Roter Mond

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Sie war groß, dunkelhaarig, hatte dunkle Augen, ein eher kantiges Gesicht und einen üppigen, sinnlichen Mund. Sie trug ein leuchtend rotes und tief ausgeschnittenes Gewand, das sich eng über ihre Brüste und Hüften spannte und dann in weiten Falten bis zum Boden fiel. Um ihre Hüften schlang sich ein goldbestickter Gürtel, und beim Gehen schwang sie ihren Körper rhythmisch hin und her. Eine Aura von Macht, von Sexualität, Hunger und Dunkelheit umgab sie. In ihren Augen glomm ein Versprechen. Eva war unbehaglich zumute, diese Frau ängstigte und faszinierte sie zugleich.


»Komm!«, sagte die Rote Herrin mit scharfer und herrischer Stimme. Sie ging durch den Bogengang, durch den sie gerade gekommen war, hielt den Vorhang auf und bedeutete Eva, hindurchzugehen. Drinnen war alles dunkel. Eva trat ein, wandte sich dann rasch um und konnte kein Licht von draußen hereindringen sehen. Ihre anfängliche Furcht wurde rasch von Müdigkeit und Lethargie abgelöst; die Dunkelheit war warm und tröstlich, und Eva hatte nicht den Wunsch, sich zu bewegen oder irgendetwas zu tun. Es irritierte sie allmählich, dass die Rote Herrin sie in der Dunkelheit allein gelassen hatte, und aus dieser Irritation wurde rasch Verärgerung und Frustration. Eva fühlte ihr Gesicht heiß werden und ihre Körpermuskeln verspannten sich.

Ganz allmählich wurde der Raum um Eva heller, bis er schließlich in ein hartes glänzendes Licht getaucht war. Die Rote Herrin stand vor Eva und hielt ihr einen großen hohen Spiegel vor.

»Wo bist du gewesen? Ich habe auf dich gewartet!«, fuhr Eva sie an und bedauerte sogleich, so unhöflich und aggressiv gewesen zu sein.

»Schau«, sagte die Rote Herrin und deutete auf den Spiegel. Eva trat vor, um besser zu sehen, und sah ein nacktes Spiegelbild von sich selbst. Verwirrt betrachtete sie diese Gestalt sehr sorgsam, denn obwohl es sich zweifellos um ihr Spiegelbild handelte, stimmte daran etwas nicht. Ihr Haar war glatt und fettig, ihr Gesicht fleckig und ihre Brüste und ihr Bauch waren schmerzhaft geschwollen. Eva wurde bei dieser Betrachtung allmählich schwindlig; sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich so mies, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen und sie ihr Gesicht in den Händen verbarg.

»Was ist mit mir passiert?«, rief sie. »Ich sehe schrecklich aus. Ich hasse dich.«

Die Stimme der Roten Herrin drang durch ihr Selbstmitleid. »Schau noch einmal hin«, sagte sie scharf, »diesmal mit deinem inneren Selbst.«

Das Licht war nun weicher geworden, und Eva blickte zaghaft auf. Im schummrigen Licht sah sie ihre Brüste glänzend und rund wie Vollmonde. Ihr Bauch wölbte sich wie die Hügel der Erde, und diese weiblichen Körperrundungen gaben ihr ein Gefühl von Sinnlichkeit. Sie betastete ihren Körper, lehnte ihn nun nicht mehr ab, sondern öffnete sich der Veränderung, die in ihm vorgegangen war. Sie entsann sich der Bilder, die sie von uralten Göttinnen gesehen hatte, mit vollen Brüsten und runden Bäuchen, und fühlte, wie ein Annehmen dieser Gestalt sie überströmte. Ihr Haar war von strahlendem gesundem Glanz, ihre Haut leuchtete schimmernd, wie sie im Spiegel sah.


»Betrachte deinen Schoß«, sagte die Rote Herrin mit sanfter Stimme.

