Transkulturelle Kommunikation

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Auf den Punkt gebracht

1 Kommunikationssituationen werden durch mehrere Dimensionen bestimmt.

2 Zu diesen Dimensionen gehören Rahmenbedingungen (wie räumliche, zeitliche und soziale Nähe und Distanz), Medien, Adressat*innen, Kontexte, Intentionen und Kommunikationsrollen.

3 Vorwissen und Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation.

4 Neue Kommunikationssituationen werden auf Basis früherer Erfahrungen mit Kommunikation interpretiert.

5 Die Kommunikationssituation und die Beziehung zwischen den Kommunikationspartner*innen bestimmen nicht nur mit, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird.

Zum Weiterdenken und Vertiefen

1 Denken Sie an einen Insider*innen-Witz oder Gag in Ihrem Freund*innenkreis oder in Ihrer Familie. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihn einer Person erklären, die sie zum ersten Mal in Ihrem Leben sehen. Wie weit müssten Sie dabei ausholen? Welche Informationen müssten Sie mitliefern?

2 Machen Sie einen Spaziergang in Ihrer Umgebung und achten Sie bewusst auf Gebots- und Verbotsschilder: Was wird kommuniziert? Und wie? In welchem Kontext sind diese Gebote und Verbote zu sehen?

3 Stellen Sie sich vor, Mark Twains „Yankee aus Connecticut“ landet auf seiner Zeitreise im April 2020 und begegnet einigen Menschen, die ihm aus dem Weg gehen und Atemschutzmasken tragen. Wie würde er reagieren? Entwerfen Sie einen kurzen Dialog!

3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz

Die Art und Weise, wie Sprache verwendet wird, spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation. In der zitierten Szene in Mark Twains Roman spricht der Mann aus dem 6. Jahrhundert ein altertümliches Englisch und wird dadurch vom Ich-Erzähler als „Patient“ einer „Anstalt“ klassifiziert. Sprachverwendung – und damit auch Sprachkompetenz – ist also ein wichtiger Faktor in der Kommunikation, sowohl produktiv, also wenn wir Texte verfassen (beim Sprechen oder Schreiben), als auch rezeptiv, also wenn wir Texte verstehen wollen (beim Hören oder Lesen). Sprachkompetenz ist aber nicht der einzige Faktor. Denn wie wir gesehen haben, findet Kommunikation in konkreten Situationen statt, die auch in ein soziales Umfeld eingebettet sind. Und diese Situationen bestimmen mit, was und wie kommuniziert wird.

Mark Twains Ich-Erzähler weiß (noch) nicht, dass er eine Zeitreise ins 6. Jahrhundert gemacht hat – und er zieht deshalb falsche Schlüsse aus der Situation. Dies führt zu einem Vorurteil: Jemand verhält sich anders als gewohnt und der Ich-Erzähler hält ihn deshalb vorschnell für nicht gesund, „nicht normal“. Genau genommen weiß der Ich-Erzähler aber nur zu wenig über den Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet. Er verfügt zwar über ausreichend Sprachkompetenz, um zu verstehen, was der Mann aus dem 6. Jahrhundert ihm sagt, kann die Form „seemeth“ vielleicht sogar ungefähr historisch einordnen und weiß, dass es nicht besonders üblich ist, im 20. Jahrhundert so zu sprechen. Hätte er gewusst, dass er im 6. Jahrhundert gelandet ist, hätte er die Ausdrucksweise des Mannes sicherlich anders interpretiert – und wohl selbst von vornherein eine andere Frage gestellt.

