Wer zählt die Völker, nennt die Namen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der Tagtraum lebt

War das ein verschenkter Abend, hatte sie mehr, zu viel erwartet? Machte es nur keinen Spaß, da alleine zu sitzen, plötzlich war ihr das Zuhören schwer gefallen, und sie hatte schon überlegt, vorzeitig zu gehen, nur wäre das Gefühl dann im nachhinein noch schlechter gewesen. Tief atmete sie nun aus, hatte wenigstens durchgehalten. Diese Vorträge dachte sie, ließ sich von der Mutter leicht dazu überreden, "hört sich doch sehr interessant an, musst doch mal raus, wo gehst du denn noch hin, passe gerne auf das Kind auf?" Routiniert hatte der Mann sein Referat abgelesen, kurze Diskussion, kaum Nachfragen, aber so viele, dass es nicht peinlich war und viele müde Gesichter im hellen kalten Licht des Klassenzimmers.

Warum fiel es ihr so schwer dieser Stimme zu folgen, war das Gehör nicht mehr daran gewöhnt, so lange einer natürlichen, nicht durch Technik vermittelten, Sprache zu folgen?, vor dem Radio- oder Fernsehgerät hatte sie nicht die geringsten Probleme. Oder lag es nur daran, dass sie es zu wenig gewohnt war, unter so vielen Menschen zu sitzen, und sie befürchtete schon, ihre Unruhe würde auffallen, störe die anderen, was sie noch weiter verunsicherte.

Als sie das Schulgebäude verlassen hatte, sah sie ihn schon von der anderen Straßenseite herüber kommen und konnte ein leichtes Herzklopfen kaum unterdrücken, als er plötzlich direkt auf sie zukam, sie fast zusammenstießen und dann die ersten Worte fielen. Er überragte die meisten Leute bei weitem, hatte ein auffallend schmales, längliches Gesicht, eine leichte Adlernase, hervorstehende Backenknochen, eine gleichzeitig hohe und breite Stirn. Die dichten dunkelblonden, fast schwarzen Haare hatten, vor allem an den Seiten, erste graue Strähnen; trotz seiner breiten Schultern und seiner athletischen Erscheinung, ging er leicht gebückt, zog sich zusammen, als wolle er den Größenunterschied ausgleichen, wirkte sogar etwas trottelig, versponnen. Waren es besonders diese Gegensätze, die sie so anziehend fand, und er ihr schon häufig aufgefallen war? Sie wusste es nicht. Sie hatte mal darüber nachgedacht, wie oft sie sich begegneten, vielleicht einmal pro Woche sauste er mit seinem Fahrrad an ihr vorbei, sah sie ihn im Auto, ganz selten kamen sie sich näher, standen im La- den nebeneinander. Dabei stellte sie schon früh fest, dass sie ihn gerne sah, er sie verunsicherte, sie ihn kaum richtig ansehen konnte, wenn sie sich gegenüber standen. Er schien unbefangener zu sein, oder hatte sie sich nur eingebildet, dass er sie beim Brötchen holen ziemlich ungeniert musterte? Traute sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr?

Er hatte eine tiefe, etwas kratzige Stimme, die leicht abbrach, so, als höre ihm niemand zu oder er würde sich nur ungern festlegen. Im Café' saßen sie sich zum ersten Mal direkt gegenüber, und, ohne dass sie noch ein Wort darüber verlieren mussten, war auf einmal für beide klar, dass sie sich nicht gleichgültig waren. Ihr Gespräch blieb zunächst belanglos, so beschäftigt waren sie damit, sich mit diesem stillen Einverständnis gegenüber zu sitzen und sich anzusehen.

"Trinken sie den Kaffee immer schwarz?"

"Ist wohl mehr aus Bequemlichkeit so geworden, macht im Büro zu viel Arbeit, die anderen Utensilien da zu haben." Typisch Mann, hätte sie beinah gesagt, aber lächelte nur.

