Müllers Morde

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

20.02 Uhr

Steenbergen bewegte sich nicht mehr.

* * *

»Richard«, sagte der Anwalt hinter dem Mahagonischreibtisch, und es klang wie: Mein hoch verehrtes gnädiges Fräulein.

»Ja«, knurrte Richard, er war über zwei Meter groß, hatte einen schon recht kahlen Schädel, saß absichtlich etwas gebückt und trug seine ältesten Jeans. Doch trotz aller Abwehrmaßnahmen fühlte er sich bedrängt und verlegen. Und ärgerlich: Hatte er es nicht gewusst? War es nicht jedes Mal dasselbe? Das abendlich leere Büro. Das gedämpfte Licht. Der fehlende Freund. »Dr. Steenbergen wollte diesmal wirklich kommen, aber wie’s aussieht, werden wir wieder auf ihn verzichten müssen.« Die Verabschiedung der Sekretärin, die tatsächlich bis acht Uhr abends blieb. »Ah – der Schnapswagen, danke, Valeska. Moment mal, das kann doch nicht wahr sein, der Banyuls ist schon wieder alle?«

»Ich fürchte, ja, Herr Welsch.« Die Antwort richtete sich zu einem Gutteil an Richard, wie überhaupt die ganze kleine Szene, und sie erinnerte mit Nachdruck daran, dass man sich hier in ­einer der letzten schönen Villen am Adenauer-Ufer befand. Mein Chef ist reich, mächtig und sympathisch, war Valeskas Botschaft. Ein toller Mann. Der Chef selbst setzte ein kesses Lächeln dazu auf. Plötzlich sah er viel jünger aus, und nicht nur um die ­Augen. Der ganze Welsch-Ruinart mitsamt Seidenhemd und Maß­anzug und der schmalen goldenen Uhr am Handgelenk strahlte wie ein mutwilliger kleiner Junge. Man meinte sogar, Sommersprossen auf seiner Nase zu erkennen. Dabei war er mindestens fünfzig und färbte sich vermutlich die Haare. Und vielleicht, dachte ­Richard, lag da auch das ganze Geheimnis: Haartönung. Oder der Typ hatte oben auf dem Speicher ein Porträt stehen wie ­Dorian Gray. Nun erschienen noch zwei winzige Grübchen in seinen Wangen. Grübchen, die Richard bei jeder Frau hinreißend gefunden hätte.

»Na, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Reserve anzubrechen«, sagte der Besitzer der Grübchen wohlgemut. »Valeska, wenn ich bitten dürfte, den grand cru, Sie wissen schon, den für besondere Gelegenheiten, haben Sie vielen Dank.«

Valeska verschwand, brachte wenig später eine verstaubte Flasche und verabschiedete sich diskret. Als sie fort war, füllte Welsch-Ruinart selbst die Gläser, und Richard nippte widerwillig an seinem Banyuls grand cru. Er mochte keine Dessertweine, aber er hatte es nie geschafft, etwas von dem Whiskey zu kriegen, der ihn von der mobilen Bar her golden anfunkelte. Andererseits: Zum Whiskey wollte Richard letztlich gar nicht kommen. Er tat dies hier um des Geldes willen. Also blieb er beim Hauswein. Und lauschte Herrn Welsch-Ruinart. Welsch für die ­Klientschaft. Und Peter für ihn.

»Ich habe Schliemann gelesen«, sagte Peter in vertraulichem Ton und stellte sein Glas auf den rot schimmernden Schreibtisch.

Dessen Holz, überlegte Richard, war sicher illegal geschlagen, welches Mahagoni wäre das nicht? »Schliemann«, wiederholte er.

»Wie Sie empfohlen haben«, sagte Peter.

Niemals, dachte Richard. Ich? Schliemann?