Es zeigt sich also, dass Kommunikationskompetenz etwas anderes ist als Sprachkompetenz. Mit Sprachkompetenz ist gemeint, dass jemand eine Einzelsprache wie etwa Deutsch, Tschechisch oder Portugiesisch auf einem bestimmten Niveau beherrscht. Niveaustufen – für Fremdsprachenkenntnisse – wurden im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen beschrieben und standardisiert (mit den Niveaubeschreibungen für A1, A2, B1, B2, C1 und C2). Sprachbeherrschung hilft dabei, Äußerungen zu verstehen und zu produzieren, Kommunikationskompetenz verweist aber noch auf anderes: nämlich auf die Fähigkeit, sich in der Mehrdimensionalität von Kommunikationssituationen zurechtzufinden, Äußerungen von anderen vor diesem Hintergrund zu verstehen und einordnen zu können und auch selbst funktionierende Äußerungen in einem Kontext produzieren zu können. Damit dies in einer bestimmten Sprache klappt, braucht man allerdings auch Sprachkompetenz.

Sprachen stellen wir uns manchmal als abstrakte Systeme vor, die einfach da sind und die Mittel bereitstellen, die wir in der Kommunikation dann verwenden. Das ist aber genau genommen eine konstruierte Vorstellung, denn in der Realität kommt Sprache immer in ganz konkreten Verwendungssituationen vor. Der Soziolinguist Alastair Pennycook nennt dies Language Practice, auf Deutsch ist oft von Sprachpraxis und Sprachpraxen die Rede. Damit wird betont, dass Sprache eng mit sozialen Kontexten verwoben ist. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine bestimmte Ausdrucksweise in einem Unternehmen. Dabei gibt es, zumeist bezogen auf übliche Arbeitsabläufe, Übereinkünfte darüber, was bestimmte Begriffe bedeuten, die von Außenstehenden nicht oder nur zum Teil verstanden werden. Manche dieser Begriffe beziehen sich auf Produkte und werden mit steigender Bekanntheit des Unternehmens auch größeren Gesellschaftsschichten geläufig. So können Sie sich wahrscheinlich von einem IVAR-Regal oder von einem iPad eine ziemlich genaue Vorstellung machen. Ikea und Apple haben es mit ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrer Marktpräsenz geschafft, einige ihrer Produktnamen so bekannt zu machen, dass sie im allgemeinen Sprachgebrauch verständlich sind.

Was hat dies nun mit Sprach- und Kommunikationskompetenz zu tun? Sprachkompetenz bedeutet, dass wir sprachliche Mittel kennen und benutzen können.

Kommunikationskompetenz geht darüber hinaus: Wir müssen auch wissen, in welchen Situationen welche sprachlichen Mittel verwendet werden – und welche Aussagen damit transportiert werden sollen.

Stellen Sie sich vor, jemand sitzt mit Freund*innen beim Essen und sagt: „Würde es Ihre unendliche Güte erlauben, mir die Butter zu reichen?“ Das ist ein völlig korrekter deutscher Satz. Wahrscheinlich wäre er in der Kommunikationssituation dennoch deplatziert. Vielleicht aber auch nicht: Vielleicht soll durch die übertriebene „geschraubte“ Höflichkeit ironisch Ungeduld ausgedrückt werden – oder es ist ein Insider*innen-Gag, der sich auf etwas gemeinsam Erlebtes bezieht. Ob eine Äußerung in einer Situation passend oder unpassend formuliert ist, können wir nur einschätzen, wenn wir mehr über die Situation wissen.

In diesem Sinne bedeutet Kommunikationskompetenz die Fähigkeit, eine Kommunikationssituation realistisch einzuschätzen und dabei die Dimensionen zu berücksichtigen, die in der jeweiligen Kommunikationssituation besonders wichtig sind.

Manche Kommunikationssituationen sind Routine, andere nicht. In vertrauten Kommunikationssituationen im Alltag ist Sprach- und Kommunikationspraxis häufig ritualisiert und automatisiert, und dadurch (intuitiv) an konkrete sprachliche Mittel geknüpft. Wenn wir „Guten Morgen“ oder „Auf Wiedersehen“ sagen, denken wir in der Regel nicht viel darüber nach, was in genau dieser aktuellen Kommunikationssituation angebracht ist. Schwieriger wird es in Kommunikationssituationen, in denen wir noch keine oder kaum Erfahrungen haben oder die zwischenmenschlich „heikel“ sind.

