Das Trauma des "Königsmordes"

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Wie wir oben bemerkten, erachten wir nicht die sich aus der Parallelisierung beider Ebenen ergebende Ähnlichkeit als bedeutsam, sondern die Tatsache, daß die in der Matrix der Französischen Revolution enthaltenen Kodes emotionale Kodes anregen, welche aus einer persönlichen psychischen Erfahrung »bekannt« sind, einer Erfahrung, von der wir annehmen, daß sie universell sei. Das ist der Grund dafür, daß der Hinrichtung des Königs durch die französischen Revolutionäre eine archetypische Bedeutung beigemessen wird – dies umso mehr, als es sich (in unserem Fall) um die Rezeption des Ereignisses durch den autoritären Charakter handelt. Dies will wohl verstanden sein: Wir behaupten nicht, daß die Hinrichtung des Königs den ödipalen Konflikt als solchen erweckt, sondern, daß das, was Fromm »emotionale Matrix« nennt, als ein im ödipalen Konflikt verwurzeltes Pattern der Rezeption zugrunde liegt und sich im Fall des autoritären Charakters in eigentümlichen Rezeptionsstrukturen artikuliert. Der König symbolisiert den Vater, weil beide, König wie Vater, zur Kategorie »Autorität«64 gehören, und eben diese Kategorie ist, wie wir erläutert haben, von entscheidender Bedeutung für die Reaktion des autoritären Charakters auf Geschehnisse, welche die Autorität involvieren: Die äußere Reaktionsdimension findet sich in der politischen Ideologie vor, aber deren latente, im allgemeinen unbewußte Quelle ist im psychologischen (aus der Kode-Matrix herauslesbaren) Pattern verankert.

Kehren wir also zur Darlegung unserer Hauptthese zurück. Wir vertreten die Auffassung, daß eine Verbindung der Kode-Matrix der Französischen Revolution mit der emotionalen Matrix des autoritären Charakters der spezifischen Rezeption der historischen Umwälzung durch das deutsche Bürgertum zugrunde lagen, und daß sich diese Rezeption in einer politischen Ideologie niederschlug, deren praktische Bedeutung in der Unterlassung, ja Verweigerung einer tatsächlich vollzogenen Auflehnung gegen die (herrschende) Autorität zu sehen ist. Dies besagt nicht, daß es keine Erscheinungen der Auflehnung gab, sie wurden aber sublimierend in die Welt des Geistes verlagert65: Der aggressive Bestandteil der Beziehung zur Autorität verwirklichte sich nicht als politisch-emanzipatorischer Akt, sondern verharrte im Rahmen einer ideellen Konzeption, die die Veränderung zwar ideologisch denkt, sie aber nicht in die Praxis umsetzt.66 Unserer Auffassung nach läßt sich diese Neigung als typisches Charakteristikum deutscher politischer Kultur im 19. sowie im 20. Jahrhundert, als der Autoritarismus im nationalsozialistischen Regime kulminierte, verfolgen. In diesem Sinne muß wohl auch Adornos (gegen den Begriff des »Volkscharakters« gerichtetes) Diktum verstanden werden: »Die Wendung nach innen, das Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll, wie es in den authentischen Gebilden um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorwaltet, hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen. Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes – der Verbürgerlichung – in Deutschland nicht so eng gesponnen wie in den westlichen Ländern, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrbaren Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls.«67