Im Spiegel sah Eva ihren Baum des Schoßes. Der Baum war prall und rot und pulsierte vor Energie inmitten einer mit Wasser gefüllten Kugel. Eva spürte, wie die Energie sie ins Innere zog, und wurde plötzlich hineingesogen. Dunkelheit umfloss sie wie Wasser, und sie hatte das Gefühl, hinunterzugießen durch düstere Tiefen eines Sees. Von oben sickerte grünes Licht ein, und unter ihr war das Rotschwarz des Urschlamms. Langsam versank sie in diesem Schlamm, bis die rote Dunkelheit über ihrem Kopf zusammenschlug. Ein einziger Atemzug der Dunkelheit schickte einen Kraftstrom durch ihren ganzen Körper und zwang Eva zum Tanzen, und ihre Bewegungen störten um sie herum rote und schwarze Wirbel auf. Eva spürte diese Dunkelheit in ihr, als sei sie im Chaos versunken und in der Urmaterie, aus der alles Leben geboren wird und in die alles Leben zurückkehrt.

Inmitten dieses Schlammes sah sie einen Lichtschimmer, und eine Mondsichel durchdrang die Düsternis. Eva griff danach und merkte, dass das, was sie für den Mond gehalten hatte, in Wirklichkeit die Hörner eines Stierschädels waren, vom Alter weiß gebleicht.

Eva packte diese Hörner wie einen Dolch und tanzte wirbelnd in der Dunkelheit umher, bewegte sich zu ihrem eigenen Rhythmus, steigerte sich zu ihrem eigenen Crescendo der Bewegung. Energie spann sich um sie zusammen, und im völligen Überschwang sah sie Kraftlinien sich wie rote Schlangen aus ihrem Schoß herauswinden und sich in die Dunkelheit entrollen. Sie warf den Kopf zurück, das Haar flog und sie schrie vor Entzücken. Es war eine rohe wilde Kraft, sie war die Zerstörerin, die Verschlingerin. Eine Halskette aus Totenschädeln schwang um ihre Schultern und ein Gürtel aus abgeschnittenen Armen um ihre Hüften. In ihrem Tanz schnitt sie das Alte durch und erzwang gnadenlos den Wandel und die Fortdauer der Zeit.

Plötzlich dröhnte durch den suppigen Schlamm wie ein Trommelschlag ein einziger Befehl: »Steig auf!« Mit unerwarteter und ungewohnter Anmut schob sich Eva hinauf durch die Düsternis, den grünen Schatten über ihr entgegen. Sie brach durch die Wasseroberfläche und tauchte in einer riesigen dunklen Höhle auf. In deren Mitte stand eine hoch aufragende riesige Göttinnenstatue, die grob aus einem schwarzen Granit gehauen und dann poliert worden war, bis sie glänzte. Die Göttin war bis zu den Hüften im Höhlenboden eingegraben, und ein Arm streckte sich nach unten Eva entgegen, der andere erhob sich hoch in die Dunkelheit hinauf. Eva kletterte aus dem Wasser und ging ein paar Schritte auf die Statue zu. Sie sah, dass die Augen der Göttin geschlossen waren und ein einziger schwarzer Edelstein ihre Stirn über den Brauen zierte.

»Webe!« Das Wort hallte aus dem Felsgestein wider und vibrierte in Evas Körper. Plötzlich leuchtete der schwarze Edelstein in blendendem Licht auf, und Sternenfäden schossen aus den Fingerspitzen der Göttin hervor. Alle Dinge wurden von diesen Fäden berührt, verbanden und verwoben alles um Eva herum und durch sie hindurch, banden sie in das Muster ein. Unter ihren Füßen pulsierte der Machtstrom, der sich aus dem Teich ergoss. Zwischen diesen beiden Energieströmen gefangen, hob Eva ihre Arme und ließ das Feuer aus ihren Fingern entweichen. Nun nicht länger zurückgehalten schoss die Energie nach vorn und nahm die Form eines Sternenfadens an, den Eva um sich herumwob. Eins mit der Göttin lenkte sie die Energie in Schöpfung, ihr Bewusstsein dirigierte den Fluss, nahm aber keinen Einfluss auf Form oder Gestalt.