»Die Aufzeichnungen über die Ausgrabung von Troja.«

»Schliemann war ein Visionär«, antwortete Richard höflich. So weit kam es noch, dass er Schliemann empfahl. Schliemann hatte Troja entdeckt, ohne zuvor einen Historiker um Erlaubnis zu fragen, daher ignorierten Historiker ihn ebenfalls. Außerdem: Wer Schliemann las, glaubte am Ende auch an UFOs. Oder an Atlantis. Richard bückte sich und kramte in der Jutetasche, die er neben seinem Sessel auf dem Perserteppich abgestellt hatte.

»Sie wissen schon, die eulenköpfige Vase. Sie sagten, ich sollte mich absichern. Die Quellen prüfen. In der Chronologie zurückgehen.«

»Und da sind Sie gleich bis zu den Anfängen der Zivilisation gegangen«, murmelte Richard.

»Den Anfängen der Archäologie«, verbesserte Peter und begann eine Zusammenfassung des Schliemann’schen Grabungsberichts von Troja. Inzwischen nahm Richard sein Paket aus der Tasche. Er wusste genau, was er gesagt hatte: Vergessen Sie die eulenköpfige Vase, das hatte er gesagt. Die such ich nicht. Er war ja wirklich ein Ass in seinem Fach, und er war auch bereit, einiges fürs Geld zu tun, doch ein Artefakt mit eingebautem Wegweiser nach Atlantis konnte selbst er nicht finden. Dieses Ding existierte nur in der Vorstellung einiger Spinner, und Richard würde den Teufel tun und öffentlich danach fahnden. Wenn er seine Kontakte missbrauchte, um einem Phantom nachzujagen, würde ihn bald überhaupt niemand mehr ernst nehmen. Leider aber wollte sein treuester Kunde durchaus Indiana Jones spielen: »… die drei Papyri befinden sich dem Bericht zufolge in den Kellern der Eremitage von St. Petersburg. Wenn wir die Schriften finden würden, wäre das eine Sensation. Erstens wäre ­Platos Atlantis-Bericht nach Jahrtausenden endlich bestätigt, und zweitens enthalten sie mit Sicherheit auch wertvolle Hinweise auf die Vase.«

»Die Vase ist Blödsinn«, sagte Richard.

Eine Pause trat ein.

Mist, dachte Richard sofort reuig, oh Mist, das war mein letzter zahlungsfähiger Kunde.

Die Pause wurde unangenehm. Richard fiel nichts ein, was die Situation retten konnte, die Vase war tatsächlich Blödsinn, das hätte er nicht so direkt sagen müssen, aber zurücknehmen konnte er es auf keinen Fall.

»Tja«, sagte Peter schließlich trocken, »dürfte ich trotzdem mal sehen, was Sie mir mitgebracht haben – vielleicht?«

»Oh«, sagte Richard, »natürlich. Sofort. Klar.« Hastig entfernte er das Klebeband von seinem Päckchen und öffnete es. Zerknülltes Zeitungspapier quoll hervor. »Bisschen viel Verpackung«, sagte er verlegen und entfernte eilig die obersten Lagen. »Ich habe es nur vor Stößen schützen wollen, immerhin ist es viereinhalbtausend Jahre alt …« Er brach ab und reichte Peter das offene Paket über den Tisch.

»Von Schliemann?«, fragte der und hob vorsichtig ein kleines, unregelmäßig geformtes Terrakottagefäß aus dem Papier.

»Aus Troja. Schicht VI, also aus der wahrscheinlichsten Zeit für den Krieg. Mit dem charakteristischen Eulenschnabel am Rand. Schliemann hat Dutzende davon ausgegraben.«

»Gut, aber hat Schliemann dieses Stück geborgen?« In Peters Augen funkelte plötzlich so etwas wie Mutwille. Es sah fast aus, als ob er innerlich lachte.