In seinem Kopf hatte es unablässig gearbeitet, doch eine Antwort auf die Frage zu finden, was mit ihnen sei. Es reizte ihn, eine möglichst einfache, aber nicht unbedingt eindeutige Aussage darüber zu machen, was sie miteinander verband. Ob man sich über so viele Jahre interessant finden konnte, ohne sich je näher gekommen zu sein - bis heute? Die richtigen Worte fielen ihm nicht ein. Sie schon früher nett, attraktiv, gut aussehend, empfunden zu haben - zu banal, dachte er, das trifft es irgendwie nicht. Andere Dinge fallen ihm spontan ein: Flucht in Träume, Flucht vor der Realität. Aber der Traum verflog nicht, im Gegenteil, die Wirklichkeit war noch schöner, aufregender als die reine Vorstellung. Ihre klar gezeichneten Gesichtszüge, den Wunsch verspürte er, sie mit seinen Fingern zu berühren, sie nachzuzeichnen. Oberhalb der Lippen entlang zu fahren, wo die schärfsten Konturen waren, dann an den Wangen entlang, unter den Augen vorbei bis zu den dunkel glänzenden Haaren, die locker sanft herunterhingen, öfter von ihr mit der Hand zurückgestreift wurden, was sehr elegant, weiblich wirkte.

"Gab wohl früher keine Gelegenheit, sich anzusprechen, sich näher kennen zu lernen - hätte es wohl nicht gewagt."

"Warum nicht gewagt?", ging sie sofort auf seinen Vorstoß ein.

Die erste etwas umständliche Aussage brachte ihn aber weiter. Jetzt hatte er ungefähr, was er sagen wollte: "Fand Sie, glaube ich, zu attraktiv."

"Kann ich mir nicht vorstellen", sagte sie ehrlich erstaunt, "dass sie da Komplexe gehabt haben, sie doch nicht, oh nein", schaute sie ihn skeptisch an. Oder, warten sie, ging es mir ganz ähnlich? Darf ich das ganz offen sagen?

"Ja, auf jeden Fall, ohne Scheu."

"Sie sind mir so arrogant vorgekommen, unnahbar."

"Wer weiß immer, wie er auf andere wirkt?"

"Hatte aber später gar nicht mehr das Gefühl", schickte sie schnell hinter her, als sie sein zweifelndes, bedauerndes Gesicht sah.

Pu wusste nun, dass an diesem Tag wirklich alles anders war, er sich auf eine sehr riskante Sache einließ, alle bisherigen Grenzen überschritt, aber nun nicht mehr zurück wollte oder konnte.

Es war ihr in diesem Augenblick gleichgültig, welche Konsequenzen diese Begegnung mit sich brachte, gab sich ganz einem Hochgefühl hin, das sie so schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie konnte seine abtastenden neugierigen Blicke regelrecht körperlich spüren, bot sich ihm an und spürte seine unterschiedlichen Regungen, je nachdem, wie sie sich setzte, ihre Schenkel leicht öffneten, die Beine übereinander schlug oder ihr Rückgrat durchdrückte und sich ihre Brüste leicht anhoben oder senkten. Wahrnehmung und Gestik verhielten sich wie in einem berauschenden Tanz und keiner von ihnen konnte genug davon kriegen, zu schauen und angeschaut zu werden.

Sie hatte sehr ebenmäßige Gesichtszüge, und er mochte ihre Frisur, die ihr Gesicht so gleichmäßig umrahmte, sehr glatte Ränder warf, sehr exakt geschnitten sein musste. Es störte ihn nicht im Geringsten, dass sie keine Mannequin-Figur hatte, in den Hüften breiter, weiblicher, nicht völlig schlank war.

Als er sich leicht vorbeugte, um seine Sitzhaltung zu verändern, spürte er ein Knistern in der linken Innentasche seines Blousons und erinnerte sich an die Papiere, die er dort in der Kneipe provisorisch verstaut hatte. Es passierte leicht, dass sich seine Aufmerksamkeit abrupt veränderte, holte ohne eine Erklärung die Blätter hervor, war auf einmal gespannt, was sie enthielten.

Zu seinem Erstaunen war das erste Blatt keine Kopie, sondern eine Originalschrift, wie man es deutlich an den ausgestanzten und verschmierten Buchstaben einer wohl schon älteren Schreibmaschine feststellen konnte. Es waren mehrere Dokumente, zum Teil mit der Hand geschrieben und unterschiedlich alt, wie es an dem Papierzustand und teilweise angebrachten Datierungen abzulesen war.

"Haben sie etwas geschrieben?", fragte sie und wunderte sich etwas über sein Verhalten.

Er leicht verlegen: "Hm, von einem Bekannten, bin noch nicht dazu gekommen, es mir anzuschauen, ist wohl gar ein Gedicht dabei?"