Eva erkannte, dass die Macht, zu zerstören und zu erschaffen, die gleiche war, und sie wusste, dass sie die Fähigkeit zu beidem in sich trug. In ihrer neu gewonnenen Klarheit sah sie, wie alles im Universum miteinander verbunden war, und sie wusste, dass sie, wenn sie ihre Macht in die materielle Welt leitete, ihre Fäden zu Prophezeiung, Magie, Kunst und Liebe verweben konnte. Eva stand staunend und verwundert da, ihre Energien waren ausgewogen, sie blickte hinauf zu den Galaxien und Sternen, die in der Decke der Höhle schienen.

Eine Öffnung tat sich in der Wand der Höhle auf, und eine dunkle Gestalt hob sich als Silhouette gegen das Licht ab und winkte sie zu sich. Eva durchquerte die Höhle und ging nun mit der Anmut und Sicherheit einer Frau, die sich selbst kennt, die sich akzeptiert und in der Lage ist, die Verantwortung für ihre Macht zu übernehmen. Sie ging zuversichtlichen Schrittes, sie war sich der verborgenen Seite des Lebens der Welt, die sie umgab, bewusst.

Sie durchschritt den mit einem Vorhang verhängten Bogengang und entdeckte dahinter eine lange, aus Holz errichtete Halle, in deren Mitte ein helles Feuer brannte. Hinter diesem Feuer saß auf einem hölzernen Thron eine Frau, die von Kopf bis Fuß in einen durchscheinenden roten Schleier eingehüllt war. Eva konnte durch den Stoff nur ihre Umrisse und Konturen erkennen. Sie hatte langes, schwarzes, zu großen Zöpfen geflochtenes Haar, an denen kleine goldene Äpfel hingen, ihre Haut war porzellanweiß und ihre Lippen tiefrot. Ihre im Schoß gefalteten Hände schienen lang und zart zu sein.

»Willkommen, Wanderin zwischen den Welten«, sagte die Dame. Eva hatte das Gefühl, das Rascheln von Herbstblättern in ihrer Stimme zu hören.

»Ich bin Souveränität, die Göttin des Landes.« Die Dame hob in einem Willkommensgruß die Arme unter ihrem Schleier.

»Ich sehe, dass du den Glanz des roten Schleiers trägst. Willkommen, Tochter-Priesterin.« Eva fühlte, dass diese Herrin etwas Magisches an sich hatte und sie eher in einem Schloss mit schimmernden Türmen als in einer leeren, aus Holz erbauten Halle residieren sollte.

»Sieh um dich mein Land.« Eva dehnte sich in ihrem Bewusstsein aus und sah das Land in der Halle vor ihr liegen. Lichtbahnen strahlten von jedem Punkt aus, erstreckten sich in Zickzacklinien über das ganze Land. Eva trat einen Schritt vor und bemerkte, dass ihre Bewegungen den Stoff ihres weißen Gewandes, das nun ihre Kleidung geworden war, zum Rascheln brachten. Sie ging auf das Feuer zu, und jeder ihrer Hüftschwünge veränderte das Muster der Lichtbahnen um sie herum. Die Landschaft wechselte in ihrer Jahreszeit, und sie roch den Duft des Winters. Sie sah, wie aus dem Winterdunkel das Licht des Frühlings hervorbrach, und fühlte den Fluss der Jahreszeiten rhythmisch durch ihren Körper strömen.

Eva reichte in sich selbst hinab bis zum Kern ihrer schöpferischen Energien und brachte sie mit ihrem Willen dazu, durch ihren Körper aufzusteigen. Als die Energie in ihre Finger gelangt war, hielt sie sie dort versammelt. Sie war sich des inneren Zyklus ihres Körpers und des Landes bewusst und bereit, Muster in beide der sie umgebenden Welten zu weben. Die Göttin des Landes stand auf und ging auf Eva zu, die Kraftlinien des Landes strahlten aus ihrem Körper aus, wohin sie auch in spiraligem Muster zurückkehrten. Alle anderen Herrinnen und Göttinnen, denen Eva bisher begegnet war, waren größer als sie gewesen, aber diese Dame war ungefähr in ihrer Größe, wie Eva rasch feststellte. Sie war zart und schlank, aber sie strahlte eine Majestät aus, die Eva an eine Feenkönigin denken ließ. Sie trug einen Gürtel aus feinst gewebter grüner Seide in ihren Händen, reich bestickt mit silbernen Granatäpfeln und goldenem Korn, den sie um Evas Hüfte schlang.