Richard holte tief Luft und sagte: »Ja.« Natürlich war »ja« keine ernsthafte wissenschaftliche Aussage. »Ja« konnte ein Historiker nicht mal vorbehaltlos auf die Frage antworten, ob das Troja Homers wirklich existiert hatte, vom Troja Schliemanns ganz zu schweigen. Andererseits ging es hier ums Geldverdienen. Und Peter war, wie es schien, zufrieden. Mit einem leisen Lächeln um die Lippen begutachtete er seinen neuen Schatz. Dann füllte er die Gläser nach, und Richard atmete auf: Glück gehabt, er musste das Eulendings nicht wieder mitnehmen. Dies war ihr Ritual. Peter packte aus, dann tranken sie, und damit war der Handel besiegelt. Viel eifriger als sonst hob Richard sein Glas. Haargenau gleichzeitig mit Peter. Dabei begegnete er dessen Blick. Und verschluckte sich.

Herrgott, dachte er hustend, beim nächsten Auftrag muss ich diesem Mann klipp und klar sagen, dass ich hetero bin.

»Zerbrich die eulenköpfige Vase«, sagte Peter rau.

»Hören Sie –«, begann Richard.

»Sie soll ja aus Bronze sein.«

Richard stellte das Weinglas ab und tastete nach seiner Tasche. »Ich hab heute noch viel zu tun.«

»Ich frage mich, wie man Bronze zerbrechen kann.«

Es war unklug, darauf zu antworten, aber das musste gesagt werden: »Gar nicht.« Jahrtausendealte Bronzevasen, so sie denn existierten und man ihrer habhaft wurde, zerbrach man nicht. Man setzte sie höchstens zusammen.

»Ton wäre natürlich ein viel praktischeres Medium.« Nachdenklich betrachtete Peter sein neu erworbenes Terrakottagefäß. Es würde ihn achttausend Euro kosten. Plus Steuer und Spesen. »Die Metallplakette, die wir suchen, ließe sich weit einfacher in Ton verstecken. Ich frage mich ja, ob das Metallstück mit dem Wegweiser nicht auch in so ein Artefakt eingebettet worden sein könnte.«

Richard erhob sich. Weg hier, dachte er, nur raus. Auf keinen Fall wollte er weiter verantwortlich sein für das Schicksal dieses armen kleinen Topfs. Er war nicht sehr bemerkenswert, aber es hatte ihn Mühe gekostet, ihn zu finden, und so ganz nebenbei war er auch noch unversehrt durch einen mythischen Krieg und mehrere Jahrtausende bis hierher auf diesen eitlen Mahagonitisch gekommen. Wenn sein durchgeknallter Besitzer nun beschloss, ihn zu zerstören, dann wollte er, Richard Romanoff, Privatgelehrter, Historiker und Spezialist für die Beschaffung seltener Artefakte, nicht dabei sein. Eilig bückte er sich nach seiner Tasche. »Ein Tipp von mir, ich würde davor einen Metalldetektor benutzen.«

»Oh. Gute Idee.« Peter lächelte. »Was ja interessant ist«, sagte er sanft, »ist, dass Schliemann irgendwann seine Meinung über diese Schnabelgesichter änderte.«

»Ach ja?«

»Zuerst hat er sie nur für kultische Eulendarstellungen gehalten. Nachdem er aber Dutzende solcher Funde gemacht hatte, konnte er an die bloße Eule nicht mehr glauben.« Peter zog die kleine Terrakottavase zu sich heran und berührte mit dem linken Zeigefinger sacht ihren Bauch, auf dem sich eine Art Nabel befand. »Die schiere Menge der Artefakte machte ihm klar, dass es etwas weit – Elementareres sein musste.« Er sah auf.

Und da wünschte Richard fast, er hätte Schliemann doch gelesen. Dieser helle Blick! Unwillkürlich stolperte er rückwärts. Dann trat er sofort verärgert näher, um das grob getöpferte Gefäß gründlicher in Augenschein zu nehmen. Zum ersten Mal sah er es mit so etwas wie ungeduldigem Interesse. Troja, das war nicht sein Gebiet, eine Siedlung aus einer Zeit, in der die Schrift gerade erst erfunden wurde, mit unsicherer Quellenlage, unsicherer Lage überhaupt, politisch, geografisch, wissenschaftlich, in jeder Hinsicht, ein auferstandener Mythos, lästig für jeden Mann der Wissenschaft. Und dieses Gefäß mit den Brauenwülsten und dem Schnabel am Rand war ein Teil davon. Was sollte es darstellen, wenn nicht die allfällige Eule?

