Roter Mond

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»Solange du im gebärfähigen Alter bist, wird dein Rhythmus dein Begleiter sein. Manchmal wird er mit dem Mondzyklus übereinstimmen, manchmal wird er länger, manchmal kürzer sein. Du wirst bei Vollmond bluten und vielleicht zuweilen bei Neumond. Alles das ist natürlich. Du bist dein eigener Rhythmus und es ist dein eigener Zyklus, den du verstehen und akzeptieren musst. Alle Frauen sind durch die Geschichte hindurch über die Rhythmen des Mondes miteinander verbunden.« Wieder fühlte Eva diese Schwesternschaft mit den Frauen prähistorischer Zeiten und ihrer Verbindung zum Mond, die sie in ihrem eigenen Körper trug.

»Wozu brauchen wir Uhren«, dachte sie, »wenn wir mit den Rhythmen und Mustern der Erde und des Universums verwoben sind?«

Sie verspürte einen Schmerz in ihrem Finger. Sie hatte sich an einem Dorn gestochen, und ein kleiner hellroter Blutstropfen quoll hervor. Die Herrin des Mondes nahm ihre Hand und tupfte mit einem weißen Taschentuch das Blut sorgsam weg. Sie nahm die Rose mit dem dornigen Stängel und umwickelte ihn behutsam mit dem blutigen Taschentuch. Dann küsste sie Eva sanft auf die Wange und lächelte.

»Du wirst noch mehreren meiner Schwestern begegnen, aber erst musst du dich ausruhen.«

Eva wollte schon protestieren und erklären, dass sie gar nicht müde sei, als sie von einer Welle der Lethargie überströmt wurde und sie sich des Gähnens nicht mehr erwehren konnte. Noch immer lächelnd führte sie die Herrin des Mondes zu einem moosbewachsenen Fleck am Fuße einer riesigen Eiche. Eva rollte sich zwischen den Wurzeln zusammen, gab der plötzlichen Müdigkeit nach und ließ zu, dass sich ihre Augen langsam schlossen, wobei sie noch einen Moment innehielt, um die das Mondlicht spiegelnden Brombeerblüten zu betrachten.

Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Eva setzte sich auf und gähnte. Sie fühlte sich erfrischt und glücklich. Sie lehnte sich gegen den Fuß einer hohen Zypresse, die auf einem sandig-goldfarbenen Fels wuchs. Um sie herum erstreckte sich ein mit Pinien, Birken, Zypressen und Olivenbäumen bestandenes Gelände, und in der Ferne konnte sie ein Stückchen tiefblaues Meer erkennen. Eine Hand umfasste plötzlich die ihre, zog Eva hoch und veranlasste sie zu einem leichten Laufschritt. Die Hand gehörte einem griechischen Mädchen, nicht viel älter als sie selbst. Sein lockiges Haar hatte es mit einem Tuch hochgebunden. Seine Haut war rein und glatt, und es hatte schön geformte Gesichtszüge. Es trug eine kurze Tunika aus einem weichen Stoff, die von goldenen Zickzackbändern über der Brust zusammengehalten wurde, und weiche Ledersandalen mit kniehoch geschnürten Riemen. In der anderen Hand hielt es einen kleinen silbernen Bogen, und um seine Schultern schlang sich ein lederner Köcher.

Schließlich wach geworden, passte Eva sich der raschen Gangart des Mädchens an und genoss die Schönheit dieser freien Bewegungen. Als sie so im Sonnenschein dahinrannten, merkte Eva, dass sie nicht ohne Begleitung waren. Aus den Augenwinkeln nahm sie die rennenden Gestalten eines Rehs und eines Hirschs, eines Hasen, einer Wildziege und einer Bärin wahr. Plötzlich brach eine Löwin aus ihrem Versteck hervor, und schloss sich, sich ihrer Geschwindigkeit anpassend, ihrem Lauf durch die Wälder an. Im gesprenkelten Sonnenlicht wurde das lohfarbene Tier zu einem Strahl flüssigen Lichts und in seinen Augen brannte ein goldenes Feuer.

Eva hatte das Gefühl, ewig so dahinrennen zu können, aber schließlich tauchten sie aus den Bäumen auf und kamen an einem grasbedeckten Abhang zum Stehen, der sich in eine staubfarbene Ebene hinabsenkte. Im Hitzeschleier konnte sie eine kleine, das gleißende Sonnenlicht widerspiegelnde Bucht erkennen. Müde, aber nicht erschöpft, setzte sie sich nieder und streckte die Beine aus. Das Mädchen schloss sich ihr an, und die Löwin ließ sich anmutig zu ihren Füßen nieder.