 

»Du bist jetzt meine Repräsentantin«, sagte sie. »Du hast die Macht, beide Welten zu sehen, die innere und die äußere. Du verfügst über die Magie, Muster und Wellen im Gewebe beider Welten zu schaffen. Du kannst das Netz der Prophezeiung, der Initiation und des Lebens selbst in Schwingung versetzen. Das ist dein Geschenk der Mond-Blutung. Du weißt instinktiv um beide Welten und kennst sie, und in der Zeit der Dunkelheit kannst du zwischen diesen Welten hin- und herwandern und Mittlerin ihrer Energien sein.

Die Frau der modernen Zeit wandert in der Welt der Wissenschaft und Technologie wie auch in der Welt der Natur und Intuition. Diese Welten sind für sich genommen keine absoluten Welten, sie sind ineinander verwoben. Für die Frau sind beide Welten gleichermaßen wirklich, und sie hat die Fähigkeit, sie in einem Bewusstseins- oder Gewahrseinsfluss auszubalancieren. Aus dieser Fähigkeit heraus sind alle Frauen weise Frauen, sind alle Frauen Priesterinnen.

Eine Frau, die sich ihres Zyklus bewusst ist, muss ihm treu sein, aber sie ist auch für den Gebrauch ihrer Energien, deren Ausdrucksformen und Auswirkungen auf andere verantwortlich. Verantwortung heißt nicht, dass sie nicht ihre Fähigkeiten nutzen soll, aber sie soll sich auch nicht hinter ihrem Menstruationszyklus verstecken oder ihn als Ausrede benutzen. Die Verantwortung, die mit diesem Geschenk einhergeht, ist groß. Es ist eine Verantwortung dir selbst gegenüber, gegenüber anderen Frauen, der Gemeinschaft, dem Land und den künftigen Generationen.«

Souveränität, die Göttin des Landes, hob die Hände zu einer Segnung. »Tanze deine Muster, webe deine Zauber, schreibe deine Gedichte, singe deine Geschichten, male deine Schönheit, gebäre deine Kinder.«

Eva fühlte sich überwältigt von Liebe zu der Dame und zum Land, und Tränen flossen aus ihren Augen. Und aus jedem blinkenden Tropfen, der zu Boden fiel, formte sich eine weiße Blüte.

Das Land und die Halle verblassten allmählich und verflüchtigten sich, und Eva stand wieder einmal in der Dunkelheit. Wieder wurde der Vorhang abrupt zur Seite gezogen, und Eva sah die Rote Herrin am Eingang zu dem kuppelförmigen Raum stehen. Eva ging hindurch und fand sich nunmehr auf der anderen Seite des Podests wieder. Sie sah die Rote Herrin an und fühlte sich von ihrer Sinnlichkeit oder verborgenen Dunkelheit in ihren Augen nicht mehr bedroht. Die Rote Herrin lächelte, als sie Evas tiefes Erkennen wahrnahm.


»Du hast nun akzeptiert, was du bist, aber nun musst du deiner Natur auch treu sein, und das ist nicht immer leicht. Der abnehmende Mond ist eine Zeit, in der du mit deinen physischen Energien zurückhaltend umgehen sollst, aber er ist auch eine Zeit starker sexueller und schöpferischer Energien. Du stellst vielleicht fest, dass du sehr deutlich sagst, was du auf dem Herzen hast, und dass du dem Profanen oder der Routine nicht mehr mit der Toleranz begegnen kannst, die du sonst während des restlichen Monats aufbringst. Das ist das Geschenk der Wahrheit, aber es kann aus Wut und Frustration entstehen, aus der Verweigerung der Möglichkeit, zu diesem Zeitpunkt deiner wahren Natur treu sein zu können. Diese Wut kann deine Energien ins Zerstörerische wenden; sie können Schmerz und Leid bereiten, anstatt dass sie für den konstruktiven und kreativen Gebrauch eingesetzt werden.