 

Richard konzentrierte sich. »Es ist eine Frau«, sagte er schließlich. Natürlich: Unter dem herben Gesicht befanden sich zwei winzige Erhebungen, die eigentlich nur Brustwarzen darstellen konnten. Und was zuvor wie ein riesiger Bauchnabel ausgesehen hatte, musste in Wahrheit eine Klitoris sein. Überrascht schaute er Peter an. Eine Frau. Ein Fruchtbarkeitszauber.

Peter erwiderte sein winziges Lächeln sehr freundlich. Und sagte: »Wir wollen die Bronzevase. Den Wegweiser. Der bringt uns nach Atlantis!«

Herrgott, dachte Richard. Lass mir doch einen Rest Würde. Sprich es wenigstens nicht direkt aus. »Dann viel Glück.«

»Sie können die richtige Vase finden!«

Richard schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es.« Peter hielt das kleine Gefäß hoch. »Dr. Steenbergen wird schon hiervon begeistert sein.«

»Gut.«

»Bitte!«

Richard wand sich und versuchte, diesem offenen, verbindlichen, beschwörenden Blick zu entkommen. »Na schön, demnächst muss ich sowieso nach Berlin, da schaue ich noch mal bei diesem Sammler vorbei, ich weiß, dass der noch ein, zwei von diesen – Dingern hat, aber versprechen kann ich rein gar nichts.«

»Danke«, sagte Peter. Eigentlich war sein Gesicht eine glatte Herausforderung, unschuldig, aufrichtig, dankbar.

Doch Richard nahm sie nicht an. Er würde nichts weiter sagen und nichts weiter tun. Er zog nur einen leicht zerdrückten Briefumschlag aus seiner Hosentasche. »Meine Rechnung.«

»Kommen Sie heute in einem Monat«, rief Peter ihm nach, als er ging.

* * *

22.00 Uhr

Es war fast dunkel. Nun musste er es wagen, die Autotüren zu öffnen. Und? Ja. Er hatte es geschafft. Steenbergen war äußerlich unverletzt und tot.

22.11 Uhr

Steenbergens Arme mussten nach vorn. Wer wusste schließlich, wie lange das hier noch dauern würde, und wenn die Starre einsetzte, durften die Arme nicht auf dem Rücken sein. Es war auch eine gute Übung: lernen, mit der Leiche umzugehen. Sie roch. Steenbergen hatte einen starken Körpergeruch. Seine Haare klebten verschwitzt am Kopf, die Augen waren geschlossen, Steenbergens Blase hatte sich entleert, das roch man auch. Müller kämpfte mit dem Klebeband. Vorn auf der Straße hielt ein Auto, die Scheinwerfer suchten die Lichtung ab. In einer absolut unwillkürlichen Bewegung knallte Müller die Autotür zu und duckte sich hinter den Phaeton. Trotzdem: Der Besitzer dieser verdammten Scheinwerfer musste gesehen haben, dass er da war. Sein Herz klopfte in mächtigen Schlägen, er spürte es bis in die Zehenspitzen. Da setzte das Auto zurück und fuhr davon. Vermutlich noch jemand, der die Einsamkeit suchte. Müller sank auf den Waldboden und tat fünf Minuten lang gar nichts.

22.40 Uhr

Steenbergens Hände waren nun frei, er lag gut zugedeckt in seinem Phaeton. Müller hingegen kurvte im Alfa langsam am Parkplatz vor dem Totenmaar vorbei. Die Nacht war klar, daher sah man ganz gut. Und Müller sah: nichts. Kein Auto, kein Spaziergänger, niemand. Er wendete auf einem Waldweg und fuhr langsam zurück: Die Luft war rein. Der Teil, der nun kam, war riskant. Ob er es jetzt gleich wagen sollte?