"Wenn du willst, lies doch laut, vielleicht passt es zu dem Vortrag?"

Pu, der nicht gerne laut vorliest, schon gar keine Gedichte, liest aber nur für sich ein paar Worte, überfliegt schnell den Text. „Vorlesen war leider nie meine Stärke. Aber es geht wohl um die Bürgerkriege, über die jeden Tag im Fernsehen berichtet wird. Schlimm, wie viel heute noch mit Gewalt geregelt werden soll -kann ich selbst auch nicht mehr sehen“, letzteres etwas heftiger.

„Mudidingo“, „Dingomudi“, das sind wohl die Parteien, die miteinader im Krieg liegen.“

Und nur zu sich selbst: Muss die Sachen wohl gut aufheben (s. Archiv 1, letzte Seite des Buches), der war vielleicht zu betrunken und weiß heute nicht mehr, wo seine Aufzeichnungen geblieben sind.

Pu schaut auf, " was machen wir nun, wie geht es weiter?" Sie weiß, dass er nicht den Text meint, sagt dennoch: "Es interessiert mich, wie das Gedicht weitergeht - sollen wir nicht Du sagen?"

"Mein Vorname, François, ist etwas schwierig auszusprechen, ich mag ihn auch nicht, so dass mich alle Pu nennen."

"Ich finde das originell - dann sag doch einfach C zu mir, dann haben wir etwas gemeinsam", erwidert sie ganz ernsthaft.

"Gut, C", die Zeit drängt und beide fürchten sich davor, die Situation abzubrechen, wissen nicht, was dann passieren soll.

Geht man jetzt auseinander, lässt alles wie es war, trifft sich so nicht wieder, sondern nur in Tagträumen? Täuscht man sich in seinen Gefühlen, ist alles nur Einbildung? Nein, das ist keine flüchtige Bekanntschaft mehr - keiner will das. Sie zahlen und draußen, sie steht ganz dicht neben ihm, leicht berühren sich ihre Arme - "vielleicht kannst du mich morgen anrufen, dienstlich, im Büro, sagt er endlich die befreienden Worte und denkt gleichzeitig, nie geht das gut, niemals.

"Die Nummer?" "Warte!"

"Ja, fahr du nur, ich habe es nicht so eilig."

Gefährliche Unterforderung

Am nächsten Morgen hat er wie fast jeden Tag Schwierigkeiten, aufzustehen. Der Gedanke an die Arbeit, das schmucklos kühle Büro, an die schlechte Atmosphäre im Betrieb, bedrückt ihn jeden Tag aufs Neue; warum kann er sich bloß nicht an diesen Alltag gewöhnen, geht es anderen auch so? Ein ständig wachsender Berg von Routinearbeit, diese Regelmäßigkeit, ist es das? Protokolle lesen, die gleichen Begriffe, Sachverhalte, diktieren, kontrollieren, abzeichnen.

 

Manchmal arbeitet er hektisch, nur weg damit, weg, obwohl ihn nichts treibt, - dann sitzt er stundenlang da, tut nichts, träumt vor sich hin, geht auf und ab, möchte einfach nach Hause, die Arbeit ist doch getan, mehr wollten sie heute nicht von ihm. Aber die Rituale sind wichtig, festgelegte Zeiten, Arbeit als Götze. Vorschriften ersetzen Sinn: Produzieren, wegwerfen, recyceln, produzieren. Viele ruinieren nach wie vor ihre Gesundheit, verschleißen sich, bauen auf Verschleiß, gehorchen der Mode und verbrauchen dabei wichtige unersetzbare Vorräte an Rohöl und anderen Stoffen auf der Welt, während ein großer Teil der Menschheit nicht mal das Nötigste hat. Working for Nonsens, hat jemand an die Fabrikmauer gepinselt. Der Götze Arbeit lässt nicht los, hört der Fortschritt da auf, wo der Mensch krank, die Umwelt zerstört wird, es nicht für alle reicht?

Ständiger Blick zur Uhr, noch ein paar Minuten sind drin, aufstehen erst sieben nach sechs, das ist seine magische Zahl. Ist die Erde eine Frucht, die irgendwann reif ist, zerplatzt, ihre Samen auf den Weltraum verteilt, um irgendwo anders eine ähnliche Entwicklung hervorzurufen? Aber noch ist es nicht so weit, sondern es ist gleich sieben nach sechs.

