Lichter als der Tag

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»Was ihr euch ausdenkt«, sagte Floriane. »So was wäre uns nie eingefallen. Oder?« Sie sah ihn an; sie lächelte, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Es war kein wirkliches Lächeln, sondern die Maske, die Frau Dr. Lepsius täglich acht Stunden lang in ihrer Praxis trug, damit niemand ihr Gesicht sah, ihre Müdigkeit und ihr Befremden.

Stumm schüttelte er den Kopf. Was Flori gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Doch er war zu erschöpft für ein Wortgefecht. So manches war ihnen eingefallen, gerade Flori, die sich von Lehrern oder Profs nie hatte etwas vorschreiben lassen, und so lange her war das alles noch gar nicht. Allerdings hatten auch sie zum Glück nicht in die Zukunft sehen können.

Priska sprach aus, was ihr Vater dachte: »Früher gab es nun mal keine Flashmobs. Da gab es andere Aktionen in der Öffentlichkeit. Demos, klar. Aber auch von Künstlern organisierte Happenings zum Beispiel. Oder politische Sit-ins.«

»Und jede Menge anderen Kram«, sagte Floriane.

Selbst schuld, wenn du eine Zahnärztintochter heiratest, dachte Merz und trank. Engagement und menschliches Miteinander hatten für Flori einherzugehen mit ordentlichen Einkünften, deshalb war es für sie ausgemacht, dass beide Mädchen, Priska Marie und Linda Annabella, nach dem Abi Medizin, Zahnmedizin studieren würden, wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter. Etwas anderes kam gar nicht infrage.

»Ich wäre ja gern mal bei so einem Die-in dabei«, sagte Merz trotzig und stellte sich vor, Bruno und er ließen sich in der Mittagspause an den Magellan-Terrassen mitten unter den ganzen Büromenschen aufs Pflaster fallen, als hätte sie der Schlag getroffen.

»Tot! Zwei Mitarbeiter des Tag in der Hafencity zusammengebrochen«, würde die Schlagzeile lauten.

»Nice«, sagte Priska. »Bei einem Die-in hätte ich am Flughafen auch gern mitgemacht, aber das haben die Lehrer natürlich abgeblockt. Gähn! Zu makaber. Abstürze und so. Nine-Eleven. Nicht mal einen Freeze haben die Sicherheitsmenschen vom Flughafen erlaubt. Gähn. Awkward.«

»Einen Fries?« Flori kniff die Augen zusammen, verständnislos schüttelte sie den Kopf.

Hilfesuchend sah Prissy ihn an und verdrehte die Augen.

Merz sagte: »Bei einem Freeze bleiben alle wie eingefroren stehen und bewegen sich nicht mehr. Der Freeze ist das Gegenteil vom Tanz-Flashmob. Stimmt doch, oder?«

Priska nickte. Sie hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, deshalb beugte sie sich zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Love you«, sagte sie.

»Danke, wieder was gelernt«, sagte Floriane.

Merz beobachtete seine Frau: ihre Zerknirschung, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. So war sie schon als junges Mädchen gewesen. In Floris Augen waren Kinder eine eigene Spezies, auch ihre: »Neandertalernachwuchs«. Sie verstand Kinder nicht, und aus kindlichem Trotz wollte sie sie auch gar nicht verstehen, schließlich hatte sie früher auch keiner verstehen wollen. Kinder waren die Zukunft, aber sonst? Sie machten ihr Angst; über Linda, ihr Elsternkind, sagte Floriane oft, sie sei verrückt.

»Ich finde ja tanzen besser als sterben«, lachte sie. »Wie lang hat das Ganze denn gedauert? So ein Flashmob ist doch meistens eher kurz, dachte ich.«

»Na ja, halbe Minute. Dann kam das Transparent. Und dann war Schluss, und alle haben so getan, als wäre nichts gewesen. Das war noch mal echt krass.«

»Und dieses Transparent«, fragte Merz, »was stand da drauf?«

»Ein kurzer Satz von Wolfgang Borchert«, sagte Priska. Sie zuckte mit den Achseln und stand vom Tisch auf. »Das war nun mal – huhu! – die Vorgabe für den Flashmob-Tag. Heinrich-Heine-Gymnasium: zwei, drei berühmte Worte von Heini Heine. Wolfgang-Borchert-Schule: zwei, drei berühmte Worte von Wolfgang Amadeus Borchert. Gezeichnet: die Schubladenbehörde. Gähn. Awkward.«

»Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er überflüssigerweise.