»Ich bin Artemis, die Herrin des Schimmernden Bogens«, sagte das Mädchen und warf den Kopf zurück. »Ich bin eine der Jungfrauengöttinnen.«

Eva sah, dass sie an einem ledernen Halsband einen kleinen geschnitzten Phallus trug.

»Über Jungfrauengöttinnen ist viel geschrieben worden, und viele Erwartungen haben sich mit der Jungfräulichkeit verbunden.« Sie hielt inne, beugte sich herüber und berührte Evas Bauch. »Du bist eine Jungfrau im modernen Sinn des Wortes, während ich eine Jungfrau in einem älteren Sinn bin. Ich bin eine Frau, die nur sich selbst gehört. Ich bin eigenständig, unabhängig und selbstbewusst. Ich feiere das Leben in meinen Handlungen; ich bin ein in mir geeintes vollständiges Wesen. Ich repräsentiere die Zeit, bevor das Ei in den Zyklus entlassen wird. Ich bin nicht gebärfähig und der Schöpfung von Leben nicht anheimgegeben. Ich bin ich selbst, und meine Energien gehören mir.«

Artemis berührte den Phallus an ihrem Halsband und grinste. »Ich bin keine Anhängerin des Zölibats. Ich genieße die Sexualität meines Körpers und bin vollständig, ohne das Bedürfnis nach einer Ehe oder einem Kind zu haben.«

Sie standen auf und machten sich auf den Weg zurück zu den Bäumen.

»Jeden Monat wirst du eine Phase der Wiedergeburt durchlaufen. Nach deiner Blutung wirst du gleichsam wieder jungfräulich. Im alten Griechenland gab es Zeremonien, bei denen die Frauen am Ende ihrer Mondblutung ihr blutiges Leinen wuschen und ihre Wiedergeburt als vollständige und ganzheitliche Frau feierten. Das ist die Zeit, in der du deine Gedanken sammeln, klare Entscheidungen treffen und danach handeln sollst. Du bist voller Selbstvertrauen, bist dir deiner selbst gewiss, dir deines Körpers und seiner Bedürfnisse bewusst. Manche Männer empfinden diese Phase als Bedrohung und betrachten diese Eigenschaften als ›männlich‹, aber sie sind ebenso Teil des Weiblichseins wie die Fürsorglichkeit und das Umsorgen. Sie sind ein Geschenk. Nutze sie gut.«

Eva fühlte es in ihrem Bauch warm werden, während Artemis sprach. Ein Feuer durchlief ihren Körper und weckte in ihr das Bedürfnis, wieder loszurennen. Aber sie hielt inne. »Was geschieht, wenn du älter bist und keinen Zyklus mehr hast?«, fragte sie.

»Dann wirst du wieder wie eine Jungfrau. Das ist die Zeit, in der die Frau ihr Leben betrachten und, wenn sie es nicht schon getan hat, ihren inneren Weg akzeptieren und gehen soll. Ich bin nicht diejenige, die dich dies schon zu lehren hat. Es gibt noch viele Dinge, die du lernen musst, bevor du dieses Lebensstadium erreichst.«

Sie gingen noch ein Weilchen in einträchtigem Schweigen nebeneinander her, aber als Eva sich wieder an die Göttin wenden wollte, fand sie sich allein. Sie blickte sich um und stellte fest, dass nicht nur die Göttin, sondern auch die Wälder und Hügel verschwunden waren. Sie stand nun zwischen den regelmäßigen und gutgepflegten Baumreihen eines Olivenhains. Die Bäume säumten den Rand einer Klippe, und Eva sah, wie das tiefe Blau des Meeres gegen die weißen Felsen anbrandete. Unter den Bäumen kam langsam eine Frau auf sie zu. Eva fragte sich, ob sie wohl eine weitere Schwester der Herrin des Mondes war, und musterte sie sorgfältig.

Die Frau war groß gewachsen und elegant, hatte ausdrucksstarke Gesichtszüge und durchdringende, intelligente Augen. Ihr Haar war zurückgekämmt und mit goldenen Haarnadeln festgesteckt. Im Gegensatz zum weichen Stoffgewand von Artemis trug sie einen Stufenrock aus weißem Leinen und feinem goldenem Tuch, gestärkt durch verschlungene Stickereien und am Rande mit Quasten versehen. Über der Schulter trug sie ein schneeweißes Ziegenfell, das von zwei schlangenköpfigen Spangen zusammengehalten wurde. Auf dieses glatte Fell war ein rotgoldenes Antlitz mit Schlangenhaaren eingestickt, und der Rand war mit goldenen Schlangen verziert. In der rechten Hand trug sie einen langen Speer mit einer bronzenen Spitze, und ihre Füße steckten in einfachen geflochtenen Sandalen.