Etwas als sinnlos oder unnatürlich zu bezeichnen, ist viel- leicht nur ein Anhaltspunkt für mangelnde Erkenntnis? Überhaupt findet er es mehr als erstaunlich, dass die Menschen fast alles, was sie zusammenbrauen als unnatürlich empfinden, sich selbst außerhalb der Ordnung stellen. So als sei eine Frucht von Würmern befallen und die Würmer seien nicht Teil des Ganzen, hätten keinen Sinn, keinen Auftrag zu erfüllen.

Es hilft alles nichts, vor allem den Kindern kein schlechtes Vorbild sein, zusammenreißen, den Widerwillen bekämpfen. Morgens spricht er noch eine Art Gebet, in dem er um Schutz für die Kinder bittet, dass sie durch den mörderischen Straßenverkehr, den gnadenlosen Konkurrenzkampf in der Schule keinen Schaden nehmen und bei seiner teilweise sehr brisanten Arbeit keine gravierenden Fehler passieren, die andere gefährden könnten. Für sich selbst wünscht er sonst nichts, glaubt, dass solche Gebete keinen Sinn haben. Nachdem wieder Rassismus, Fremdenfeindlichkeit gegenüber anderen Menschen, Religionen, aufgeflammt sind, hat er sich entschlossen, seine kurze Andacht an alle guten Götter zu richten.

Die Gedanken an C lassen sich nicht länger zur Seite schieben und er versucht, seine Gefühle ihr gegenüber zu überprüfen.

Nein, die Nacht, die bei ihm oft eine starke innere Erneuerung bewirken kann, Entschlüsse revidiert oder ins Wanken bringt, hat seine Gefühle eher bestärkt. Er spürt noch die Faszination ihrer Nähe, und die Wünsche oder besser Träume, die vorher schon da waren, lassen sich jetzt verwirklichen?

Will er das und wie weit kann er gehen, tiefe Zweifel überkommen ihn. Den Kindern eine halbwegs normales Familienleben bieten, das ist ein ganz wichtiges Ziel und so viel verlangen die gar nicht, haben eine erstaunliche Toleranz, bevor sie etwas als bedrohlich oder unnormal wahrnehmen. Diese klischeehafte Partnerschafts- und Familienidyll, was einem überall vorgegaukelt wird, hat es doch nie gegeben.

In der letzten Zeit hat ihn öfter die Frage beschäftigt, wann das intensivere Gespräch, die Zärtlichkeit aus seiner Ehe verschwunden sind, ob es ein besonderes Ereignis dafür gab?

Nichts lässt sich genau festmachen, weder Zeitpunkt noch Beweggründe, wie ist das möglich? und nur schwer erinnert er sich an die Zeit, als es noch anders war, sogar Kosenamen existierten, kaum noch vorstellbar. War es manchmal alleine die Zeit, die verlorene Gefühle zurückbrachte, es Phasen der Annäherung und Distanz geben musste? aber allmählich fehlt ihm die Vorstellungskraft, da könnte sich noch etwas bewegen.

Beim Aufstehen, nun hat er doch die Zeit überschritten, mehr Zeit zum Nachdenken müsste man haben, kommen ihm seine Bewegungen noch fahriger, hektischer vor als sonst. Bloß jetzt keinen Fehler beim Rasieren machen, elektrisch reicht ihm nicht, zu schnell machen sich da einzelne Haare selbständig, sind dann vom Rasierer nicht mehr zu erfassen. Lieber kein neues Messer für die anschließende Nassrasur nehmen, zu leicht schneidet man sich damit, verliert dann kostbare Zeit. Dick trägt er den Rasierschaum auf, betrachtet sich kritisch im Spiegel, schabt vorsichtig alles wieder ab. Erleichterung beim Nachspülen mit kaltem Wasser, soll die Poren wieder schließen, erfrischt, noch so eine Fuhre, noch eine über das ganze Gesicht. Allmählich fühlt er sich frischer, abrubbeln mit dem Handtuch, Leben kommt in das Gesicht, in den Körper.

Ständig zerreißen ihm die Strümpfe, sind schon nach ein paar- Mal waschen hinten durch oder hat er zu wenig Geduld; diese Mordende sollte man abschaffen - sich abends alles zurecht legen? Nein, das Hemd passt nicht zur Hose oder doch dieses Hemd und eine andere Hose, es ist zum Verzweifeln. Manchmal geht eine bestimmte Farbe überhaupt nicht, zurzeit ist es blau, kommt sich völlig albern vor bei dieser Prozedur, nur gut, dass einen dabei keiner beobachtet.