Priskas unerbittlicher Kommentar lautete: »… und die andere Hälfte Arbeit, klar, Papa.«

»Was stand denn nun drauf?«, fragte Floriane.

Ihre Tochter war schon im Flur, als sie noch rief: »Was wohl? ›Sag nein!‹ Gähn. Say no.« Prissy lachte spöttisch, und kurz darauf flog oben ihre Tür zu.

Am Tisch fragte Floriane, als wären sie im Fernsehen: »Noch Salat?« Dabei sah sie ihn an, hob die Hände und flüsterte: »Was ist los mit dir? Muss ich mir Sorgen machen?«

Es lag vielleicht an der Monotonie einer täglich vierundzwanzig Stunden lang abgesicherten Existenz, eher aber an der festgefahrenen Lage, ja der einzementierten Schieflage der späten mittleren Jahre, wenn ein Ehemann und Vater, ein erfahrener Mann wie Raimund Merz praktisch stündlich damit rechnete, dass alles in sich zusammenstürzte und die Trümmer wie Schaumstoff den Bach runtergingen.

Nie beglichene, uralte Rechnungen mussten dafür verantwortlich sein, wenn er drei Tage nach dem ersten Wiedersehen alle Vorsicht über den Haufen warf und auf die Suche nach Inger ging. Bei vollem Bewusstsein und doch wie von Sinnen stürzte er sich kopfüber in ein Wagnis, das ihn von Anfang an zugleich berauschte und verzweifeln ließ.

Hatten sie sich wirklich in Berlin zuletzt getroffen?

An ihrem letzten Abend am Müggelsee war es gewesen, im Garten ihres gemeinsam gemieteten Ferienhauses ein paar Kilometer südlich von Köpenick. Seither hatte es keinerlei Kontakt mehr zwischen Moritz und Inger und Flori und ihm gegeben, und er war all die Jahre standhaft geblieben und hatte nie auch nur den leisesten Versuch unternommen, etwas über Rauchs in Erfahrung zu bringen.

Es gab von früher keine Freunde mehr, die einmal Moritz’ und auch seine gewesen waren, und so war der einzige Mensch in seinem Umfeld, der sich an Rauchs noch erinnerte, Floriane, der aber noch weniger als ihm daran lag, über den Verbleib der einstigen Freunde und des Kindes informiert zu sein. Flori war nie gut auf Pippa zu sprechen gewesen, und in ihren Augen hatte sie mehr als triftige Gründe dafür. Wie sollte die Tochter anders sein als die Mutter?

Als Merz an diesem Donnerstag zum allerersten Mal ihre Namen in die Maske der Suchmaschine eingab, war er verblüfft; denn nichts kam dabei heraus. Sie hatten keine Firma, kein Büro oder Atelier. Der große Architekt, der Moritz immer hatte sein wollen, war nicht mal ein kleiner, wie es schien. Und auch Inger war anscheinend weder als Künstlerin oder sonstwie freiberuflich tätig noch irgendwo angestellt. Beide waren sie in fast fünfzehn Jahren nie in Erscheinung getreten, sie waren weder Mitglieder eines Vereins noch bei einem sozialen Netzwerk registriert.

Als Niemand aufzutauchen und als Niemand wieder zu verschwinden war respektabel. Nur konnte man dazwischen wenigstens versuchen, auch für andere da zu sein, jemandem zu helfen oder zuzuhören. Aber wer tat das schon, er selber so wenig wie seine Frau, Flori so wenig wie Inger, die sich genauso stets nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte.

Ihre Malerei, ihre Adoptivtante, ihren Mann und später das Kind.

Und Moritz? Was gab er nicht immer an mit der Erfolgsgeschichte seines Vaters, erst recht, als der Tanke-Rauch längst alles verloren hatte! Moritz sah darin die Gelegenheit, jede ihm angeblich aufgepfropfte Unternehmerambition abzuschütteln, und brüstete sich fortan mit erfolgreichem Aufbegehren. Im Internet aber fand Merz kein einziges Foto von ihm und von den einstigen Tankstellen nichts als ein paar grobkörnige Aufnahmen verblasster, halb zerborstener Leuchtstofftafelsammlerstücke, auf denen der lange vergessene Firmenname zu lesen war: Rauch & Kossleck.

Wo wohnte man, wenn man niemand war?

Allem Anschein nach waren zumindest Inger und Pippa irgendwann aus Berlin zurückgekehrt und in den Hamburger Nordosten gezogen, denn weshalb sollte das Mädchen sonst auf eine Schule am Alsterlauf gehen?