Die Hitze der Mittagssonne sandte Wellen durch die Luft, und die glanzvolle Dame lud Eva ein, sich zu ihr in den willkommenen Schatten eines kleinen Olivenhains zu gesellen. Unter dem Baum standen ein einfacher Altar und ein steinerner Sitz. Die Dame setzte sich und bedeutete Eva, sich auf dem Boden zu ihren Füßen niederzulassen. Einen Moment lang hielt ihr intensiver Blick Eva in seinem Bann, dann begann sie zu sprechen.

»Ich bin Athene, die ewig jungfräuliche Göttin, das Feuer, das die Weisheit der Frauen erschafft.« Athene nahm Evas Hand.


»Die schöpferischen Energien deines Zyklus sind nicht nur zum Gebären von Kindern da, sondern auch für die Geburt von geistigen Kindern.« Sie berührte Evas Stirn. »Du bringst den Funken des Lebens hervor, du trägst ihn in deinem Körper, nährst ihn und lässt ihn wachsen, bis du ihn zur Welt bringst. Kinder treten aus dem Mutterschoß in diese Welt ein, geistige Kinder gelangen durch deinen Körper, deine Hände und Füße, deine Stimme in diese Welt.« Sie küsste Evas Hände, als wollte sie ihr ihre Ehrerbietung erweisen. »Eine Frau, die keine Kinder hat, ist keine unvollständige oder unnatürliche Frau, ihre Kinder sind ihre Ideen, die sie in sich trägt, und sie gebärt sie durch die Form, die sie ihnen in der materiellen Welt verleiht.«

»Woher kommen diese geistigen Kinder?«, fragte Eva verwirrt.

»Deine Sexualität weckt die Energien, die die Samen der Inspiration säen. Der sexuelle Akt kann sowohl physische wie auch geistige Kinder erschaffen und das Feuer sein, das die Malerin, Dichterin, Musikerin, Seherin zu ihrem Schaffen drängt. Der sexuelle Akt ist etwas Heiliges, er bringt das Göttliche in die Welt.«

Eva spürte, wie ihre Finger danach verlangten, etwas zu erschaffen, wie sie warm wurden und zu pulsieren anfingen. »Wie sehen diese geistigen Kinder aus?«, fragte sie.

 

»Geistige Kinder können jede Form annehmen. Es spielt keine Rolle, wie du den Ideen Ausdruck verleihst oder was du oder andere Menschen von diesem fertigen Kind halten. Die Formung, der Werdensprozess des Kindes ist wichtig, nicht das Kind an sich. Das ist wie bei einem physischen Kind. Deinem Herzen, deinem Innersten wird Gestalt verliehen, und manchmal kann sich die Meinung anderer Leute wie ein Angriff auf deine Seele anfühlen, doch dem Kind muss erlaubt sein, in der materiellen Welt auf seine eigene Weise zu wachsen. Das Erschaffen kann wie eine Meditation oder ein Gebet sein. Im Schöpfungsakt, nicht im Erschaffenen spiegelt sich das Göttliche. Anders als bei den Tieren ist die Sexualität der Frauen nicht nur einfach mit dem Erschaffen der Kinder verknüpft, sondern ihre Energien werden durch ihren menstruellen Zyklus während des ganzen Monats freigesetzt. Das ist die Weisheit der Frauen. Aus dieser Weisheit entsteht die Fähigkeit, das Leben immer wieder zu verbessern, strukturierende Beziehungen und Gemeinschaften aufzubauen und die Beziehung zwischen der Menschheit und der Natur zum Ausdruck zu bringen.«

Athene beugte sich hinunter und hob eine Münze auf, die verloren im Staub vor dem Altar lag. Sie reichte sie Eva, die den Dreck abkratzte, um sie zu betrachten. Die Münze war klein, massiv und aus mattem Silber. Auf der einen Seite war das Bild einer Eule eingeprägt, auf der anderen ein Bild der Göttin im Helm, der mit einem Pferdeschwanz versehen war.

»Die Münze symbolisiert die Energien und Mächte, über die ich verfüge«, sagte Athene.