Es gibt also immer wieder Situationen, über die wir viel nachdenken – und auch Situationen, für die wir uns die nötigen sprachlichen Mittel noch nicht angeeignet haben. Der Soziolinguist Jan Blommaert spricht in diesem Zusammenhang von Truncated Repertoires. Repertoire bezeichnet die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die wir kennen. „Truncated“ kann übersetzt werden mit „verkürzt“, „beschränkt“ oder „angeschnitten“, verweist also darauf, dass etwas nicht vollständig ist. Mit Truncated Repertoires sind also unvollständige sprachliche Repertoires gemeint. Blommaert meint dies aber nicht abwertend, sondern betont, dass wir in keiner Sprache alle Elemente kennen – weil wir gar nicht alle brauchen.

Wir verfügen in der Regel über jene sprachlichen Mittel, denen wir in konkreter Sprachpraxis („Language Practice“) begegnet sind und die wir auch selbst anwenden. Damit sind die sprachlichen Mittel häufig mit bestimmten Kommunikationssituationen verbunden, in denen sie immer wieder verwendet werden, weil sie da gut funktionieren. „Truncated“ ist aber auch verwandt mit „trunk“, was Rumpf, aber auch Stamm, Baumstamm bedeuten kann. Aus diesem Stamm heraus können immer wieder neue Äste wachsen: Wir können unser sprachliches Repertoire ein Leben lang erweitern. In diesem Sinne lassen sich die „Truncated Repertoires“ als ein Grundstock an sprachlichen Mitteln begreifen, auf dem wir aufbauen können.

Wir haben gesehen, dass Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz nicht gleichzusetzen sind – aber sie hängen zusammen: Sprachpraxis ist an Kommunikationssituationen gebunden. Und auch die Auseinandersetzung mit der Wirkung von sprachlichen Ausdrucksmitteln ist an einer Schnittstelle von Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz zu sehen. Dazu gehört der Umgang mit bestimmten grammatischen oder lexikalischen Formen, mit rhetorischen Figuren und sprachlichen Bildern. Sprachliche Elemente haben nicht nur eine Bedeutung (Denotation), sondern sie lösen auch bestimmte Vorstellungen aus, die mitgemeint sind (Konnotationen). Die Sprachwissenschaftlerin Kirsten Adamzik veranschaulicht das anhand eines Beispiels: Die Begriffe „Baby“, „Säugling“ oder „Wickelkind“ bezeichnen vielleicht jeweils dasselbe Kind, betrachten es aber aus unterschiedlichen Perspektiven: Baby bezieht sich vor allem auf das geringe Lebensalter, Säugling auf den Umstand, dass das Kind Muttermilch trinkt, und Wickelkind darauf, dass es gewickelt werden muss.

 

Stilmittel, sprachliche Bilder und Konnotationen können bewusst eingesetzt werden, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Das kann auch eine emotionale Wirkung sein. Nicht zuletzt darauf beruht die Macht der Sprache, die für Propaganda und Manipulation missbraucht werden kann, wurde – und wird.

Ein Sprachwissenschaftler, der sich damit intensiv auseinandergesetzt hat, ist Victor Klemperer: Er war in der Zwischenkriegszeit Professor für Romanistik an der Technischen Hochschule Dresden. Unter dem NS-Regime verlor er seine Stelle, wurde als Jude verfolgt, konnte sich aber immer wieder verstecken und untertauchen (unter anderem im Chaos nach den Luftangriffen auf Dresden) und so in Deutschland überleben. In seinen Tagebüchern analysiert er die Sprachverwendung im Dritten Reich, die „Lingua Tertii Imperii“, kurz: LTI. Die Analyse wird ihm zur „Balancierstange“, die ihm hilft, durch die schrecklichen Zeiten zu kommen. Er beobachtet scharfsinnig, wie eine bestimmte Form der Sprachverwendung die öffentliche Meinung regelrecht vergiftet und dadurch die NS-Diktatur stützt:

Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? [D]er Nazismus ging in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden. […] Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. […] Die nazistische Sprache […] ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, […] in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel. (Klemperer 1975:25f)

Die Macht der Sprache zeigt sich darin, dass durch bestimmte Begriffe bestimmte Assoziationen ausgelöst und Deutungsrahmen aufgerufen werden. Dadurch können die Einstellungen von Menschen beeinflusst werden. Das kommt nicht nur in Diktaturen vor, sondern auch in der Demokratie. Es ist nicht auf die NS-Zeit beschränkt, sondern heute immer noch aktuell – und wird auch anhand von aktuellen Beispielen erforscht: Dies tun zum Beispiel der Sprachwissenschaftler George Lakoff und die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Das Phänomen, dass bestimmte sprachliche Elemente bestimmte Vorstellungen auslösen, nennen sie Framing.

Begriffe werden durch diese Vorstellungen bewusst „eingerahmt“, es wird ein Deutungsrahmen aufgerufen, in den Informationen eingeordnet werden. So macht es zum Beispiel einen Unterschied, ob von „Nichtraucherschutz“ und „guter Luft in Gasträumen“ gesprochen wird – oder von „militantem Rauchverbot“.

Assoziationen und Deutungsrahmen sind häufig mit Emotionen verknüpft. Dies wird in der Kommunikation bewusst genützt: In der Werbung wird typischerweise versucht, positive Emotionen oder Sehnsüchte zu wecken. Das Steuern von Deutungsrahmen ist aber eben auch ein Teil von Propaganda und Manipulation. In jüngerer Zeit wurde politisches Framing und das potentielle „Gift“, das darin stecken kann, unter anderem im Zusammenhang mit dem Migrations- und Fluchtdiskurs untersucht: Elisabeth Wehling bringt dafür die Beispiele „Flüchtlingskrise“, „Flüchtlingswelle“ oder gar „Flüchtlingstsunami“. Diese Begriffe lösen Konnotationen aus, die Angst machen – und zwar nicht Angst vor dem Krieg oder den Katastrophen, die die Flucht ausgelöst haben, sondern Angst vor den geflüchteten Menschen. Umgekehrt löst ein Begriff wie „Steueroase“ erfreuliche Vorstellungen von einem schönen, üppigen, grünen Ort aus – und nicht etwa die Vorstellung von Betrug an der Allgemeinheit.

Sprachliche Manipulation im Alltag und in unterschiedlichen Kommunikationssituationen zu durchschauen und ihr nicht auf den Leim zu gehen, ist eine Frage von Sprach- und Kommunikationskompetenz. Dazu gehört auch, „giftige“ Begriffe und Bilder zu erkennen und sie nicht unabsichtlich weiterzutragen.

Deutungsrahmen an sich sind weder gut noch schlecht, sie gehören zur Kommunikation dazu. Wir brauchen Deutungsrahmen, um uns in Aussagen und Texten zurechtzufinden. Kommunikationskompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang, zu verstehen, wie Deutungen konstruiert werden und welche Rolle sprachliche Mittel dabei spielen. Sensibilität für die Wirkung von Sprache zu entwickeln, ist schon ein erster Schritt hin zu professioneller Kommunikation.

Auf den Punkt gebracht

1 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz unterscheiden sich voneinander.

2 Bei Sprachkompetenz geht es um die Beherrschung von Sprachen (auf einem bestimmten Niveau), Kommunikationskompetenz bedeutet hingegen, Kommunikationssituationen in ihrer Mehrdimensionalität realistisch einschätzen zu können und das eigene kommunikative Verhalten auf die Situation auszurichten.

3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz hängen zusammen.

4 Sprachverwendung ist an konkrete Kommunikationssituationen geknüpft.

5 An der Schnittstelle von Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz geht es um die ästhetische und emotionale Wirkmacht von Sprache.