Pippa war die Einzige, über die sich etwas herausfinden ließ. Offenbar war sie eine Zeit lang Kunstrad gefahren. Sie hatte ihre Plüschhundesammlung fotografiert und alle Bilder sorgfältig untertitelt und nach Größe und Farbe sortiert auf die Webseite einer Stofftierbörse geladen. Hatte Moritz ihr dabei geholfen? Es war wirklich rührend. Zumal man auf mehreren der süßen Fotos im Hintergrund die Mutter der kleinen Hundenärrin sah. Die Frau mit den lachenden Augen, über denen noch immer der alte schöne Schatten lag, war eindeutig Inger.

Aufgewühlt und reizbar, seit er am Morgen die Fotos im Netz gefunden hatte, aß Merz an diesem quälend heißen Donnerstag mit Bruno DeWitt in der Hafencity zu Mittag. Er ärgerte sich, ohne das Bruno zu sagen, über einen Aschenbecher vor ihnen, der unter seinem Deckel offenbar vor sich hin kokelte und einen üblen Geruch verbreitete. Es war dieser stinkende Ascher, mit dem kurz darauf ein abenteuerlicher Nachmittag begann.

Bruno berichtete von der Reportage, an der er schon seit Wochen schrieb. Die Landschaftsmalerei der Schule von Barbizon, zum Verzweifeln. Viel zu lange hatte er die notwendigen Recherchen vor sich hergeschoben.

»Ich lebe eigentlich Mitte des 19. Jahrhunderts«, sagte er. »Und um mich rum«, er breitete die Arme aus, »das kann nur der Wald von Fontainebleau sein.« Bruno stand auf. »Ich sehe ständig Felder vor mir, einen Hohlweg oder eine Baumgruppe, und zugleich weiß ich, die gibt es bloß auf alten Gemälden, bei Daubigny und Rousseau. Wie Gott sie schuf, liegt nachts die entzückendste Frau neben mir, und was mache ich? Ich denke nach über Antoine Chintreuils Wolken.«

»Du findest Fritzi Feddersen entzückend?« Merz war fassungslos. »Das meinst du nicht im Ernst. Sie ist keine Frau, sondern unsere Justiziarin.«

»Sie ist beides, Raimund Merz.«

Nur selten war Bruno derart humorlos. Seufzend verschwand er nach drinnen zur Toilette, und sofort schraubte Merz den Aschenbecher auf, um nachzusehen, was darin qualmte, »pöserte«, wie man in Hamburg sagte. Die Namen der Maler, die Bruno erwähnt hatte, schwirrten ihm wie Möwen durch den Sinn, für ein paar Augenblicke bedauerte er, dass er weder von Daubigny oder Rousseau noch von diesem André oder Antoine Chintreuil irgendein Gemälde kannte. Der Wald von Fontainebleau. Wo lag der?

 

Aus dem Ascher kam der Gestank nicht. Er war mit Chromlack überzogen, Merz sah sein Gesicht darin gespiegelt, das Himmelsblau und tatsächlich Wolken. Er tauchte eine Fingerspitze in den grauen Puder zwischen den Kippen; und wie früher, als wäre er wieder sechzehn, bestrich er sich einem plötzlichen Impuls folgend mit der Asche links und rechts die unteren Lider, so wie manchmal mit Moritz in der Pause auf dem Schulhof, wenn sie einen ihrer Lehrer hatten verunsichern wollen. Bruno kam zurück, er setzte sich. Merz nahm die Hand von den Augen und betrachtete den Freund, mit möglichst mattem Blick, wie ein Gespenst im hellblauen Hemd.

»Na und, sie ist Justiziarin, Himmel. Und lass du dir gesagt sein, es ist nur gerecht, dass ein so wundervolles Wesen wie Fritzi Feddersen auf dieser gegen die Wand gefahrenen Welt lebt. Denn ohne Menschen wie sie wäre das Leben … – meine Güte, du siehst ja aus wie der Tod!«

Kein Wunder. Wenn er je gelebt hatte, war das lange her. Wäre er aufrichtig gewesen, hätte er das zu Bruno sagen müssen. Stattdessen blickte er ihn aus vorgetäuscht tiefen Augenhöhlen nur an. Merz lächelte erschöpft. Er litt.