Es dürfte also klar sein, daß unsere These ihrem Wesen nach historisch ist. Es handelt sich weder um den »Nationalcharakter« im Sinne »angeborener Eigenschaften des nationalen Kollektivs« noch um die wie auch immer geartete Dämonisierung des »deutschen Charakters«68, sondern um das spezifische Ergebnis der Entfaltung universeller Prädispositionen auf der Basis einer historisch bedingten sozio-politischen Struktur.69 Mehr noch: Es könnte der Eindruck entstehen, als deuteten wir eine »politische Krankheit« der Deutschen an; davon muß eindeutig Abstand genommen werden, wie auch Adornos in einem solchen Zusammenhang gemachten Bemerkung zu entnehmen ist: »Es gibt keine ›politische Neurose‹, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären.« In Beziehung auf den deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert fügt er noch hinzu: »Die totalitäre Psychologie spiegelt den Primat einer gesellschaftlichen Realität, welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, daß die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, daß ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet.«70 Dennoch muß betont werden, daß die Realität nicht aus dem Nichts entsteht – sie wird von den Menschen geschaffen, auch oder gerade als Funktion der in eben dieser Realität wirkenden Kräfte.71 Daher muß die Wechselwirkung als eine dialektische Verbindung begriffen werden, nach der die Realität zwar die »Agenten« zur Verwirklichung der ihr innewohnenden Tendenzen erzeugt, aber ebenso auch die potentiellen »Agenten« zur Durchbrechung dieser Tendenzen; im nachhinein kann man immer behaupten, die Wende selbst sei eine Tendenz gewesen, dann aber freilich muß auf das, was wiroben als psychologische »Entscheidung« umschrieben haben, hingewiesen werden.

Die äußeren Ausdrucksformen der für das von uns anvisierte Zeitalter typischen sozialpsychologischen Tendenzen lassen sich in unzähligen historiographischen Werken72, publizistischen Aufsätzen und Schriften literarischer Prosa deutscher Verfasser im Vormärz deutlich erkennen. Wir haben darauf hingewiesen, daß dieser Zeitraum von besonderer Bedeutung sei, weil er dem ersten deutschen Revolutionsversuch vorangeht, den wir als entscheidenden Wendepunkt der modernen Geschichte dieses Landes erachten.73 Es darf wohl angenommen werden, daß eine erfolgreiche Beendigung der Revolution eine andere als die tatsächlich stattgefundene soziale und politische Entwicklung Deutschlands zur Folge gehabt hätte.74 Nachdem jedoch die Auflehnung gescheitert war, wurde der weitere Weg von Mächten der Reaktion vorgezeichnet, wobei der politische Liberalismus kapitulierte, sich den alt-neuen Zuständen anpaßte75, und die ohnehin spärlich vorhandenen demokratischen Kräfte machtlos auf die Fortsetzung eines jeglichen Kampfes von wirklicher Bedeutung verzichteten.76 Wir sind, wie gesagt, der Auffassung, daß das Scheitern der Revolution in erheblichem Maße dem Zurückschrecken der Revolutionäre vor dem Sturz der politischen Autoritäten zuzuschreiben sei, und diese Tatsache widerum sehen wir vor allem (und unabhängig von konkreten politischen Erwägungen, die sie bewogen haben mochten) als ein Resultat des für den entscheidenden Teil der an der Revolution aktiv Partizipierenden charakteristischen autoritären Patterns an.77