Zum Weiterdenken und Vertiefen

1 Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie eine Kommunikationssituation falsch eingeschätzt und deshalb jemanden irritiert haben oder selbst irritiert waren.a. Skizzieren Sie die Kommunikationssituation und überlegen Sie, welche Informationen über den Kontext Ihnen oder Ihren Kommunikationspartner*innen möglicherweise gefehlt haben. Erzählen Sie die Szene jemandem oder schreiben Sie sie auf.b. Konnten Sie das Missverständnis klären? Wenn ja, wie? Wenn nicht, was könnten Sie tun, wenn Ihnen etwas Ähnliches wieder passiert?

2 Lesen Sie bewusst einige Schlagzeilen oder Postings in seriösen Zeitungen, in Boulevardblättern und auf Social-Media-Plattformen: Überlegen Sie, welche Assoziationen bestimmte Begriffe oder Schlagzeilen bei Ihnen wecken und welche Deutungsrahmen sich auftun.a. Welche emotionalen Reaktionen merken Sie dabei an sich selbst?b. Versuchen Sie, die Stellen umzuformulieren, um andere Reaktionen auszulösen.

4 Professionelle Kommunikation: Was ist das?

Wir haben festgestellt, dass alle Menschen nicht nur kommunizieren können, sondern kommunizieren müssen.

Warum sollten wir dann Kommunikation studieren, erforschen oder analysieren? Wozu gibt es Kommunikationstheorien, wenn wir ohnehin alle die Praxis beherrschen?

Nun, viele wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit einer Praxis, die alle Menschen grundsätzlich „können“: Die Anatomie untersucht, wie der menschliche Körper strukturiert ist und wie er funktioniert. Die Musikwissenschaft versucht unter anderem, zu erklären, welche Funktion die Musik in der Gesellschaft erfüllt und wie Menschen Musik produzieren, wie wir auf Musik reagieren und warum Musik überall auf der Welt zu finden ist. Ebenso untersucht die Sprachwissenschaft die Struktur und Funktion der Sprache, also wie und warum wir sprechen sowie die sozio-politische Einbettung des Sprachgebrauchs und vieles mehr.

Wir sehen bereits, dass es bei den oben erwähnten Wissenschaften nicht in erster Linie darum geht, eine bestimmte Handlung oder Praxis zu verbessern; es geht vor allem darum, diese zu erklären.

Genauer gesagt versuchen die Wissenschaften, real vorhandene Phänomene – also alle möglichen Dinge, die es in der Welt gibt – zu erklären. Diese Erklärungsversuche, die wir auch Theorien nennen, entstammen dem bereits erwähnten Bedürfnis, die Welt um uns zu verstehen. In dem Sinne ist auch Wissenschaft eine Form von Kommunikation.

Wissenschaftler*innen teilen der Gesellschaft (und einander) mit, wie sie etwas verstehen. Sie stellen zum Beispiel fest, dass die Entwicklung der Feinmotorik mit der kindlichen Sprachentwicklung zusammenhängt oder dass das Gehirn eine ständige Sauerstoffzufuhr braucht.

Da Wissenschaft einen Verstehensversuch darstellt, kommt es manchmal auch zum Missverstehen, also zu einer falschen Erkenntnis. Man meint, etwas verstanden zu haben und stellt später fest, dass man sich geirrt hat. Oder andere weisen darauf hin, dass etwas nicht stimmt. Wie in jeder anderen Kommunikation kommt es in der Wissenschaft oft zu Meinungsverschiedenheiten. Zum Beispiel darüber, welche Regionen im Gehirn für die Sprachverarbeitung zuständig sind bzw. ob man überhaupt spezifische Regionen dafür identifizieren kann.

Früher war die vorherrschende wissenschaftliche Meinung, dass die Gehirne von „Frauen“ kleiner seien als die von „Männern“ und daher weniger leistungsfähig. Inzwischen hat man festgestellt, dass die Größe des Gehirns von Mensch zu Mensch verschieden ist und bei der Hirnleistung die Qualität ohnehin nicht von der Quantität abhängt.