Wenig später war er für den Rest der Bürowoche entschuldigt. Melly, der Sekretärin, musste er versprechen, sofort zu seinem Hausarzt zu gehen. Er spürte die mitleidlose Neugier seiner Kollegen, die ihm alles Gute wünschten, ohne zu wissen, was das war. Bruno legte ihm den Arm um die Schultern. Das zum Beispiel! Er brachte ihn nach unten vor die Tür, wirkte nachdenklich und war einsilbig, und Merz wusste – oder ahnte –, warum. In vier Tagen sollten sie zusammen nach Stuttgart fahren, damit Bruno in der Staatsgalerie den Kurator einer Ausstellung interviewte und sich für die Reportage ein paar Gemälde ansah. Impressionisten. Der Kurator, Kullmann, war angeblich eine Ausnahmeerscheinung, jung, omnipräsent, dabei alles andere als ein Karrierist. An ihrem letzten Abend würden sie sich außerdem das Pokalspiel des HSV bei den Stuttgarter Kickers ansehen. Die Kickers waren zwar nur ein Viertligist, doch dort einen hohen Sieg einzufahren würde den Hamburgern nach einem verhunzten Saisonauftakt vielleicht Auftrieb geben. Nach Brunos Ansicht wäre alles andere lachhaft, rein zum Weinen.

Außer zu einem Spiel zu gehen, das ihn nicht sonderlich interessierte, hatte Merz in Stuttgart eigentlich nichts zu tun. Er machte keine Fotos, kannte sich mit Aufnahmegeräten nicht aus, hatte für Museen noch nie besonders viel übriggehabt, und auch Schwaben oder Baden, der Neckar und die Kinzig waren ihm schnuppe. Er würde auf dieser Reise überflüssig sein, obwohl kaum überflüssiger als sonst. Weder hatte er eine Aufgabe noch irgendeine Funktion, außer Herrn DeWitt zu begleiten. Der hatte darauf bestanden, dass Merz mitkam, und selbst die Stadionkarten hatte er Melly als Spesen untergejubelt.

»Also Montag?«, fragte Bruno und sah dem Freund tief in die aschgrauen Augen.

»Tue mein Bestes«, sagte Merz schwach. »Fritzi Feddersen und unsere gegen die Wand gefahrene Welt, das muss ich erst verkraften.« Damit ging er. Aber er hob noch kurz die Hand und rief Bruno zu: »Wir sehen uns Montagmorgen am Bahnhof. Gespenster halten Wort.«

Floriane schrieb er, dass er sich den Nachmittag frei genommen hatte und spazieren ging, in Planten un Blomen oder auf dem Friedhof Ohlsdorf. Vielleicht sah er in der Staatsbibliothek vorbei.

In den vergangenen Jahren hatte er für den Tag einige Artikel über neueste Erkenntnisse der Insektenforschung geschrieben, die von der Verlagsleitung und von Chefredakteurin Mareike Kennedy gut aufgenommen worden waren. Ein renommierter Hamburger Wissenschaftsverlag hatte daraufhin den Kontakt zu ihm gesucht und erwog offenbar ernsthaft, seine entomologischen Elaborate in Buchform herauszubringen. Niemand außer Flori und Bruno wusste davon.

»Bin am Abend zur üblichen Zeit zu Hause«, schrieb er, aber wie in letzter Zeit üblich antwortete Floriane nicht.

Er nahm die U-Bahn zu der Station, an der sein Wagen stand. Mit dem Phoebus fuhr er dann aber nicht nach Westen, wo sie wohnten, sondern quer durch die Stadt in die entgegengesetzte Richtung, über die Uhlenhorst, durch Winterhude, Alsterdorf und Ohlsdorf hinauf ins Alstertal.

Nördlich des Parkfriedhofs war die Alster ein schmales Flüsschen und schlängelte sich durch schattige, am Nachmittag menschenleere Auenwälder hinunter zur Innenstadt. Unter Sommereichen unweit des Ufers parkte er so, dass er jede Schülerin, die aus dem Haupteingang ins Freie kam, genau sah, dabei aber selbst unbemerkt blieb. Er tat, worin er Fachmann war, er verhielt sich vollkommen unauffällig. Ein Mann, um die fünfzig, an sein Auto gelehnt. Er tat, als würde er telefonieren, er, der seit Jahren nicht mehr telefonierte. Auf dem Display rief er eine Landkarte von Frankreich auf und zoomte sie groß. Von Besançon ging es nach Nordwesten, vorbei an Dijon, Auxerre und Montargis Richtung Versailles. Zwischen Nemours und Évry lag der Wald von Fontainebleau.