Die destruktive Seite im Wesen der Frauen wurde in früheren Zeiten anerkannt, jedoch als Teil ihrer schöpferischen Natur hingenommen. Die Frau gibt, aber sie nimmt auch. Sie ist die Linie der Kontinuität, aber sie ist auch in Zyklen aufgespalten. Sie schafft das Neue, aber sie zerstört auch das Alte. Setze deine destruktiven Energien weise ein, und vergiss nie, dass Zerstörung und Schöpfung nicht voneinander getrennt sind. Sei dir deines Zyklus und der Natur deiner Energien bewusst, du trägst die Verantwortung für deine Handlungen. Es ist leichter, dem Körper die Schuld zu geben und den Geist von ihm abzuspalten, als innerhalb des Rhythmus zu arbeiten und dein Leben entsprechend zu ändern.«

Die Rote Herrin stieg die drei Stufen zum Thron hinauf. »Du bist eine Frau. Du bist stark, weil du nicht unveränderlich bist, weil die Rhythmen des Wandels die Rhythmen des Universums sind.«

Als die Rote Herrin sich auf dem steinernen Thron niederließ, verwandelte sich ihr Aussehen; die Haut wurde blasser, das Haar heller, die Gesichtszüge sanfter und das Rot des Kleides wurde zu einem mondigen Blau. Ohne allzu überrascht zu sein, erkannte Eva die vertraute Gestalt der Herrin des Mondes.

»Ja«, antwortete die Herrin des Mondes auf Evas unausgesprochene Frage, »wir sind ein und dieselbe, haben aber unsere verschiedenen Zeiten. Während des Monats bin ich teils Herrin des Mondes, teils Rote Herrin, aber nur zu den Wendezeiten der Menstruation und des Eisprungs bin ich ganz die eine oder die andere.« Sie stand auf, stieg die Stufen hinab und bedeutete Eva, sich auf den Thron zu setzen. »Hab keine Angst«, sagte sie.

Zögernd stieg Eva die Stufen hinauf und ließ sich auf dem roten Kissen nieder. Trotz ihres gewachsenen und vertieften Bewusstseins und Verstehens war sie doch noch angespannt und saß gerade und aufrecht. Ihre Augen suchten den Blick der Herrin des Mondes. Sie merkte, wie sich ihr reines weißes Gewand allmählich veränderte. Der Saum färbte sich zartrosa, wurde dann leuchtend rot, und die Farbe stieg hoch, bis sie das ganze Kleidungsstück erfasst hatte. Innerhalb von Sekunden war Eva nun in ein blutrotes Gewand gehüllt. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Losgelöstheit, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Raum und ihrer unmittelbaren Umgebung ab. Tief im Innern der sie begrüßenden Dunkelheit wurde sie sich des Spinnennetzes bewusst, dessen Fäden sie mit der großen schwarzen Göttin verbanden. In der Tiefe ihrer selbst glaubte Eva ihre Stimme zu hören:

»Ich existiere unsichtbar in allen Dingen. Ich bin das Potenzial, die Dunkelheit des Schoßes vor der Wiedergeburt.«

Als Eva sich wieder ihrer Umwelt bewusst wurde, stand die Herrin des Mondes neben ihr. Das Bedürfnis, zu bleiben, und das Verlangen, sich nicht zu regen, waren stark. Die Herrin des Mondes half Eva auf die Füße, aber es war die Rote Herrin, die sie die Stufen hinuntergeleitete und zu einem kleinen Alkoven in der Wand führte. Eva kletterte hinauf auf eine schmale Liege, die mit weichen, dicken Fellen bedeckt war, und lag still im entschwindenden Licht und spürte, wie ihr die Fähigkeit, zu sprechen oder noch weiter nachzudenken, entglitt. Die Rote Herrin deckte sie mit einem Fell zu.