Eva sah verdutzt hoch. »Aber ich dachte, Geld sei von Übel und der Grund für alle Probleme in dieser Welt.«

Athene lachte. »Was brauchst du, damit eine Münze existieren kann?« fragte sie. »Du brauchst eine kunstfertige Person, deren Geist und Hände geschickt genug sind, um einen Gegenstand von solcher Schönheit herzustellen.«

Sie nahm die Münze und hielt sie hoch. »Die Münze braucht käufliche Dinge, also erschaffen die Menschen aus ihrem Geist heraus Gegenstände, die schön und praktisch sind. Die Münze braucht einen Wert, also erschaffen die Menschen unter sich eine Struktur dafür. Mit der Münze entstehen Verteilung und Handel, und wo sich Güter und Münze begegnen, da entwickeln sich Märkte. Aus den Märkten entstehen Gemeinden, und daraus entwickeln sich Städte und Reiche mit Strukturen, Gesetzen und Möglichkeiten des Lernens und der Zusammenarbeit. Die Münze ist ein Symbol für die Fähigkeit, in das Leben Ordnung zu bringen, Strukturen zu erschaffen und Instinkte und Energien zu kanalisieren. Sie ist ein Symbol der Zivilisation.« Die Münze blinkte im Sonnenlicht. »Die Münze ist nichts Böses, und meine Energien sind es auch nicht. Inspiration, Klarheit des Geistes und Organisation sind Energien, zu denen alle Frauen durch ihren menstruellen Zyklus Zugang haben.«

Wieder blitzte die Münze auf, und diesmal sah Eva auf die Stadt des alten Athen hinab. Sie entdeckte die Energiewellen der Göttin in den verschlungenen Mustern, die eine Töpferin einer Amphore aufmalte, in der Kunstfertigkeit eines Goldschmieds, der an einem edelsteinbesetzten Pokal arbeitete, in der Geschicklichkeit eines Webers, der an einer Straßenecke mit einem Händler verhandelte, und in der Urteilskraft und Ratgebung, die in Gerichtsräumen des Regierungssitzes zur Anwendung kamen. Als Eva aufblickte, erhob sich die Gestalt der Athene hoch in den Himmel, überragte die Stadt. In der rechten Hand hielt sie einen Speer, in der linken einen riesigen goldenen Schild, und ein glänzender goldener Helm zierte ihr Haupt. Im Licht der untergehenden Sonne verwandelte sich Athenes Haut in strahlendes Licht, und zu ihren Füßen wuchs ein dunkelgrüner Olivenbaum aus dem kahlen weißen Fels, auf dem sie stand. Die Göttin richtete ihren Blick aus eulengleichen Augen auf Eva, die wie gebannt dastand, bog sich ein wenig nach hinten, die Muskeln ihres machtvollen Armes spannten sich, und mit ungeheurer Kraft schleuderte sie ihren Speer. Ein feuriger Kometenstrahl schoss über den Himmel auf Eva zu.

Eva spürte, wie dieses Licht sie brausend erfasste, und überall um sie herum aus der Luft wirbelnde Blätter spann. In diesem Licht sah sie die ersten Siedlungen aus dem Staub erstehen, aufblühen und gedeihen und das Universum sich in den ersten Kunstformen spiegeln. Das Licht flackerte, und sie sah die Ordnung der Gesellschaft, den Webstuhl und das Gewebe der Gesetze, Lehren, Beurteilungen und Künste. Die Stadt pulsierte vor Begeisterung, in ihr loderte die Energie der Göttin. Eva spürte, wie die Gegenwart dieser Energie weiß und rein aus dem Dunkel in ihrem Innern aufstieg. Vertrauensvoll ließ sie ihre Zweifel und Ängste fahren und öffnete sich voll und ganz dieser Macht. Einen Augenblick lang fühlte sie sich aufgehoben in der Schwebe der Zeit, und dann kehrte die Welt zurück in einem Bombardement scharf umrissener Einzelheiten und leuchtender Farben. Jede Gestalt, jeder Stoff, jeder Ton und jede Form sandte Wellen von Ideen, Verbindungen und Mustern aus, die lawinengleich ihr Bewusstsein durchrauschten, bis sie in einer Kaskade von Dichtung und Weissagung ihren Lippen entströmten. So plötzlich, wie sie dahergekommen war, endete die Lawine, und Eva fühlte sich bis auf den Grund leer und erschöpft, das Feuer in ihr war erloschen, doch im Inneren spürte sie Frieden, vor ihr der noch bebende Speer, der sich in die Erde gebohrt hatte.