Er hatte Zeit. Fünfzehn Jahre lang hatte er auf diesen Tag hingelebt, still und so heimlich, dass er es beinahe selber nicht wusste, und deshalb wartete er gleichmütig, jedenfalls ohne nervös zu werden, ja im Grunde kaltblütig zweieinhalb Stunden lang vor der Andreas-Gryphius-Schule, bis Pippa herauskam.

Allem Anschein nach hatte sie Sport gehabt: Ihre Haare waren noch nass vom Duschen. Sie war nicht allein, zusammen mit sechs oder sieben Mitschülerinnen, die alle eine Sporttasche abstellten oder fallen ließen und die alle ähnlich dürr, ähnlich langhaarig und ähnlich hübsch waren, stand Pippa im goldengrünen Licht unter den Bäumen vor dem Schulpavillon und wartete, bis sie an der Reihe war, den anderen irgendein Bildchen auf ihrem Smartphone-Display zu zeigen. Alle kicherten. Sie klangen wie Vögel.

Alle hatten sie ganz ähnliche Stimmen. Sie waren alle gleich! Aber das schien nur so. In Wirklichkeit waren sie es nicht, und in Wahrheit unterschied sich jedes der Mädchen in beinahe allem von den anderen. Alle hatten sie ihre eigene Geschichte, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte. Und alle ihr Leben vor sich. Keins würde dem anderen gleichen, auch wenn man ihnen das Gegenteil wieder und wieder weismachte. Kurz stellten sich ein paar Jungs zu ihnen. Deren Frisuren waren das einzig Auffällige an ihnen, als hätten sie blonde Helme oder Mützen auf. Schon trotteten sie weiter, linkisch und schlaksig, und Merz blickte ihnen nach, als sie auf dem Parkplatz durch die Sonne und an ihm vorbeistapften. Fast genauso alt waren Moritz, Flori und er gewesen, als damals ein dänisches Mädchen in ihr Dorf und dort zu seiner Tante zog. Ingers Eltern waren wenige Wochen zuvor beim Segeln auf der Ostsee ertrunken. Er erinnerte sich, wie sie ihm in ihrem so klaren Englisch davon erzählt hatte. Solsort hieß das Boot, auf Dänisch bedeutete das Amsel, und Inger sagte, bei jeder Amsel, die sie sah, denke sie an ihre Eltern. Sie saßen vor der Turnhalle im Schneidersitz auf dem von der Sonne aufgewärmten Asphalt und warteten auf die anderen. Inger Rasmussens Gesicht war voller Sommersprossen gewesen.

Er hielt sich hinter einem Forsythiengebüsch verborgen. Pippa und ihre Freundinnen griffen sich ihre Taschen, dann gingen sie zu einem Fahrradunterstand ganz aus Wellblech, wo sie ihre Räder aufschlossen. Schon gondelte ihr kleiner Pulk los, und Merz musste sich entscheiden, wie es weiterging.

Sollte er ihr nachfahren?

Deswegen bist du doch hergekommen.

Also los! Er stieg in den Phoebus. Er fuhr, den Mädchen hinterher. Herausfinden, wo und wie sie lebte. Wissen, was aus Inger und Moritz geworden war. Nein. Nein, das war nicht der wahre Grund. So wäre es vielleicht gewesen, hätten sie sich in Berlin getrennt, wie Leute sich trennten, weil sich die Dinge nun mal änderten und das Leben trotzdem weiterging. Aber so war es nicht. Die Dinge hatten sich geändert, und das Leben war nicht weitergegangen. Es hatte nur den Anschein gehabt.

Eins der Mädchen führte am Lenker ein leeres Fahrrad neben sich her, schon lange hatte er das nicht mehr gesehen. Und wie früher schon, als er selbst noch so jung gewesen war, freute ihn, das zu sehen, es erinnerte ihn an ein paar Reiter, die er irgendwann mal – in der Nähe des wilden Gartens – dabei beobachtet hatte, wie sie zwischen ihren Pferden ein Fohlen mitführten, auf dem aber natürlich niemand ritt.