Unterschiedliche Erwägungen leiteten uns bei dem Entschluß, uns gerade auf die Historiker und deren Schriften zu beziehen.78 Erstens: Einige von ihnen gehörten selber den Revolutionären von 1848 an oder hatten doch zumindest eine »radikale« Vergangenheit aus der Zeit des Vormärz. Man kann sie also als einen politischen Faktor betrachten, welcher sowohl auf die die Revolution theoretisch legitimierende Ideologie als auch auf die Art und Weise, wie diese Revolution im entscheidenden Augenblick dann ausgetragen wurde, signifikanten Einfluß hatte. Zweitens: Die Geschichtswissenschaft erfährt gerade im Deutschland jener Epoche eine beschleunigte Entwicklung sowohl in methodisch-inhaltlicher als auch in institutioneller Hinsicht.79 Dieser Gesichtspunkt ist in unserem Zusammenhang von einiger Bedeutung, weil er mit der Einbindung verschiedener Aspekte der Konzeption deutscher Geschichtsschreibung in eine antirevolutionäre Ideologie aufs engste verknüpft ist, was (wie noch zu zeigen sein wird) in keinem Widerspruch zu unserer ersten Erwägung steht.80 Drittens: Obgleich wir prinzipiell nicht die Auffassung vertreten, daß die akademische Geschichtsschreibung den Anspruch erheben könne, einen allzu großen Einfluß auf die Bildung des historischen Bewußtseins der »breiten Masse« auszuüben, so kann doch kein Zweifel hinsichtlich ihres Anteils an der Kodifizierung des kollektiven Gedächtnisses bestehen.81 Es ist – so besehen – durchaus relevant zu untersuchen, welche Motive die deutschen Historiker ihrem Publikum vermitteln, und welche ideologischen Aussagen sich hinter diesen Motiven verbergen.82 Andererseits ist der Historiker selber nur ein Agent der »Tendenzen« der ihn umgebenden Realität; man kann ihn also als ein Paradigma der allgemeinen Rezeption historischer Geschehnisse begreifen, und je geladener das Ereignis in emotionaler Hinsicht ist (so wie wir es von der Französischen Revolution behaupten), desto anschaulicher erfüllt er seine objektive Funktion als symptomatischer Träger von »Tendenzen« der Realität, ideologischen Tendenzen zumal.83

TEIL I

1. KAPITEL
Die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution

»Jede Zeit sieht sich zwangsläufig vor die Aufgabe gestellt, die Geschichte neu zu schreiben. Sie kann nicht einfach das Bild, das sich frühere Geschlechter von der Vergangenheit gemacht haben, übernehmen und ihrem geistigen Besitz einverleiben, als wäre die überlieferte Leistung ihr eigenes Werk. […] An den berühmtesten Werken der Geschichtsschreibung vollzieht sich denn auch in der Einschätzung der Leser ein charakteristisches Schicksal. Die Zeitgenossen fassen sie auf als den Inbegriff der sachlich gültigen Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge. Sie gelten ihnen als die höchste Verdichtung des Wissens, das von einem bestimmten Gegenstande möglich ist. Den Nachfahren dagegen erscheinen diese Werke bewundernswert, sofern sie der Ausdruck einer Zeit und der Persönlichkeit des Geschichtsschreibers sind. Den Nachfahren verwandeln sie sich aus reinen Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in Zeugnisse einer menschlichen Haltung. Sie werden befragt nach dem, was sie über den Geschichtsschreiber selbst und die Zeit aussagen, in der dieser gelebt und gewirkt hat. Sie geben Anlaß zur Untersuchung und Darstellung der geschichtsphilosophischen und religiösen, der politischen und ethischen Anschauungen, durch die der Geschichtsschreiber bestimmt worden ist.«1

 