Er nimmt sich immer wieder vor, langsamer, geduldiger zu wer- den, sich mehr Zeit zu nehmen. Lastet da morgens schon ein Druck auf ihm, den er nur schwer beschreiben kann? Aber beim Frühstück ist es nicht besser, flüchtige Blicke in die Zeitung, mit der anderen Hand irgendwie essen, große Politik, erste Seite des Lokalteils und die Entwicklung der Börsenkurse, lässt sich neuerdings schon an einer gut überschaubaren Kurve ablesen. Ist er inzwischen bei bestimmten Themen empfindlich geworden? Bei Brandanschlägen, Gewalt- und Tötungsdelikten an Ausländern standardmäßig der Satz, für rechtsradikale Absichten gäbe es bisher keine Hinweise, möglicherweise sei Rauschgift im Spiel oder Familienfehden, obwohl es dafür ebenfalls keinerlei Beweise gibt. Da wurde ein Türke mit einem Baseballschläger getötet und verbrannt; zufällig hörte man in der Nähe Lieder, "Türke verbrenne", und dann der übliche Standardkommentar. Eigenartige Zufälle gibt es schon in diesem Land und bei Beschwichtigungen machen viele mit, machen sich mitschuldig. Ein hoher Politiker hat eine geniale Lösung gefunden, unterscheidet die Ausländer in zwei Gruppen, die eine, die sich zur Einbürgerung und die andere, die sich gegen Deutschland entschieden hat. Nichts mehr dazwischen und die Kritik an diesen Äußerungen ist mager, man müsse das ja nicht mit der Polizei durchsetzen, alle sind schnell beruhigt. Abgrenzung statt Integration, Monokultur, statt Vielfalt, sind ihre Parolen. Pu fängt an, ohne besonderes System, solche Zeitungsausschnitte zu sammeln, und ein unglaubliches Szenario hat sich da zusammengefunden - aus den liberalsten Zeitungen aus- geschnitten. Keine Verbesserungen für die vielen jungen Leute in Sicht, die zwischen allen Stühlen sitzen, entweder oder, verlangt man ihnen ab, umsonst sind ihre alltäglichen Leiden, ihre Toten. Wie viele werden inzwischen mit dem Feuerlöscher in greifbarer Nähe schlafen, horchen nachts in den stillen Hausflur hinein, in dem sich ein Brand schnell ausbreiten, um sich greifen kann und jeden Fluchtweg verschließt. Hat es je eine größere Feigheit gegeben, gegen wehrlose schlafende Menschen, Frauen und Kinder zu marschieren. Wieviel fühlen sich wegen ihrer Herkunft, ihres Aussehens ständig bedroht, treten nur noch in größeren Gruppen auf, weil zu leicht festzustellen ist, wer dazu gehört und wer nicht. Das gesunkene Niveau an Menschlichkeit, die angestrebte kulturelle Verödung, wird vor keinem Bereich des gesellschaftlichen Lebens halt machen, sich auf alle geistigen und wirtschaftlichen Leistungen negativ auswirken. Einige gehen schon wieder, andere sind schon wieder zu spät gegangen. Müsste man vielleicht das Namensschild an der Tür ändern, der Postbote muss es jedenfalls noch identifizieren können oder wenigstens ein Stück unleserlich machen, aber in dieser Gegend?