Der Heimweg der Mädchen verlief entlang einer nicht enden wollenden Kastanienallee, die dem Alsterlauf folgte und auf der abendlicher Pendlerverkehr eingesetzt hatte. So wie am westlichen Stadtrand, wo Floriane, Pippa, Linda und er lebten, wälzten sich auch im Nordosten die Blechkolonnen tagtäglich unter den teilnahmslos vor sich hin rauschenden Bäumen hindurch, morgens stadteinwärts, abends wieder hinaus, dreihundert Tage und öfter im Jahr immer dasselbe. Die Jugendlichen schien es nicht zu kümmern. Sie hatten es nicht eilig und gondelten so dahin. Auf einmal aber bogen die Fahrräder ab, die Mädchen verschwanden zwischen lauter abgestellten Autos, die eine ganze, sacht eine Anhöhe hinaufführende Straße in eine einzige Blechhalde verwandelten. Unvermittelt fand sich Merz in einer Siedlung mit hunderten englisch anmutenden, weißgetünchten und beinahe vollkommen identischen Doppelhäusern wieder.

Langsam, in sicherem Abstand, folgte er dem Pulk. Ein erstes Mädchen verabschiedete sich, und alle übrigen winkten und riefen der Schulfreundin noch etwas nach. Es war ein ruhiger, fast dörflicher Stadtteil, den er nicht kannte. Eine Katze überquerte ohne Eile die Straße. Berberitzenhecken umgaben Vorgärten mit symmetrisch gestutzten Weidenbäumen, aus deren Kronen hier und da eine Schaukel herabhing. In den Carports und Auffahrten parkten Familienkutschen, nicht selten ein neuer Phoebus. Sie lebt in einer Siedlung für Phoebusfahrer wie mich, dachte Merz, in einer Phoebussiedlung! Es gab Fahnenmaste. Es gab Gartenhäuser. Es gab Baumhäuser. Es gab Kanus und Kajaks unter Kanu- und Kajakabdeckungen. Es gab mit bunter Kreide auf den Asphalt gemalte Kopffüßer. Floriane hätte es als Neandertalersiedlung bezeichnet und sich darüber mokiert, zumal wenn sie gewusst hätte, dass auch Inger und Ingers Kind und vielleicht ihr Mann hier wohnten. Aber Merz hatte von den Neandertalern ohnehin eine abweichende Ansicht, seit im Radio berichtet worden war, dass sie sich vermutlich über Gesänge miteinander verständigt hatten, über ihre schönen Neandertalermelodien.

Das leere Fahrrad, das eins der Mädchen neben ihrem herschob, im Grunde, dachte Merz, könnte darauf genauso Prissy sitzen. Er war froh, als das Mädchen abstieg und sich verabschiedete und die anderen weiterfuhren.

Von da an waren sie nur noch zu dritt, und Pippa fuhr in der Mitte, auf einem blauen Hollandrad mit überall darauf lackierten weißen Wolken und je einem Korb am Lenker und auf dem Gepäckträger. An einem Kreisel, von dem mehrere völlig gleich aussehende Straßen abzweigten, blieb das Trio stehen. Die beiden anderen Mädchen umarmten Pippa, dann trennten sie sich, um in unterschiedliche Richtungen davonzufahren. Und auch er fuhr wieder an und weiter Ingers Tochter hinterher. Jetzt war sie allein, und als gäbe es einen Zusammenhang zwischen dem Kind und dem Licht, fiel Merz auf, dass es schon fast Abend war. Die Septembersonne stand tief jenseits hoher alter Bäume, die ein Wäldchen bildeten, um das erst Pippa und dann auch er herumfuhren. Er folgte dem Wolkenfahrrad durch immer schmalere Wohnstraßen und achtete mit jeder Minute vorsichtiger darauf, einen Abstand einzuhalten, der das Mädchen gar nicht erst Verdacht schöpfen ließe.

Dann war es auf einmal so weit. Innerhalb eines einzigen Augenblicks endeten die ganzen Jahre. Am Rand des Wäldchens standen Einfamilienhäuser im Schatten großer, schwer belaubter Kastanien, dort lenkte Merz den Phoebus um eine Kurve, musste kurz stoppen, fuhr weiter und stellte fest, dass Pippa verschwunden war.

Es gab nur vier Häuser, die infrage kamen, und alle sahen sie fast identisch aus. Doch er brauchte gar nicht lange zu suchen. In der Garagenauffahrt des zweiten stand das weiß getüpfelte Fahrrad, und auch wenn von dem Mädchen selbst nichts mehr zu sehen war, konnte er sich sicher sein, Pippas Zuhause gefunden zu haben. Fünf gusseiserne Buchstaben prangten an einem um das Haus laufenden weißen Mäuerchen: Rauch.