Es scheint, als gäbe es wenige historische Themen, die das Relative, weil Dynamische an der Rezeption eines historischen Ereignisses so beeindruckend dokumentieren, wie die Rezeption der Französischen Revolution. Man kann ohne weiteres behaupten, daß sich in der Geschichtsschreibung dieser Revolution eines der vielschichtigsten »Raschomons«, das das historische Forschungsterrain jemals hervorgebracht hat, darstellt.2 Hierfür gibt es vielerlei Gründe, wobei nicht alle mit jener zwangsläufigen Perspektivenänderung aus Gründen zeitlicher Verschiebung erklärt sind. Eine diskursive Theorie der Revolution z.B. findet sich schon zur Revolutionszeit sowohl unter ihren Verursachern als auch unter ihren Gegnern.3 Aber auch, wenn man sich vom Ereignis zeitlich entfernt und die aus »Objektivität« versprechender, historischer Perspektive verfaßte Geschichtsschreibung durchsieht, fällt doch ein ungewöhnliches Maß an Emotionalität ins Auge, das die sachliche Forschung und sogar die theoretischen Ableitungen durchdringt.4 Nicht von ungefähr trat daher François Furet mit der Erklärung, daß die »Französische Revolution beendet« sei, sowie mit der ironischen Forderung nach Gleichheit im Status des Historikers der Französischen Revolution und dessen, »der Studien über die Merowinger oder den Hundertjährigen Krieg treibt«, ohne sich »jeden Augenblick als Forscher […] legitimieren« zu müssen, hervor.5 Natürlich ist es nicht die professionelle Qualifikation, welche die Situation des Historikers der Revolution von der seiner Kollegen unterscheidet, sondern ein unentwegt reges öffentliches Klima, in dem »über die Revolution sprechen, [immer heißt]: über die Gegenwart sprechen«, wie, beispielsweise, der gefühlsgeladenen Kontroverse um Andrej Wajdas Film »Danton« im Jahre 1983 zu entnehmen ist.6 Der Historiker der Revolution wirkt in einem Rezeptionsfeld voller Gegensätze und Idiosynkrasien; er nährt zwar sein Publikum mit Daten und Befunden, mit Fakten und Analysen, aber die Rezeption seiner Schlußfolgerungen hängt nur in geringem Maß von der seiner Forschung inhärenten Logik ab, sie findet vielmehr vor allem durch die von vornherein mehr oder weniger gefestigten Rezeptionspattern seiner Leser statt. Hedva Ben-Israel hat zweifelsohne recht mit ihrer Feststellung, daß »die weitreichendsten Auswirkungen der Revolution bis hin zu unserer Zeit mit Sicherheit vom historischen Bewußtsein und von der Interpretation geprägt wurden«7; wie noch zu zeigen sein wird, war jedoch der Anteil der Historiker bei diesem Vorgang eher affirmativen als determinierenden Charakters. Die Historiker selbst waren mehr indizierendes Symptom des Rezeptionsprozesses als seine Gestalter. Es fragt sich daher: Worin wurzelt diese nicht abzubrechen scheinende, heftige Kontroverse?

Zunächst einmal und vor allem in der Revolution als historisch-sozialem Phänomen selbst. Von besonderer Bedeutung ist es nämlich, »ob ein Autor von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das von vornherein jede gewaltsame Umwälzung als illegitim und bedrohlich ansieht, oder ob er von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das Revolution als eine den Geschichtsprozeß vorantreibende Form des gesellschaftlichen Wandels begreift.«8 Diese paradigmatische Entscheidung ist mitunter auch für den spezifischen Fall der Französischen Revolution relevant, im Grunde liegt sie aber jedem Bild, das wir uns über Wesen und Entwicklung der Gesellschaft machen, zugrunde. Es leuchtet nur zu sehr ein, daß sich die klassischen Theorien der Soziologie im 19. Jahrhundert mit dem Konflikt als einem Schlüsselbegriff für die Erklärung sozialer Prozesse auseinandersetzten: Marx und seine Nachfolger sahen ihn als den sozialen Beziehungen immanent und für den Fortschritt notwendig an, wohingegen Durkheim und die struktur-funktionalistische Schule das Hauptgewicht auf die Frage der gesellschaftlichen Solidarität legten, wobei sie davon ausgingen, daß das Equilibrium erhalten und jede »Anomie«, gleichsam wie eine Krankheit, eliminiert werden müsse. Später versuchte man beide Auffassungen in der Synthese des sogenannten »funktionalen Konflikts« miteinander zu verknüpfen.9 Das Bedürfnis nach strukturanalytischer Durchdringung historischer Entwicklungsprozesse der Moderne bewirkte im 20. Jahrhundert verschiedene Definitions- und Theoretisierungsversuchen des Phänomens »Revolution«10, jedoch ohne bleibenden Erfolg11, denn die Möglichkeit einer theoretischen Konsolidierung ist durch einen von vornherein gegebenen Wertkonsens hinsichtlich des Phänomens selbst bedingt, und einen solchen, wie gesagt, hat es bislang noch nicht gegeben.