Bloß nichts Neues

Nur auf Schleichwegen kann er dem üblichen Verkehrsstau entgehen, da hat er sich früh genug etwas einfallen lassen - nicht zu schnell fahren, überall stehen jetzt diese Starenkästen, machen Porträts: Fahrer mit Auto, eine Ausrede ist nicht mehr möglich. Es gibt keine besonderen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Schulwegen. Ratlos stehen sie an Kreuzungen, rechts vor links, selbst Autofahrer haben Schwierigkeiten noch durchzusteigen, wenn von allen Seiten jemand kommt, nach links, nach rechts abbiegt. Einmal stoppt er vorsichtig, will ihnen, mindestens vier bis fünf sind es, die angespannt am Straßenrand ausharren, zur nahegelegenen Grundschule unterwegs sind, die Vorfahrt abtreten, da verliert der hinter ihm die Geduld, hupt und rast mit quietschenden Reifen an ihm vorbei, in dem Moment wo die Kinder losgehen, nun genau in dieses Auto zu laufen drohen, oh Gott ... , im letzten Augenblick merken sie es noch. Höflichkeit kann da ein tödlicher Fehler sein. Schwer wird er den Anblick von zerquetschten Kinderfahrrädern wieder los, und schlimmer, einmal liegt ein kleiner Junge, etwa zehn Jahre alt, regungslos, mit dem Gesicht nach unten, in der Mitte einer großen Kreuzung, alles abgesperrt, keiner steht bei ihm, das geht wohl zu nahe, nicht mal Gaffer bleiben stehen. Ob bei solchen Ereignissen nicht jemand von der Stadt vorbei kommen müsste, die Verkehrssituation da genauer zu untersuchen? Auf dem ersten Blick ließe sich da oft vieles verbessern, aber es ist das Zeitalter des Autos, Leute verlieben sich in sie, verschulden sich hoch, um ein repräsentatives, möglichst neuestes Modell zu besitzen. Verbringen viel Freizeit damit, es zu pflegen, gehen sorgsam damit um, als sei es ihr höchstes Gut und nicht nur aus Blech und Kunststoff.

Wie Hemden und Hosen verändern sie ständig ihre äußere Form, richten sich nach Modefarben - muss ja alles zusammen passen, Haarfarbe zur Inneneinrichtung des Autos, mindestens. Allzu viele sind in dieser Branche beschäftigt, möchten ihren Arbeitsplatz nicht verlieren, schuften sich den Buckel krumm für diese Wegwerfgefährte und niemand darf ihren freien Lauf stören, ihr Prestige herabsetzen, ist fast ein Tabu.

"Die pflegen ja nicht mal ihr Auto", wurde seine Familie von einem Nachbarn empfangen. Und so schlängeln sich die Kinder hindurch, wagemutig, zwischen den ständig dichter werdenden Kolonnen, gehetzten ungeduldigen Gesichtern, die nicht zu spät kommen dürfen, vertrauen ihrem Schutzengel, sonst würde noch viel mehr passieren.

Stopp - rot, die einstmals grüne Welle hier, kann den gestiegenen Verkehr nicht mehr schlucken, zu zäh bewegt er sich voran. Vorsicht, wieder liegen Scherben auf der Fahrbahn, ständig kracht es hier auf der Umgehungsstraße und da stehen wieder zwei, leichter Auffahrunfall, nur Materialschaden, nichts Besonderes. Selbst an den Wochenenden ebbt der Verkehr kaum noch ab - Schlange stehen zum Waldspaziergang. Endlos steht er jetzt, um links abzubiegen, mitten auf der Straße, von hinten und von vorne rauschen sie vorbei, keine Lücke im endlosen Strom.

Vor dem Werkstor drängeln sich wie auf Kommando die Menschen. Nur einige müssen ihre Ausweise vorzeigen, offen erkennbare Ausländer und die paar Taschenproben am Abend, werden eben- falls hauptsächlich bei denen gemacht. Bei den anderen traut man sich wohl nicht, dabei sind es einige, aus dem Lager- Pfortenbereich, die nicht selten eilig mit auffällig dicken Taschen, Kartons den Betrieb verlassen. An ihren Gesichtern kann man es erkennen, decken sich gegenseitig, braucht doch keiner mehr, liegt doch nur rum, vergammelt doch sonst, nimm man mit, schadet doch keinem, nur nicht erwischen lassen. Die Aufmerksamkeit lenkt man dann auf andere, die sich nicht wehren können. Gerade der, der immer den letzten Ausländerwitz kennt, beim Hausmeister beschäftigt ist, die Putz-, Pflegemittel, den ganzen Hausrat verwaltet, ist ständig auf der Lauer, schlecht bezahlt, holt er sich, was ihm zusteht. Es geht bei seinen Scherzen längst nicht mehr darum, sich lustig zu machen, sondern zu beseitigen, und immer drastischer werden die phantasierten Methoden. Er sieht sie vor sich, wie sie sich im Bierdunst daran berauschen, ganz normale Kneipenbesucher. Da wurde ein ägyptischer Kollege, mit einer Deutschen verheiratet, während der Probezeit entlassen, wehrte sich verzweifelt gegen den Vorwurf, mehrere deutsche Kollegen bedroht zu haben. Lächelte immer sehr freundlich, sehr schüchtern und zurückhaltend war er, schmal, kleinwüchsig von der Gestalt. Die anderen halten zusammen, wie soll man ihnen das Gegenteil beweisen?