 

Er wendete am Ende der Sackgasse, beobachtet von einem Jungen, der dort auf dem Bürgersteig stand und ihm vorkam wie ein Abbild von Moritz im Jahr 1973. Während der Phoebus lautlos an dem glotzenden Knirps vorüberglitt, blickte ihm Merz in sein Mondgesicht: Das Kind verzog keine Miene. Es war ein dicklicher kleiner Kerl, sommersprossig, stupsnasig, bebrillt und mit einer Zahnspange ausgerüstet, über die ab und zu seine Zungenspitze leckte. Wie oft hatte der Junge sie gesehen? Für ihn war Inger einfach die Nachbarin, Frau Rauch, und ihr Mann Moritz vielleicht ein Freund seines Vaters, jedenfalls kein Fremder, und Pippa passte womöglich auf ihn auf, wenn seine Eltern abends essen gingen, ab und zu bestimmt zusammen mit den Rauchs. Mit dieser Vorstellung fuhr Merz langsam, ohne dem Haus und seinem Mäuerchen weiter Beachtung zu schenken, zurück in die Siedlung, und als würde es aus ihrer Mitte aufragen in den Himmel, stand ihm noch lange das Kastanienwäldchen vor Augen.

Bis er zu Hause in Sülldorf sein musste, weil sich Floriane sonst Sorgen machte oder ihr etwas spanisch vorkam, blieb noch Zeit. Beim Tag begann Bruno jeden Abend gegen halb sechs, den täglichen Kaffeebecher- und Pappschachtelmüll vom Schreibtisch zu räumen. Donnerstag. Linda ging seit Kurzem donnerstagabends zu einem Therapeuten, der, wie sie sagte, mit ihr über das redete, was in ihrem Leben nicht ihr gehörte. Prissy machte sich währenddessen um halb sechs auf den Weg zum ihr verhassten Hockeytraining. Ebenfalls donnerstagabends erledigte Floriane in der Ferdinandstraße die Praxiskorrespondenz, für die unter der Woche keine Zeit war, weil ihr die Leute mit Parodontitis und lockerem Zahnhalteapparat die Bude einrannten. An einem gewöhnlichen frühen Donnerstagabend lief Raimund Merz über die Fleetufer vom Büro zum Hauptbahnhof, stellte sich für eine Viertelstunde auf einen stilleren Fernzugbahnsteig und überließ sich für eine Viertelstunde seinen Gedanken. Hierin lag sein Glück. In diesen Minuten hatte er kein Alter, keine Pflichten, keine Fehler, keine Pläne, keinen Kummer. Von April bis Oktober konnte man sich fast sicher sein, dass ein leicht rosiges Licht die Bahnsteighalle erfüllte, und im Winter, wenn es meist zu trüb dafür war, reichten ihm die Erinnerungen an die Feldmark und die Vorfreude auf das kommende Frühjahr.

Dieser Donnerstag aber war kein gewöhnlicher. War es überhaupt ein Tag? Er kam ihm wie aus der Zeit gefallen vor, und deshalb verdiente er auch eine andere Bezeichnung als ein x-beliebiger Tag, der nach dem Donnergott hieß. Es war ein Phoebustag. An diesem Abend nämlich war er weit entfernt von Hauptbahnhof und Tag-Redaktion unterwegs mit dem Phoebus. Je später er auf den Ring fuhr, umso weniger dicht wäre dort der Verkehr.

Er musste was essen, ein Unterzuckerungsgefühl stieg in ihm auf, er wurde ungehalten, schön, endlich! War das nicht in Wirklichkeit ein Hochgefühl? In eine Birne, einen Apfel hätte er auf der Stelle die Zähne geschlagen und alles hinuntergeschlungen, Stiel und Kerne, Vorsicht, ein Obstvernichter am Steuer! Und zu einem, der darüber den Kopf geschüttelt hätte in einem popeligen Lexus oder Prius Plus an der Ampel neben seinem Sonnenwagen, hätte er rübergerufen: »Na, Grubengaul, wieder krummgeschleppt heute?«

Das glotzäugige dicke Kind in Ingers Straße hätte er nicht einfach so davonkommen lassen sollen.

»He, willst du Raumschiffkapitän werden?«

Der Junge hätte vielleicht genickt, bestimmt aber gestaunt, von einem Dahergelaufenen durchschaut zu werden.

»Daraus wird nichts! Du wirst Bankangestellter, leider kann ich hellsehen«, hätte Merz gesagt oder sagen sollen.