22.43 Uhr

Das Wasser des Totenmaars lag schwarz in der Nacht, ringsumher erhob sich der bewaldete Krater wie ein großes Theaterrund. Darüber leuchteten viele Sterne. Alles war ruhig, sogar die Kühe auf der Weide unten am See hatten sich in ihre Senke gelegt und dösten. Gut so. Und jetzt musste er ran, je eher, desto besser. Die Todeszeiten mussten zumindest grob zusammenpassen. Müller zog ein Paar neue Gummistiefel an, die hatte er mitgenommen. Immer noch niemand. Keine Scheinwerfer, kein knirschender Splitt, kein Liebespaar, nichts. Müller öffnete vorsichtig die Tür seines Wagens. Lautes Grillengezirp und warme Luft drangen herein. Er war ganz allein. Trotzdem wollte er schnell sein.

Vielleicht fünf Minuten später

Der Weidezaun war mit Stacheldraht verstärkt, das hatte er gewusst, aber unangenehm war es trotzdem. Denn natürlich durfte er nicht hängen bleiben. Irgendwie schaffte er es schließlich, sich mit seiner tragbaren Kühltruhe über den Zaun zu wurschteln. Dann schlich er auf die Kühe zu. Sie waren groß, rochen gut und waren furchterregend lebendig, selbst wenn sie lagen und schliefen. Eigentlich schliefen sie auch gar nicht, sie dösten nur. Eine, die hinterste von vier, hob den Kopf und schnaufte, als er näher kam. Müller wäre furchtbar gern weggerannt. Diese Tiere waren viel, viel stärker als er. Sie mussten doch spüren, was für Absichten er hegte! Doch sie lagen nur träge an ihrem Platz. Müller bewegte sich vorsichtig. Ganz nah ran musste er. So. Nun öffnete er stumm seine Kühltruhe und legte der nächsten Kuh, einer hübschen Braunen mit leicht vorstehenden Hüftknochen, ein großes Stück dampfendes Trockeneis vor die Nase. Und das Wunder geschah: Die Braune zuckte nur leicht mit den Ohren und blieb liegen. Ihre unruhige Kollegin hingegen richtete sich umständlich auf. Die beiden anderen hoben ihre Köpfe. ­Müller verteilte, jetzt fast panisch vor Nervosität, Trockeneisstücke ringsum. Dann brauchte er seine ganze Willenskraft, um nicht überstürzt zum Zaun zu rennen. Er zwang sich zu gemessenen Schritten und horchte ängstlich auf das laute Atmen in seinem Rücken. Angespannt wurschelte er sich wieder über den Stacheldraht. Und blickte erst zu den Kühen zurück, als er die Kühlbox in seinem Kofferraum verstaut hatte. Da sah er ein merkwürdiges, surreales Bild: eine Senke, gefüllt mit dichtem, waberndem Bodennebel, der ein paar große Körper umschloss. Und dahinter eine Kuh, die für einen kurzen Moment wirkte, als habe sie diesen Nebelsee ausgeschnaubt. Dann trollte sie sich und suchte sich einen weniger gefährlichen Schlafplatz. Die anderen drei jedoch blieben liegen.

23.30 Uhr

Niemand war auf diesen Parkplatz gekommen, obwohl er weit exponierter lag als der mit Steenbergens Leiche. Nur auf der Straße zum Totenmaar fuhr ab und zu ein einsames Auto vorbei, von deren Fahrern konnte er aber nicht gesehen werden, der Alfa stand zu versteckt. Jetzt kam der schwierigste Teil. Müller stieg aus seinem Wagen, die Nachtluft hatte sich merklich abgekühlt, der Himmel war bezogen. Es war finsterer und stiller als zuvor. Das Wasser lag wie eine große, glatte Falle zwischen den Bäumen. Sicher gab es viele schaurige alte Legenden um das Maar, die Müller zum Glück nicht kannte. Unheimlich war ihm trotzdem zumute. Schließlich schuf er soeben eine neue.