Auch in der Wissenschaft werden also Phänomene, Dinge, Handlungen wahrgenommen und interpretiert.

Was hat das alles mit uns zu tun?

Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Kommunikation (wie zum Beispiel in Universitätsstudien, die sich mit Kommunikation, Marketing und/oder Translation beschäftigen) versucht eben, zu verstehen und zu erklären, wie und warum Menschen miteinander kommunizieren. Auch hier gilt die Annahme: Wenn ich etwas verstehe, kenne ich mich einigermaßen aus.

Wir wollen also unser eigenes Kommunikationsprofil und das Verhalten anderer Menschen verstehen, um besser damit umgehen zu können. Wir wollen aus unserem „intuitiven“ Wissen um Kommunikation ein bewusstes, reflektiertes Know-how entwickeln, das auch beruflich eingesetzt werden kann. Diese Expertise kann dann anderen Menschen helfen, Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden, problematische Situationen zu bewältigen oder die eigene Interaktion zu analysieren und zu steuern. In welchen Berufen und Bereichen ein solches Know-how zum Einsatz kommen könnte, werden wir später diskutieren (siehe Kapitel 5).

In der kritischen Auseinandersetzung mit Kommunikation lernen Sie also auf der Basis von wissenschaftlichen Theorien (Erklärungsversuchen), wie die menschliche (Transkulturelle) Kommunikation abläuft. Sie lernen dies nicht nur, um es besser zu können, sondern um zu erkennen, was Sie (und andere) tun, wenn Sie kommunizieren.

Denn erst wenn wir wissen, was wir tun, sind wir in der Lage, darüber zu sprechen und es anderen mitzuteilen.

Unser kommunikationsrelevantes Wissen ist, wie so vieles, das wir wissen, unbewusst, unreflektiert und unausgesprochen. Wir wissen zum Beispiel, „ohne es zu wissen“, was in den folgenden drei Bildern passiert.


Abb. 12: Mann und Baby (Foto: pexels.com, CC0) Der Mann „sagt“ dem Baby (und auch uns) durch seine Körpersprache, dass er es lieb hat.


Abb. 13: Mann und Frau auf einer Bank (Foto: pixabay) Die Frau auf der Bank ist verärgert und wendet sich vom Mann ab. Aufgrund ihrer Körperhaltung und Gesichtsausdrücke gehen wir davon aus, dass der Mann und die Frau in einer engeren Beziehung zueinander stehen.


Abb. 14: Mädchen (Foto: pexels.com, CC0) Das Mädchen ist traurig.

Das Wissen, das dabei aktiviert wird, nennen wir implizites Wissen. Es hat noch nicht die Ebene des Bewusstseins erreicht und es würde uns schwerfallen, zu artikulieren, woher wir dieses Wissen haben. „Das weiß man einfach.“

 

Wenn wir aber beruflich für andere Menschen und mit anderen Menschen kommunizieren wollen, sollten wir bewusst wissen, was wir tun. Schließlich wird uns niemand für eine Arbeit bezahlen wollen, die wir nur „dem Gefühl nach“ verrichten.

Durch ein einschlägiges Studium und/oder gezielte Reflexion lernen Sie, über dieses implizite Wissen, das Sie im Alltag einsetzen, „ohne es zu wissen“, bewusst nachzudenken und es auch zu artikulieren. Es geht also darum, dieses implizite Wissen eben explizit zu machen.

„Explizit“, aus dem lateinischen explicare (erklären), bedeutet „ausdrücklich“ oder „deutlich“. Explizites Wissen ist also ein Wissen, über das wir sprechen können, das wir erklären können und das wir daher auch anderen mitteilen können. Wenn eine Tischlerin erklären kann, welches Holz für ein bestimmtes Möbelstück am besten geeignet ist, drückt sie ein Wissen aus, das sie vermutlich in langjähriger Erfahrung entwickelt hat, ohne unbedingt viel darüber nachgedacht zu haben. Wer ihr aber einen Auftrag erteilt, möchte wissen, warum gerade dieses Holz und nicht jenes. Menschen wollen meistens verstehen, warum eine Arbeit so und nicht anders ausgeführt wird. Durch das Explizitmachen ihres über Jahre entwickelten fachlichen Know-hows ist die Tischlerin imstande, die Gründe ihrer Entscheidungen oder Empfehlungen zu erklären. Anders gesagt: Das Nachdenken über das eigene Tun ermöglicht eine effiziente Kommunikation.