Dennoch scheint eine recht weit verbreitete Übereinstimmung bezüglich einer Auffassung der Französischen Revolution als Modell zu herrschen, wie Walter Bußmann behauptet: »Mögen die Definitionen von Revolutionsabläufen auch noch so verschieden sein, so besteht doch unter der Mehrzahl von Historikern und Sozialwissenschaftlern Einigkeit darüber, daß im Verlaufe der französischen Revolutionsphasen seit 1789 alle jene Merkmale nachweisbar sind, die dem Phänomen Revolution als einer ›Totalumwälzung‹ eigentümlich sind.«12 Karl Griewank schreibt dies der »den Franzosen besonders eigene Begabung für klare und klassische Formen« zu, welche »in den verschiedenen Stadien dieser Revolution Losungen und Vorbilder des politischen Denkens und Handelns [hat] entstehen lassen, die als allgemeingültig erscheinen konnten und zur Nachahmung herausforderten.«13 Mit Beziehung auf Jaurès und Mathiez sieht Georges Lefebvre in den verschiedenen Revolutionsphasen ein Bündel von Revolutionen, in welchem eine sich progressiv entwickelnde politische Linie erkennbar wird: Nach der Revolution des Adels und der des Dritten Standes ereignet sich am 10. August 1792 die demokratische und republikanische Revolution und am 2. Juli 1793 eine vierte, welche die soziale Demokratie vorzeichnet; er fügt noch hinzu, daß wenn Babeuf erfolgreich gewesen wäre, hätte es gar eine fünfte Revolution gegeben.14 Auch Walter Markov meint, das »dem Geist und der Sprache der Franzosen einwohnende Regelmaß« sei in dem »cartesianisch übersichtlichen Rhytmen-Ablauf« der Revolution zur Geltung gekommen: »Constitutionelles, Feuillants, Girondins lösten sich am jeweiligen Etappenziel der Umwälzung als adäquate Führungskerne ab, um ihrerseits am 2. Juni 1793 der Montagne zu weichen […]«.15

Die in diese Formulierung eingeschleuste Dramaturgie spiegelt wesentliche Elemente der marxistischen Revolutionstheorie wider: Hinter der Fassade politischer Auseinandersetzungen ereignen sich in Wahrheit soziale Kämpfe, welche als die eigentlich determinanten Faktoren der revolutionären Radikalisierung zu begreifen sind; die Radikalisierung muß ihrerseits als Ausdruck einer Notwendigkeit in zweierlei Hinsicht verstanden werden: einer subjektiven Notwendigkeit der Emanzipation von den durch die materielle Basis bestimmten sozialen Verhältnissen und einer objektiven Notwendigkeit der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur infolge eines wesentlichen Wandels dieser materiellen Basis selbst. Der latente Determinismus einer solchen Auffassung gründet praktisch auf der normativen Annahme eines Strebens des Menschen nach Emanzipation a priori und auf der induktiv konstruierten Voraussetzung eines immerwährenden Fortschritts in der Entwicklung der Produktionsmittel. Nicht immer befindet sich aber das subjektive Bewußtsein in Übereinstimmung mit der objektiven gesellschaftlichen Situation. Revolutionäres Bewußtsein manifestiert sich demzufolge in jenem Bewußtsein, das sich eine Einsicht in die Notwendigkeit des Kampfes um die Veränderung sozialer Verhältnisse im Sinne der eigenen (Klassen-) Interessen zueigen gemacht hat. Die praktischen Auswirkungen dieses Ausgangspunktes entspringen dem eine Vielfalt konkurrierender Interessengruppen erzeugenden gesellschaftlichen Antagonismus. Die Entfernung einer Klasse von ihren Herrschaftspositonen garantiert allerdings noch keineswegs die Erfüllung der Interessen der sich gegen sie erhebenden sozialen Gruppen; und da die klassische marxistische Theorie prinzipiell davon ausgeht, daß keine Phase der objektiven Entwicklung »übersprungen« werden könne, ist es quasi unumgänglich, daß sich im Rahmen der Revolution selbst eine evolutionäre Dynamik der einzelnen Phasen entwickelt. In dieser Hinsicht konnte sich die jakobinische Diktatur erst dann etablieren, nachdem die Girondisten die Anhänger der konstitutionellen Monarchie gestürzt und nachdem diese formal den Untergang des Ancien Régime herbeigeführt hatten. Die Radikalität verändert sich also im Zuge der objektiven Entwicklung, diese aber wird ihrerseits von den aufeinanderfolgenden Stadien des evolutionären Radikalisierungsprozesses bestimmt.16