23.33 Uhr

Von weitem konnte man nicht erkennen, ob die Kühe sich regten, es war schon zu dunkel. Immerhin lagen sie aber in der Senke, und Nebel schien dort auch noch zu stehen. Noch einmal stieg Müller über den verflixten Zaun, wie gern hätte er den blöden Draht einfach durchgezwickt! So. Drüber. Die Kühe blieben ruhig. Er stapfte auf sie zu, mit Schleichen hielt er sich nicht mehr auf. Wenn er sie jetzt noch erschrecken konnte, funktionierte sein Plan sowieso nicht. Die drei Körper lagen reglos in der Senke. Müller berührte die Braune an der Stirn, sie fühlte sich weich an und warm. Sie war hübsch. Und sie schlief fest. Ihr Atem ging leicht, ein wenig Sabber rann ihr aus dem Maul. Jetzt sollte er testen, ob sie wirklich bewusstlos war. Nach kurzem Überlegen und mit größter innerer Anspannung setzte Müller sich auf ihren Nacken. Sie zuckte, sonst nichts. Na schön. Er fasste ihr Maul an. Sie rührte sich nicht. Da nahm er die drei ineinandergezogenen großen Plastiksäcke mit dem Stück Trockeneis darin. Und schaffte es irgendwie mit viel Drücken und Ziehen und Glück, die Säcke über den warmen Kuhkopf zu bekommen. Endlich zog er an dem Zugband des obersten Sacks. Danach richtete er sich auf und blickte zum Maar. Er war nassgeschwitzt.

0.07 Uhr

Wieder im Auto. Jetzt ein Bier! Aber nein, die Arbeit war noch lange nicht zu Ende. Doch erst einmal galt es zu warten.

0.45 Uhr

Jetzt sollte auch die Braune tot sein. Ein letztes Mal stieg Müller über den Zaun zu den Kühen. Er entfernte die Tüten vom Kopf der Braunen, sie setzte ihm keinen Widerstand entgegen. Die beiden anderen Rindviecher neben ihr gaben ebenfalls nicht den kleinsten Mucks von sich, und die vierte Kuh war nicht zu sehen. Nun noch die Spuren verwischen, zum Glück wuchs Gras auf der Weide. Müller scharrte ein wenig mit seinen Gummistiefeln auf dem Boden und benutzte sogar eine Taschenlampe. Keine Spuren. Er leuchtete um die Kühe herum, er verfolgte seinen Weg zum Zaun zurück. Nichts. Dann konnte er endlich Steenbergen holen.

1.30 Uhr

Steenbergens Elektroauto sprang ein bisschen anders an, aber das war kein Problem. Die Fahrt zum Totenmaar dauerte nur knapp zehn Minuten. Schwierig war es allerdings, Steenbergen aus dem hinteren Fußraum rauszukriegen, daran wäre Müller fast verzweifelt. Er trug jetzt einen weißen Overall, wie man ihn für den Aufenthalt in Reinräumen benutzte, und obwohl das Ding sehr dünn war, schwitzte Müller darunter wie blöd, das Schwitzen auf der Weide bei den Kühen war nichts dagegen gewesen. Steenbergen lag wie festgewachsen und ließ sich kaum bewegen, vermutlich hatte die Totenstarre schon eingesetzt, klar, nach gut sechs Stunden. Müller hatte gehofft, diese blöde Starre würde noch ein wenig warten, aber man konnte nicht alles haben. Immerhin hatte er an die Arme gedacht. Und da er Steenbergen rauskriegen musste, kriegte er ihn schließlich auch raus. Dann schleppte er ihn zu der Bank, die direkt an der Weide ganz in der Nähe der Schlafsenke der Kühe stand. Schließlich lag Steenbergen wirklich auf der Bank, mit angewinkelten Armen und Beinen, als ob er sich zum Schlafen dort hingelegt hätte. Sitzen wäre natürlich besser gewesen, aber das konnte man mit der totenstarren Leiche nicht machen, ohne ihre Gelenke zu brechen. Also musste Steenbergen liegen. Was aber im Tod auch keine ungewöhnliche Haltung war.