Nach einer kurzen Erholungspause stand Eva langsam auf. Doch als sie nach dem Speer greifen wollte, wurden sowohl sie wie auch Athenes Waffe von machtvollen Armen gepackt und samt und sonders hinten in einen dahinrasenden, weidengeflochtenen Streitwagen verfrachtet. Rötlich glänzendes hüftlanges Haar wehte vom Haupt der Wagenlenkerin, die die beiden Pferde zu noch rascherer Gangart antrieb. Angstvoll und entzückt zugleich bestaunte Eva die Geschicklichkeit und Stärke dieser Frau, die da groß und stolz im dahinstürmenden Wagen stand und mühelos ihr Gleichgewicht hielt. Sie trug eine aus vielen Farben gewebte Tunika und einen wild flatternden Schulterumhang, den eine große Spange zusammenhielt. Um ihren Hals trug sie einen riesigen Torques aus gedrehten Goldfäden, der im Sonnenlicht glänzte. Ihre Haut war bronzefarben, und in ihren Augen sprühte ein Feuer. Ihre Hände, die die Zügel mit wohl bemessener Stärke hielten, waren rau und wettergegerbt. Unter den Hufen der Pferde blitzte die Landschaft auf; den einen Augenblick flogen sie über braune Ebenen dahin, den nächsten durcheilten sie das gesprenkelte Grün eines Eichenwaldes. Die Geschwindigkeit zerrte an Evas Haar, aus ihrer Kehle löste sich ein Schrei der Begeisterung. Sie fühlte sich stärker als jemals zuvor, ihr Verstand war scharf und hell, und die Kraft, die sie durchströmte, gab ihr das Gefühl, alles erreichen zu können. Sie war frei, unabhängig, eine Löwin mit der Kraft zu kämpfen und zu beschützen.

Gerade als Eva glaubte, vor Erregung platzen zu müssen, verlangsamte die Frau die Fahrt und ließ die Pferde in sanftem Gang durch den Schatten eines Waldes trotten. Es umgab sie eine Atmosphäre kühler, grüner Stille, aber die Erregung und Begeisterung sang noch immer in Evas Blut. Lachend hob die Frau sie aus dem Wagen und setzte sie im Gras ab.

»Ich heiße Boadicea, ich bin die Königin der Iceni«, sagte sie mit tiefer und kraftvoller Stimme. »Ich kämpfe, um zu beschützen und zu dienen, nie um zu zerstören. Ich bin der wahre Sieg, die Gebieterin des Friedens. Ich setze mich für andere und deren Anliegen ein und erhalte dieses Engagement aufrecht.«

Die Königin stieg von ihrem Wagen und schritt auf eines ihrer Pferde zu. Sie überprüfte das Zaumzeug und sagte: »In keltischen Zeiten wurde die Frau respektiert. Sie hatte ihr eigenes Land und ihre eigene Macht und wurde für ihre Urteilskraft und das, was sie in die Gemeinschaft einbringen konnte, geachtet. Es waren die Frauen, die ihre Krieger in Aktion treten ließen, und es waren auch die Frauen, die den Frieden aushandelten. Sie waren die Macht hinter ihrem Stamm und ihren Männern.« Liebevoll tätschelte sie den Hals des Pferdes.

»Du erfährst nun die Stärke des Frauseins, die ausstrahlende Dynamik der lichten Phasen, aber später wirst du den Verlust dieser Energie erfahren, wenn sie in Dunkelheit verwandelt wird. Blick nicht zurück, und sehne dich nicht nach dem Licht, denn sonst verpasst du die Geschenke der Dunkelheit. Schau in die Dunkelheit hinein, akzeptiere ihre Kräfte, und sieh das Licht, das aus ihr erwächst.«

Die Königin wandte sich um und sprang mit der Anmut eines Rehs auf ihren Wagen. Sie hob die Arme zu einem Lebewohl, ließ die Zügel gegen die Rücken der Pferde klatschen und hieß sie sich in Bewegung setzen. Der Wagen zischte in einem Aufblitzen des Sonnenlichts über den Wald dahin, bis er zu einem Lichtpunkt in der Ferne wurde. Eva winkte stürmisch, sah wie die kleine silhouettenhafte Gestalt der Königin sich umwandte und noch einmal winkte, bevor sie verschwand und das Tageslicht mit sich nahm. Eva blieb zurück, die Arme noch erhoben, ein Ruf auf ihren Lippen. Langsam ließ sie die Arme sinken und eine leichte Traurigkeit überkam sie; sie hatte Boadicea sehr gemocht.

Wieder einmal stand Eva im mondbeschienenen Wald, und neben ihr stand ruhig die Herrin des Mondes. Gemeinsam gingen die beiden nun schweigend weiter durch den Wald, bis sich in Eva die Energie der Fahrt mit Boadicea in ein intensives Gefühl der ruhigen Zuversicht, des Selbstvertrauens und der Harmonie verwandelt hatte.