»Schlaf den Rest dieser Nacht hier im geschützten Bauch der Erde. Erinnere dich an deine Träume, vergiss nicht die, denen du begegnet bist.«

Sie beugte sich hinunter, küsste Eva und sah zu, wie sich Evas Augen schlossen und sich die ganze Szene in Dunkelheit auflöste. In der Wärme des Schlafes lächelte Eva, als sie eine entschwindende Stimme rufen hörte: »Erinnere dich, erinnere dich.«

Sonnenlicht strömte durchs Fenster, fiel auf Evas Gesicht und küsste sie sanft wach. Sie fühlte sich entspannt und friedlich, lag still unter der Bettdecke und wünschte, den ganzen Tag so bleiben zu können. Von irgendwo aus dem Innern blühten die Träume der Nacht in Evas allmählich erwachendem Bewusstsein auf. Im Tageslicht waren die Menschen und Orte, die Eva besucht hatte, und die so lebendig und real erschienen, nun verschwommen und weit weg, doch in Eva blieb ein Gefühl des Friedens und Verstehens und der Ahnung von einem Versprechen, das sich bald erfüllen würde, zurück.

Die vertrauten Geräusche der restlichen Familie, die gerade aufstand, störten Eva auf. Als sie ihren Körper bewegte, fühlte sie ein unkontrollierbares warmes Tröpfeln zwischen ihren Beinen. Rasch schnappte sie sich ein paar Papiertaschentücher von ihrem Nachttisch und tupfte die Feuchtigkeit ab. Als sie die Taschentücher wieder hervorzog, entdeckte sie, dass sie voller frischer roter Blutflecken waren. In diesem Moment betrat Evas Mutter das Zimmer und sah die blutigen Taschentücher. Eva erklärte ihrer geängstigten Mutter rasch, woher das Blut gekommen war. Diese verschwand mit leicht amüsiertem Blick und kehrte nach ein paar Augenblicken mit einer Handvoll Binden zurück, die sie der fragend blickenden Eva überreichte.

»Ich wusste, dass es bald fällig war«, erklärte sie. Sie lächelte und ließ sich neben Eva auf der Bettkante nieder. Sie zog ihre Tochter zu sich heran und umarmte sie mit Tränen in den Augen liebevoll. »Mein Kind wird zu einer Frau«, flüsterte sie.

Das Dunkel des Mondes

In den meisten Gesellschaften hat das Erzählen von Geschichten, Märchen und Legenden, die uns als Gerüst dienen, uns Richtlinien geben und Verstehen und Erkenntnis vermitteln können, eine uralte Tradition. In vielen Kulturen wurden die weiblichen und männlichen Geschichtenerzähler in hohen Ehren gehalten, da sie über die Macht des Mythos verfügten – das heißt über die Fähigkeit, das intuitive Gewahrsein von den inneren Wahrheiten in ihren Zuhörerinnen und Zuhörern zu wecken und ihnen so eine persönliche Identifikation mit den Rhythmen und Energien des Universums zu ermöglichen.

Bis vor relativ kurzer Zeit hatten nur die reichen und höheren Gesellschaftsschichten Zugang zu einer Ausbildung, nur sie konnten lesen und schreiben, und in vielen Teilen der Welt ist dies noch immer der Fall. In vielen dieser Gesellschaften wurden das Wissen, die Weisheit und das Erlernte in Form von Geschichten unter den verschiedenen Stämmen und Clans und von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Geschichten, die die Gemeinschaft über die Ordnung des Universums, die Natur seiner Energien, über die das Leben der Menschen beeinflussenden Göttinnen und Götter, die Rhythmen der Erde und den Platz der Menschheit in dieser Ordnung aufklärten. Die Geschichtenerzähler sprachen in Bildern und Symbolen, die in Geist und Psyche der Zuhörerschaft Gestalt annahmen und im Unterbewusstsein haften blieben, von wo aus sie ins Alltagsbewusstsein integriert wurden.

