a patient.“

Der Mann aus dem 6. Jahrhundert wird vom „Yankee“ aus dem 20. Jahrhundert über seine Art und Weise zu kommunizieren als „Patient“ klassifiziert. (Die Übersetzerin Lore Krüger gibt seine Wortwahl auf Deutsch wieder mit „Wahrlich, edler Herr, mich däucht …“) Wer so kommuniziert, kann nicht geistig gesund sein, schließt der Ich-Erzähler. Selbst den Blick seines Kommunikationspartners deutet er als „stupid“. Der Ich-Erzähler interpretiert das Verhalten des Mannes auf Basis seiner Erfahrungen – und diese neue Erfahrung kann er nicht gut einordnen. Die Kommunikationssituation unterscheidet sich stark von den gewohnten, und die Ausdrucksweise ist nach Ansicht des Ich-Erzählers nicht normal.

Aber was ist normal? In Kommunikationssituationen empfinden wir häufig das Gewohnte als „normal“. Das, was bereits aus früheren Situationen in ähnlicher Form bekannt ist, was sich offensichtlich bewährt hat und deshalb immer wieder in ähnlicher Form vollzogen wird.

Kommunikatives Verhalten ist allerdings immer in einem Kontext zu sehen. Ohne den Kontext lässt sich nicht gut verstehen, was warum auf welche Weise kommuniziert wird. Das sehen wir im Beispiel von Mark Twain.

Auch im folgenden Beispiel hilft der Kontext dabei, die Kommunikation einordnen zu können. Das Bild zeigt eine Handlungsanweisung auf der Tür-Innenseite einer Toilettenkabine in einem „westlichen“ Kaufhaus in Shanghai.

Abb. 11:

Handlungsanweisung in einer Toilette in Shanghai (Foto: SD)

Hier ist es nützlich zu wissen, dass in Shanghai Hocktoiletten weitaus verbreiteter sind als Sitztoiletten – und von vielen auch als hygienischer empfunden werden, was wiederum eine Motivation dafür darstellen kann, die Sitztoilette ebenfalls als Hocktoilette zu verwenden. Die Kaufhausverwaltung sieht hier nun Kommunikationsbedarf und möchte jenen, die Sitztoiletten in Hocktoiletten „umfunktionieren“, vermitteln, dass dieses Verhalten nicht erwünscht ist. Hier kommt eine weitere Dimension ins Spiel: die Intention, die Absicht bzw. der Zweck, den die Kommunikation verfolgt, also das, was durch die Kommunikation erreicht werden soll. Die Mitteilung der Kaufhausverwaltung folgt einer klaren Intention. Kommunikation ist aber nicht immer so eindeutig einer bestimmten Intention zuzuordnen. Darauf werden wir später noch zurückkommen.

Neben Kontext, Rahmenbedingungen und möglichen Intentionen ist auch die Rolle, die jemand in der Kommunikation einnimmt, eine wichtige Dimension der Kommunikationssituation. Und Kommunikationsrollen hängen wiederum mit der Beziehung der Kommunikationspartner*innen zusammen. Die Kaufhausverwaltung kommuniziert in einer anderen Rolle als die Journalistin oder die Wissenschaftlerin – oder die Frauen im informellen Gespräch untereinander.

Wir haben nun also gesehen, dass Kommunikationssituationen durch unterschiedliche Dimensionen beschrieben werden können – und dass diese Dimensionen nicht nur mitbestimmen, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird – und was nicht. Was kann in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt werden und muss nicht gesagt werden? Was gilt als bekannt? Und welchen Zweck soll die Kommunikation erfüllen, welche Intention steckt dahinter? Steckt überhaupt eine bewusste Intention dahinter?

Um nachvollziehen und verstehen zu können, warum jemand in einer Situation was und wie kommuniziert, müssen wir also einiges über die Situation wissen, in der diese Person agiert.