Professionelle Kommunikation ist also eine Kommunikation, die bewusst und zielgerichtet ist. Wir wissen, was wir kommunizieren wollen. Eben das ist der Unterschied zwischen professioneller und nicht professioneller Kommunikation: Die Fähigkeit, Kommunikationssituationen analysieren, steuern und gestalten zu können.

Wenn wir Kommunikation studieren und auch zum Beruf machen wollen, gibt es zwei Ebenen, auf denen wir professionelles Kommunizieren zum Einsatz bringen müssen.

Eine Ebene ist die Arbeit, mit der wir beauftragt werden, zum Beispiel eine (internationale) Marketing-Kampagne, eine Übersetzung, ein journalistischer Text, eine Website-Gestaltung, eine Kommunikationsberatung, eine Simultandolmetschung oder eine Presseaussendung. Es liegt auf der Hand, dass wir eine solche Arbeit nur dann zufriedenstellend erledigen können, wenn wir in der Lage sind, die gesamte Kommunikationssituation zu erfassen und zu analysieren. Wir müssen also die Fähigkeit entwickelt haben, die kommunikativen Bedürfnisse der Auftraggeber*innen und anderer Zielgruppen zu analysieren und zu berücksichtigen. Wir müssen natürlich auch wissen, wie wir diesen Bedürfnissen entsprechen können.

Ein Beispiel: Sie wollen sich für eine Stelle oder ein Studium in Japan bewerben. Sie sollen ein Motivationsschreiben sowie einen Lebenslauf in englischer und japanischer Sprache einsenden und beauftragen eine Übersetzungsagentur mit der Übersetzung ins Japanische. Sie müssen sich darauf verlassen, dass der*die Übersetzer*in nicht nur „Japanisch kann“, sondern wirklich versteht, was er*sie schreibt. Als professionelle*r Kommunikationsexpert*in muss er*sie wissen, dass jedes Wort, jedes Schriftzeichen, das Layout etc. Wirkung auf den Gesamteindruck hat, und auch, wie diese auf die Personen wirken werden, die den Text voraussichtlich lesen werden. Als Auftraggeber*in verlassen Sie sich darauf: Sie vertrauen auf die Expertise eines professionell handelnden Menschen. Sie verlassen sich auch darauf, dass der*die Übersetzer*in versteht, welche Wirkung Sie erzielen wollen. Nur wer Kommunikation analysiert und reflektiert, kann sie auch zielgerichtet steuern und gestalten.

Ein anderes Beispiel: Sie lesen in einer deutschsprachigen Zeitung eine Reportage über steigende Mieten und Immobilieninvestments in Berlin. Dabei möchten Sie sich darauf verlassen können, dass sich der*die Journalist*in wirklich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, vor Ort war, mit Mieter*innen, Vermieter*innen und Investor*innen gesprochen und zudem Hintergrundrecherchen angestellt hat. Und Sie möchten einen Text lesen, der interessant geschrieben ist und als Reportage erkennbar ist, damit Sie seinen Informationsgehalt einschätzen können. Sie erwarten dabei also seriösen, professionellen Journalismus, auf allen Ebenen.