Im Rahmen dieser Geschichten bediente man sich üblicherweise des Archetypus oder der repräsentativen Charakterfigur. Damit sind universelle Gestalten gemeint, in denen sich gewisse Wahrheiten widerspiegeln, auf die die Menschen auf einer inneren Ebene reagieren. Auch heute bedienen sich die modernen Medien in Filmen, Büchern und Theaterstücken für Erwachsene und Kinder des Archetypus. In Horrorfilmen sehen wir das todbringende, das sexuell verführerische oder das schreckliche alte Weib geschildert; in Abenteuerfilmen die hilflose Jungfrau, die errettet werden muss und sich unvermeidlich in ihren Retter verliebt; und als unverrückbaren Fels des Familienlebens bekommen wir die »gute Mutter« vorgeführt. Ein solcher Archetypus wird oft über die Leinwandrolle hinaus als Mythos und Bild ausgemalt, weitergeführt und sorgsam um die Person der Schauspielerin als »Leinwandgöttin« oder »Sexsirene« aufgebaut.

In den früheren Gesellschaften hatte der Archetypus die Funktion eines Lerninstruments. Über die Identifikation mit dieser Gestalt machten die Zuhörer bewusst oder unterbewusst einen inneren Erkenntnisprozess durch, wodurch sie dann in sich die Energien dieses Archetypus erwecken und zum Ausdruck bringen konnten.

Einer der weitverbreitetsten Archetypen, der sich in vielen Kulturen fand, war der der universellen weiblichen Kraft und Macht oder »Großen Göttin«. Oft drückte sie sich in drei verschiedenen weiblichen Gestalten oder Göttinnen aus, die den Lebenszyklus aller Frauen repräsentierten: das Mädchen oder die Jungfrau, die Mutter und die Alte oder Greisin.

 

Die Mädchengestalt wurde allgemein als vitalisierend und dynamisch dargestellt, spiegelte das stärker werdende Licht des zunehmenden Mondes, und ihre Farbe war Weiß. Die lichte Mutter wurde als fürsorglich und fruchtbar dargestellt, sie spiegelte das ausstrahlende Licht des Vollmondes, und ihre Farbe war das Rot. Die Alte war die Bewahrerin der Weisheit, das Tor zum Tod und der Weg zu den Mächten der inneren Welt. Sie spiegelte die zunehmende Dunkelheit des abnehmenden Mondes, das zum verborgenen Aspekt des dunklen Mondes oder Neumondes führt, und ihre Farbe war Blau oder Schwarz.

Der Aspekt der (weisen) Alten oder Greisin wurde einer Frau zugeschrieben, die die Lebensphase des menstruellen Zyklus beendet hatte. Man glaubte, dass Frauen in diesem Lebensabschnitt ihr menstruelles Blut allmonatlich absorbieren, sich öffnen und diese Kraft nun für die Kreativität, die Magie und die innere Einsicht verfügbar machen. In vielen Gesellschaften wurde die postmenstruelle Frau als eine »weise Frau« oder Zauberin angesehen, deren Fähigkeit, zu prophezeien und mit den Geistern zu kommunizieren, außerordentlich respektiert wurde. Heutzutage hat dieses Bild von der weisen Alten seine Macht verloren, und ältere Frauen werden kaum mit Respekt behandelt, ja sie werden geradezu als für die Bedürfnisse der Gesellschaft entbehrlich erachtet.

Die Beschreibung des Lebenszyklus der Frau ist jedoch ohne die Nennung einer vierten Phase unvollständig, dem verborgenen Aspekt der Göttin, der im Allgemeinen getrennt von der lichten Dreifaltigkeit dargestellt wird. Dies war die dunkle Mutter oder schreckliche Mutter. Sie wurde als Tod dargestellt und als die Seele des Göttlichen, zu der alle zurückkehren, um wiedergeboren zu werden. Im Lebenszyklus der Frau bezeichnete diese Phase die Seele, die im Tod freigesetzt wird.