 

Pupidu kann man schlecht einschätzen, ist doch ganz normal, oder, ein seltsamer Name zwar. Seine Position in dem Unternehmen ist nicht ganz einfach. Er ist durch einige recht spektakuläre Veröffentlichungen, die er sonst hier mit keinem abgestimmt hat, aufgefallen. Zeitungs-, Radio-,Fernsehberichte folgten, und die Geschäftsleitung ist auf die Publizität recht stolz, andererseits fürchtet sie seinen Einfluss, hält seine Ideen teilweise für utopisch, eigenwillig, wo will der hin, steht der loyal zum Unternehmen? Innerhalb des Betriebes hat er nie versucht, Vorschläge zu machen, besonders aufzufallen, bloß niemanden herausfordern. Er kennt das Gelächter, wenn Projekte abgelehnt, durch immer die gleichen Phrasen abgeschmettert werden: "Viel zu teuer, da können wir ja gleich eine völlig neue Fabrik bauen, so etwas passt doch gar nicht in unser Konzept", und wieder dieses von Anfang an vernichtende höhnische Gelächter des Produktionschefs und seiner Mannen. Die kleinste Veränderung versetzt sie in panische Angst, ihr Herrschaftsgebiet würde verkleinert, ihre Macht würde bröckeln, sie hätten nicht mehr alles unter Kontrolle. Inzwischen hat er die Hoffnung aufgegeben, in die kleine Forschungsabteilung zu kommen, die Stellen dort scheinen ohnehin besonders vakant zu sein, gerade in schwierigen Zeiten droht dort als erstes die Auflösung. Dass die in diesen Zeiten besonders überflüssig sein sollen? Im Pfortendienst, sogar beim Hausmeister, dürften zurzeit mehr beschäftigt sein als dort in der Entwicklung.

Ohnehin herrscht noch ein gehöriges Misstrauen gegenüber Akademikern, das vor allem durch die ohne diese Weihen aufgestiegenen Mitarbeiter genährt wird, die aus dieser Richtung leicht Konkurrenz wittern.

Hin und wieder werden abrupt Dienstpläne geändert, Urlaubssperren ausgesprochen, Rationalisierungsmaßnahmen angedroht: "Jetzt müssen wir uns aber was einfallen lassen, sonst machen die uns dicht." Keiner soll sich ganz wohl fühlen, sich vor oben fürchten, auf der Hut sein, von neuen Führungsmethoden keine Spur und längst kann er dort keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen, hat sich statt dessen zu Hause ein kleines Labor eingerichtet - wird schon nichts passieren - wo er unbehelligt experimentieren kann und davon träumt, so vielleicht mal auf eigenen Beinen zu stehen, sich selbständig zu machen. Zur Vorsicht hat er eine feuerfeste Tür eingebaut:

"Was soll denn diese Tür? Sieht ja unmöglich aus“, war die besorgte Frage.

"Wegen des Geruchs, kann schon mal etwas unangenehm riechen, lässt sich doch schön streichen", hatte er zu beruhigen versucht. Nicht ohne Aufwand das Ganze, und ein Luftabzug musste zusätzlich noch eingebaut werden. "Dann sieht man dich wohl gar nicht mehr", war der Kommentar.

Ohne den geringsten Einsatz zu leisten, profitierte zwangsläufig die Firma von dieser Arbeit, die ihn oft bis spät in den Abend, besonders aber an den Wochenenden und Feiertagen beschäftigte, was ihn nicht selten in Konflikte stürzte, ihn maßlos ärgerte.

Aber die Kinder ließen sich von den neuen Apparaturen nicht schrecken, "darf man reinkommen, ist doch nicht gefährlich?"

Es gab nichts schöneres, da Versuche zu machen, aber die meiste Arbeit vollzog sich am Schreibtisch, auf dem Papier.

"Gibst du mir ein Blatt Papier, zum Malen, was machst du denn da, störe doch nicht?"

"Ja, gerne - stört doch nicht", das war die schönste Form der

Arbeit.

"Darf ich mich da hinsetzen, muss ja nicht viel sagen?"

"Ja, gerne."