Erfüllt von Heißhunger auf etwas Süßes, trieb es ihn durch den ehemaligen Dorfkern, der nun »Einkaufsdorf« hieß und das Zentrum des Stadtviertels an der noch immer grünen Peripherie bildete. Dort stand eine Backsteinkirche, an deren rotem Türmchen ein schlaffes Refugees welcome-Banner hing. Es gab eine Sparkasse, in der der dicke Junge seine Ausbildung würde machen können, eine Post, einen Italiener, eine Bäckerei mit Namen »Bäckerei«, ein paar Läden und ein Eiscafé, vor dem wie vom Himmel gestürzt lauter Kinderfahrräder und Roller auf dem Bürgersteig lagen.

Es gab kein Entrinnen. Zorn und Aufgewühltheit machten höchstens die Schranken deutlicher, gegen die einer wie er mit dem Kopf voran anrannte. Existierte denn eine Mauer, die sein Leben umgab, sein Haus, die Stadt, das Land? Nein. Oder ein freies, offenes Feld, auf das man jubelnd hätte hinausgelangen können? Nein. Wo war alles besser, lichter, freier und anders? Nirgends? Ja. Und das hieß?

»Druckertankstelle«, sagte Merz laut. Das stand über einem der Geschäfte.

Druckertankstelle. Im Grunde war alles zum Weinen.

Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Linda die Sachen ihrer Mitschüler vielleicht deshalb an sich nahm, weil sie die Dinge in ihrer Unglückseligkeit durchschaute und verschwinden lassen wollte. War das möglich?

Hab keine Angst, sagte er sich, als er parkte, und seltsam, dieser Gedanke erleichterte ihn.

In der »Bäckerei« waren die beiden Bäckereifachverkäuferinnen, eine junge und eine ältere, am Zusammenräumen und Ausfegen. Nur noch wenige Brote lagen in den Regalen, darunter die Schüttfächer für Schrippen und andere Brötchen waren schon leer.

Durch die Tresenscheiben betrachtete er das restliche Gebäck, übrig gebliebene Florentiner, Nussecken, Plundertaschen, Makronen und Amerikaner, schillernd in gelbgoldenem Licht. Fast alles sah klebrig aus und unappetitlich, und die paar Kuchen- und Tortenstücke, die noch auslagen, wirkten wie in der Hitze immer wieder zerflossen und von den beiden wortlos vor sich hinarbeitenden Verkäuferinnen mühsam ein ums andere Mal zusammengeschoben.

»Was darf es sein?«

Dutzende Wespen krabbelten über die glasierten Kekse, Striezel und Schnecken. Man sah die Schleifspuren ihrer Hinterleiber im Zuckerguss, die Abdrücke ihrer Hakenbeine und die Löcher und Lücken, die ihre Zangen in den Mürbeteig rissen.

»Sie wünschen bitte?«

Es waren große, kleinere, ältere und junge Tiere. Auf Anhieb erkannte Merz mindestens drei verschiedene Arten.

Er blickte der Verkäuferin ins Gesicht, konnte darin aber keinerlei Regung erkennen. Ausdruckslos sah ihn die junge Frau an, und Merz fragte sich, ob er auf sie wohl den gleichen Eindruck machte. Er stellte sich vor, wie diese Auszubildende mit langem Hals und dürren Armen Stammkunden bediente, etwa Inger, die ein Graubrot verlangte. Oder wie am Sonntagvormittag Herr Rauch mit den letzten zehn quer über den Schädel gekämmten Haaren die wie üblich am Vortag bestellten Frühstücksschrippen abholen kam, mit dem Trekking-Rad, in Begleitung Pippas. Sie nannte ihn Moritz. Und er das Kind seinen Spatz. »Mauerritze« hatte Pippas Mutter früher zu ihm gesagt, sobald der gemeine Moritz aus dem allseits beliebten Moritz hervorkroch.

»Moritz … Maurids … Mauerritze!«, hatte sie gesungen.

Die meisten waren Deutsche Wespen. Aber auch einige Sächsische und ein paar Feldwespen hatte der süßliche Geruch in die Bäckerei gelockt. Sie mussten unten am Fluss oder drüben auf dem Friedhof ihre Nester haben. Auch ein paar Schwirrfliegen gab es, aber die waren allesamt tot, geköpft, zerschnitten, avocadogleich halb ausgehöhlt und verspeist von den Wespen. Wäre sie so groß wie ein Bussard, hatte Merz in einem seiner Hautflügler-Artikel geschrieben, die Sächsische Wespe könnte mit ihren Zangen ein Fahrrad in Stücke reißen. Die sich hierher verirrt hatten, wirkten abgekämpft und entkräftet. Schon seit Stunden suchten sie nach dem Ausweg aus der Zuckerhölle.