Die Herrin des Mondes führte sie hinaus zu einer Lichtung, in deren Mitte ein wunderschöner Baum mit einem rosasilbrigen Stamm stand. Der Stamm teilte sich in zwei ausladende Äste mit Zweigen, an denen eine Fülle roter Früchte hing. Der Vollmond schien in seinen oberen Zweigen zu ruhen, und sein Licht spiegelte sich in einem Teich mit dunkelblauem Wasser, das die kleine Insel umgab, auf der der Baum wuchs. Verschlungene Wurzeln rankten sich aus dem Erdreich hinab ins Wasser des Teiches.

»Dies ist dein Baum des Schoßes«, sagte die Herrin des Mondes und berührte Evas Bauch knapp unter dem Nabel. Eva spürte, wie in Reaktion auf diese Berührung der Bereich um ihre Gebärmutter zunehmend warm wurde. Und ebenso reagierte auch der Baum des Schoßes darauf und glühte vor Energie. »Der Wasserteich ist dein Unterbewusstsein, und die Wurzeln des Baumes des Schoßes reichen weit hinunter in seine Tiefe. Dein Bewusstsein und dein Leib sind miteinander verbunden, und was sich in deinem Bewusstsein abspielt, spiegelt sich in deinem körperlichen Innern wider.«

Eva fühlte sich in Frieden und Harmonie mit dem Baum und zu ihm hingezogen. Sie ging zum Rand des Wassers, sah in die Zweige, wollte sie berühren. Die Blätter des Baumes, dessen Zweige über den Teich hinüberreichten, raschelten und flüsterten ihren Namen.

»Eva, Eva«, sagten sie, »pflück eine Frucht von deinem Baum.«

Sie langte zu einem Zweig hinauf, der tief über dem Wasser hing, doch dann stockte ihr der Atem, und sie zog rasch die Hand zurück. Zwischen den Blättern und Früchten lag zusammengerollt eine kleine goldgrüne Schlange. Sie hob ihren dreieckförmigen Kopf und zischte.


»Ich bin die Hüterin des Baumes.« Ihre kleinen Augen blinkten im Mondlicht wie Edelsteine. »Wenn du dir diese Frucht nimmst, wirst du zur Frau werden und alle Kräfte erben, die das Frausein mit sich bringt. Du wirst mit dem Zyklus des Mondes bluten; du wirst zyklisch werden, nie unveränderlich sein, dich immer mit den Phasen des Mondes wandeln. In deinem Körper werden die Kräfte der Schöpfung und der Zerstörung erwachsen, und intuitiv wirst du in dir ein Wissen über die inneren Mysterien bewahren. Dein Leben wird zu einem Weg zwischen zwei Welten, der inneren und der äußeren Welt, und jede wird Forderungen an dich stellen. Alle Gaben des Frauseins müssen akzeptiert und geachtet werden; wenn nicht, können sie dich zerstören.« Die Schlange entrollte sich. »Es ist nicht leicht, dieses Geschenk anzunehmen; es wäre sehr viel leichter, ein Kind zu bleiben.«

Eva hielt inne, reichte dann spontan hinauf und pflückte eine Frucht. Da schoss die Schlange, noch bevor Eva reagieren konnte, auf sie zu und glitt in ihren Körper hinein bis hinunter zu ihrem Bauch. Sie fühlte eine Wärme zwischen ihren Beinen, und ein Regenbogen an pulsierenden Energien quoll wie Wasser aus ihrer Vagina hervor. Diese Energien strömten aus ihrem Körper, berührten ihren Kopf, ihre Kehle, ihre Hände und Füße. In ihrem Innern hörte sie einen einzigen Ton widerhallen, der von ihren Füßen aufstieg und ihren ganzen Körper mit Klang erfüllte. Sie spürte, wie diese Energie sich außerhalb ihres Körpers ausdehnte, alles berührte und sie eins mit der Schöpfung werden ließ. Gleichsam in einem Schwebezustand wurde sie zum Angelpunkt zwischen dieser Energie und der sie umgebenden Welt. Sie hob die Arme hoch über den Kopf und schrie in reinem Entzücken, entließ die Energie in die Welt, schickte sie in Form von Tönen spiralförmig nach oben. Und sie spürte mit ungeheurer Gelassenheit, wie diese Energie in ihr schlafend ruhte, und merkte, dass sie die Fähigkeit besaß, sie willentlich wieder zu erwecken. Sie blickte an sich hinab und sah die Schlange in ihrem Körper unterhalb des Bauches zusammengerollt liegen. Sie wandte sich um und fand die Herrin des Mondes neben ihr stehen.