So konnten die verschiedenen Aspekte des gesamten Lebens einer Frau in Abschnitte unterteilt werden und in verschiedenen Aspekten und Archetypen des Göttlichen zur Darstellung kommen. Doch auch der lunare Zyklus wurde als ein Ausdruck des göttlichen Prinzips des Weiblichen betrachtet, das sich in der Erde und der Frau spiegelt, und daher finden wir auch viele archetypische Gestalten in der Mythologie und Folklore, die verschiedene Aspekte der menstruellen Frau repräsentieren. Die junge, schöne Jungfrau oder das unschuldige Mädchen stand für die Phase vor dem Eisprung und des zunehmenden Mondes, die dynamischen Energien des Frühlings und die Energien der Erneuerung und Inspiration. Die gute Mutter oder Königin repräsentierte die Zeit des Eisprungs, des Vollmondes und die Fülle der Energien des Sommers. Sie herrschte über die Energien der Fruchtbarkeit, der Erhaltung und Ernährung und der Befähigung. Die prämenstruelle Zauberin oder Hexe stand für die sich zurückziehenden Energien des Herbstes und die zunehmende Dunkelheit des abnehmenden Mondes. Sie war eine sexuell sehr machtvolle, über magische Kräfte verfügende Frau, die verzaubern und Männer herausfordern konnte; sie war schön oder hässlich, und in den Geschichten wird ihr allgemein die Fähigkeit zugeschrieben, ihren Körper und ihre Sexualität als Verzauberungsmittel einzusetzen. Die Zauberin stand für Rückzug und Zerstörung und trat oft als Auslöserin für Tod oder Unglück auf, die für das Wachstum unentbehrlich sind. Das hässliche alte Weib oder die abscheuliche, schreckenerregende Greisin repräsentierte die menstruelle Phase der zurückgezogenen Energien und der verloren gegangenen Schönheit des Landes im Winter. Sie war der Schwarzmond, der dunkle Mond oder Neumond, schwanger mit den Energien der Transformation, Gestation und inneren Dunkelheit.

Diese vier Gestalten von Jungfrau/Mädchen, Mutter, Zauberin und Greisin/Alte finden wir überall in der Volkskunde und in den Legenden, wo sie den Jahreszeitenzyklus nicht nur mit dem Mondzyklus, sondern auch mit dem Monatszyklus der Frau verknüpfen. Die Interpretation der weiblichen Mysterien aus moderner Sicht lässt fast immer die Bedeutung und Erfahrung des menstruellen Zyklus aus. Ursprünglich brachten die Mythologien nicht nur die äußeren Rhythmen und Energien des Lebens, sondern auch die von der menstruellen Frau erlebten inneren Rhythmen und Energien zum Ausdruck. Diese Rhythmen waren so eng mit dem eigenen Verständnis der Frau vom Mond, vom Land und von der Göttin des Lebens verwoben, dass unsere heutige – weitgehend von kulturellen Tabus geprägte – moderne Anschauung für Frauen in der Vergangenheit undenkbar gewesen wäre. Die Archetypen der Jungfrau, Mutter, Zauberin und Greisin haben jeweils ein Verständnis von der wahren Natur der Frauen anzubieten und betonen die Notwendigkeit, dass Frauen sich ihrer eigenen Natur bewusst werden müssen.

Die ein Wissen um das Weibliche offenbarenden Geschichten sind nicht nur jene Geschichten, die ganz augenfällig mit den alten Religionen verbunden sind, sondern es sind auch die, die als Geschichten und Märchen für Kinder weitergegeben wurden. Sie enthalten einen Reichtum an alten Symbolen und Weisheiten, der bis in die mündlichen Überlieferungen dieser alten Stammesgesellschaften zurückreicht. Wir wollen uns nun detaillierter einigen dieser Gestalten und Archetypen und deren traditionellen Wurzeln und Ursprüngen zuwenden, die auch in der Geschichte »Die Erweckung« in Erscheinung treten.

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