Ein drittes Beispiel: Sie sind als Kommunikationsberater*in für ein internationales Unternehmen tätig, das seinen Hauptsitz auf Grund der Entwicklungen rund um den Brexit von London nach Hamburg verlegt. Sie erhalten den Auftrag, diesen Schritt zu begleiten und zu unterstützen und die Mitarbeiter*innen zu briefen: Was müssen sie bei einer Verlegung nach Deutschland beachten? Welche Behördengänge sind nötig, wie kann sich das Unternehmen gut in der Stadt positionieren? Wie lässt sich diese Verlegung für Marketingzwecke nützen, wie das Image des Unternehmens positiv beeinflussen? Welche Maßnahmen sind nötig, um diese Ziele zu erreichen? Bei einer solchen komplexen Aufgabe müssen Sie unterschiedliche Kommunikationssituationen mit verschiedenen Kommunikationspartner*innen einschätzen können und eine Reihe unterschiedlicher Ziele erreichen. Ihre Auftraggeber*innen erwarten von Ihnen, dass Sie Ihre Expertise dafür effektiv einsetzen.

Mit unserer fachlichen Expertise als Kommunikationsexpert*innen müssen wir also sicherstellen, dass unsere Arbeit den Qualitätskriterien entspricht, die von Auftraggeber*innen und anderen Zielgruppen (zum Beispiel den Rezipient*innen unserer Texte) an sie angelegt werden. Diese fachliche Expertise ist aber nur eine – wenn auch wichtige – Ebene unserer professionellen Kommunikation.

Die zweite Ebene betrifft das Vertrauen, das Auftraggeber*innen uns entgegenbringen müssen. Sie werden sich nur dann auf uns verlassen wollen, wenn wir durch den eigenen Kommunikationsstil den Eindruck vermitteln, professionell kommunizieren zu können.

Im Journalismus zum Beispiel ist es wichtig, dass wir uns präzise und elegant ausdrücken können, dass unsere Texte angenehm zu lesen sind. Wenn wir uns im Kontakt mit Auftraggeber*innen mündlich unklar und unprofessionell ausdrücken, dann ist es wahrscheinlich, dass sie uns nicht zutrauen, schriftlich klar und professionell texten zu können.

Beim Übersetzen und Dolmetschen zum Beispiel kommunizieren wir im Namen unserer Auftraggeber*innen. Wir sprechen oder schreiben für sie. Meistens können sie nicht kontrollieren, was wir sprechen oder schreiben, weil ihnen die Sprache nicht bekannt ist. Und auch wenn sie die Sprache können, werden sie nicht gelernt haben, die anderen wichtigen Dimensionen eines Kommunikationsaktes zu analysieren oder zu bewerten, wie diese wirken.

Auch wenn wir zum Beispiel eine Kommunikationsberatung anbieten, übernehmen wir die Kommunikation für andere in dem Sinne, dass wir Empfehlungen unterbreiten, wie sie sich verhalten sollen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Auch hier geht es um Vertrauen. Wir sagen: Tu dies, sag jenes, verhalte dich so und du wirst die kommunikative Wirkung erreichen, die du anstrebst.

Dabei ist es notwendig, nicht nur über ein tiefes und nuanciertes Wissen zu verfügen: Wir müssen auch selbst, in unserem eigenen, individuellen Verhalten zeigen, dass unser Wissen „stimmt“.

Das gilt für persönliche Begegnungen ebenso wie für die digitale Welt. Wenn wir uns in Online-Meetings zudem in unserem eigenen Zuhause zeigen – müssen wir sehr genau überlegen, was davon wir Fremde sehen lassen möchten und was nicht, wie wir uns an unserem Arbeitsplatz präsentieren und was wir dadurch für einen Eindruck hinterlassen.

Die Personen, für die wir arbeiten, haben uns ihre Kommunikation anvertraut oder vertrauen uns, dass wir sie zielführend beraten. Wir wollen also zeigen, dass wir diesem Vertrauen gewachsen sind. Das tun wir, indem wir unsere eigene Kommunikation professionell gestalten – nach dem Motto: What you see is what you get.

Würden Sie ein Make-over akzeptieren von jemandem, der selbst ungepflegt ist? Oder hätten Sie Vertrauen zu einer Zahnärztin, die selbst schlechte Zähne hat? Der eigene Kommunikationsstil ist die erste Garantie dafür, dass wir Kommunikation ernstnehmen.