 

»Du hast dich nun der Kräfte des Frauseins bemächtigt. Wenn du mehr Erfahrungen mit deinem Zyklus gemacht hast, wirst du herausfinden müssen, wie du diese Energien am besten in deinem Leben nutzen kannst. Aber bei dieser Suche bist du nicht allein. Da sind jene im Innern, die dich während deines ganzen menstruellen Lebens führen und unterstützen werden. Es gibt noch viele weitere Dinge, die meine Schwestern und ich dir in dieser Nacht zeigen werden und die dir helfen werden, dieses Geschenk zu nutzen. Berühre noch einmal deinen Baum.«

Eva reichte zum Baum hinauf und berührte sanft einen Zweig. Als ob diese Berührung eine Tür geöffnet hätte, tat sich im Baumstamm ein großer blutrot ausgekleideter Spalt auf. Darin stand eine nackte Frau mit geschlossenen Augen, und ihr lockiges kastanienbraunes Haar bildete Kapillaren in der Auskleidung des Baumes. Eva spürte, wie sich der Baum in ihr bewegte, um sich mit ihrem Schoß zu vereinen. In ihrem Innern fühlte sie, dass die Baumwurzeln sie mit ihrem Schoß verbanden und dass der Mond sowohl in ihrem Geist wie auch in den Zweigen ihres Schoßes ruhte. Die Frucht in ihrer Hand löste sich langsam in nichts auf, und sie stand allein auf der dunklen Lichtung.

Ihre Blicke wurden von etwas, das weiß aufblitzte, angezogen, und Eva nahm einen großen weißen Hasen vor sich wahr. Der von seinem Fell ausgehende Glanz erhellte die Lichtung mit einem sanften silbrigen Licht. Dunkle Augen voller Sterne und Wissen blickten zu ihr auf, und Eva bemerkte, dass er ein schmales, mit roten Edelsteinen besetztes Halsband trug. Und ebenso bemerkte sie im vom Fell des Hasen ausgehenden Licht, dass die Lichtung nicht mehr leer, sondern mit allen möglichen Tieren erfüllt war, die sie schweigend beobachteten. Ihre Schönheit und Kraft nahmen ihr den Atem; jedes Tier strahlte Anmut und Intelligenz aus, und alle waren sie von diesem weichen Licht in Weiß getaucht. Dunkle Augen funkelten voller Humor, und Eva fühlte sich ohne Angst von ihnen angezogen, so, als ob sie sie schon seit sehr langer Zeit kenne. Unter ihnen sah sie einen riesigen und machtvollen Stier, ein wildes Pferd mit rauem Fell, ein silbern schimmerndes Einhorn, eine weiße Taube, eine kleine grüne Schlange und einen wunderschönen Schmetterling. Die meisten Tiere schienen in irgendeiner Form Schmuck zu tragen oder hatten ein Geschenk oder einen Gegenstand bei sich. Eva wusste, dass sie ihr antworten würden, wenn sie sie ansprach. Der Hase sprang hinüber und ließ sich furchtlos zwischen zwei Löwinnen nieder. Ein Gefühl der Liebe und des Verstehens verband alle Tiere mit diesem Hasen, der nun Eva ebenfalls in seinen Bann zog.

»Das sind die Mondtiere«, sagte der Hase, und seine Stimme war so weich und silbrig wie sein Fell. »Sie bergen die Mysterien des Mondes in sich und bringen Botschaften aus deiner inneren Welt. Sie leben in deinen Träumen und in den Reichen der Feen und Elfen, in denen sprechende Tiere zu magischen Wundern und Quellen uralter Weisheit führen.«

Eine schneeweiße Eule flog herbei und landete mit einem Rauschen dicht neben Eva. Sie wandte ihr ihr Gesicht zu und in ihren Augen fand sie alles Wissen der Zeit.

»Sie bieten Führung und Rat an, denn sie bewahren das instinktive Wissen deines Zyklus. Sie bringen Anmut und Harmonie mit sich, die daraus entstehen, dass du in Einklang mit deiner wahren Natur lebst. Ein Mondtier kann in deinen Träumen deinen Eisprung oder deine Blutung ankündigen oder dir Träume bringen, deren Bilder dich zu deinem Zyklus führen und dir helfen, eine bewusste Verbindung mit deinen eigenen Rhythmen aufrechtzuerhalten. Erinnere dich an diese Träume, bringe sie in dein Leben im Wachzustand ein. Erinnere dich vor allem in dieser Nacht an deine Träume, denn ein Tier, von dem du zum Zeitpunkt deiner ersten Blutung träumst, kann dein ganzes Leben lang eine besondere Beziehung zu dir haben.«

Eva schien es, dass der Hase lächelte, während er sprach. Das Tier wandte sich um und hoppelte dann sehr langsam auf Eva zu, wobei es sorgsam etwas im Mund trug. Es ließ das Geschenk vor Evas Füßen fallen und setzte sich dann auf seine Hinterläufe. Eva sah ein kleines weißes Ei, das in ein hellrotes Band eingewickelt war. Als sie es aufhob, spürte sie eine große Liebe in ihrem Innern, die in ihr das Verlangen weckte, sich um alle ihre Mitmenschen zu kümmern. Ein Seufzer durchlief alle Tiere.

»Dies ist dein erstes Ei, deine Zeit des Eisprungs«, sagte der Hase. »Die Kräfte und Energien, die du als Jungfrau verspürtest, sind nun zu denen der Mutter herangereift. Vergeude diese Energien nicht. In der Vergangenheit wurden Frauen als starke und dynamische Wesen anerkannt, wie sie auch für ihre Kraft, Sorge zu tragen und zu nähren, geachtet wurden. Die Energien zum Zeitpunkt des Eisprungs sind anders. Sie vertiefen sich zu einem Ausdruck, der über deine eigene Person hinausgeht. Du wirst dich der tieferen Ebene deiner selbst bewusst und deiner Fähigkeit, selbstlos zu lieben und Fürsorge zu tragen. Zu diesem Zeitpunkt spiegelt dein schöpferisches Verlangen deine Umwelt wider.

Eva fühlte, wie die Ruhe der Lichtung sie überströmte, und wurde sich des Vollmondes bewusst, der in ihrem Geist wie auch in ihrem Schoß schien, aber auch am Nachthimmel. Sie fühlte sich in Harmonie mit dem Mond und allem, was sie umgab, und erfuhr ein Gefühl von Stärke, die sie dazu befähigte, anderen zu geben im Wissen, dass sie sie nähren und erhalten konnte. Ihre ganze Seele schien durch ihr Herz, ihre Augen und Hände zu scheinen.

»Zu dieser Zeit des Lichts wirst du vielleicht von Eiern oder Mondtieren träumen. Erinnere dich an diese Träume, und erkenne, dass sie deinen Eisprung ankündigen.«

Der Hase drehte sich um und entfernte sich hoppelnd ein wenig von ihr, um dann innezuhalten, als wollte er Eva einladen, ihm zu folgen. Nach einem Moment des Zögerns schloss sie sich ihm an, und die Mondtiere entschwanden ihrem Blick. Dunkelheit senkte sich wieder über die Lichtung.

Der Hase führte Eva durch den Wald zu einer sonnenbeschienenen Wiese. Der Duft von Wiesenblumen hing in der Luft, und alles pulsierte mit der Energie des Lebens. Eva wanderte durch das kniehohe Gras und merkte, dass es nur so vor Bienen und anderen Insekten wimmelte, die die Blumen aufsuchten. Riesige Margeriten wandten ihre Köpfe der Sonne zu, und Mohnblumen sprenkelten die Wiese mit leuchtendem Rot. Eva blieb stehen und atmete das sie umgebende Elixier des Lebens ein, sie wollte bleiben und die Schönheit genießen.

Doch der Hase drängte Eva ungeduldig weiter und führte sie zu einem grasbedeckten Hügel in der Mitte der Wiese. Am Fuße des Hügels führte eine Reihe von weißen Steinen ins Innere der Erde. Der Hase blieb stehen, seine Vorderläufe ruhten auf der obersten Stufe. Aus irgendeinem Grund war Eva unbehaglich zumute, trotzdem stieg sie etwas nervös die Treppe hinunter.

Nach dreizehn Stufen unten angekommen, fand sich Eva in einem Bogengang wieder, der von einer einzigen, in einer Halterung an der Wand steckenden Fackel erleuchtet wurde. Am anderen Ende des Bogengangs hing ein schöner grüner Vorhang, auf den alle möglichen Tiere, Vögel und Pflanzen aufgestickt waren. Im Scheitelpunkt des steinernen Bogengangs inmitten aller möglichen verschlungenen, die Motive des Vorhangs wiederholenden, eingemeißelten Figuren befand sich eine schalenförmige Höhlung. Behutsam schob Eva den Vorhang beiseite und betrat einen dämmrigen, kuppelförmigen und völlig runden Raum. Ein roter Teppich zog sich vor Eva über den Steinboden bis zu einem Podest auf der anderen Seite des Raumes. In seiner Mitte stand ein steinerner Thron mit einem dunkelroten Kissen, und zu beiden Seiten des Podestes befand sich je ein weiterer Bogengang, der mit einfachen roten und schwarzen Vorhängen verhängt war. Einer dieser Vorhänge wurde nun beiseitegeschoben, und eine Dame betrat den Raum.