Die Anziehungskraft dieses Paradigmas liegt in der ihm innewohnenden dialektischen Verbindung der nüchternen Analyse menschlicher Beziehungen im gesellschaftlichen Kollektiv mit der emanzipatorischen Verheißung einer möglichen Zukunft dieser Beziehungen. Es wundert daher nicht, daß die sozialistischen Historiker der Französischen Revolution und ihre Kollegen marxistisch-leninistischer Provenienz17 in ihm eine feste Basis für die Interpretation der Revolution als einem für die weiteren historischen Entwicklungen höchst einflußreichen Modell fanden, denn »erst nach 1789 kam der Gedanke auf, daß das Ziel einer politischen Revolution die soziale Emanzipation aller Menschen, die Umwandlung der Gesellschaftsstruktur selber, sei.«18

Andererseits genügte es, das Axiom des marxistischen Paradigmas (wonach die materielle Basis als Determinante zu erachten sei) in Zweifel zu ziehen, um zu einer völlig anderen Bewertung des Wesens der Französischen Revolution zu gelangen. In der wohl provokantesten Form vollzog dies François Furet und rief somit eine für die Fragestellung höchst relevante, wenn auch zuweilen polemische Debatte ins Leben.19 Nach Furets Auffassung handelt es sich bei der Französischen Revolution in erster Linie um eine politische Revolution. Er hat den Antagonismus zwischen den Abgeordneten der Nationalversammlung (die »Gesetze im Namen des Volkes, das sie angeblich vertreten«, machen20) und den Männern in den Sektionen und den Klubs (die »[das Volk] sind«21) im Auge, wenn er postuliert: »Das geläufigste Mißverständnis in der Historiographie der Französischen Revolution besteht darin, diese Zweiteilung auf einen sozialen Gegensatz zu reduzieren, indem man im voraus einer der rivalisierenden Mächten das zubilligt, was eben gerade das unbestimmte und buchstäblich ungreifbare Streitobjekt des Konflikts ist, nämlich das Vorrecht, den Volkswillen darzustellen.«22 Wenn also ein A.S. Manfred davon ausgeht, daß die Jakobiner als Partei des Bürgertums, der Bauern und der städtischen Plebejer das französische Volk vertraten, weil diese gesellschaftlichen Schichten eben die Majorität in ihm ausmachten23, so sieht Furet in der Konstruktion einer solchen »Volksfront« zur Zeit der Regierung des Wohlfahrtsausschusses eine »Scheinerklärung der politischen Dynamik der Französischen Revolution«, welche durch die Reduktion des Politischen auf das Soziale gerade das »normalisiert«, was es zu erklären gilt, »nämlich, daß die Revolution diese Symbolik in den Mittelpunkt des politischen Handelns stellte und daß die Machtkonflikte vorläufig durch sie und nicht durch die Klasseninteressen entschieden werden.«24 Eine solche Auffassung widerspricht auch der auf Plechanows Erörterungen fußenden Erklärung J.Sachers, wonach jeder Klassenkampf ein politischer sei, mit der entsprechenden Folgerung, die Sansculotten hätten sich mittels ihres politischen Kampfes die Erfüllung ihrer sozialen Aspirationen erhofft.25

Nicht nur hinsichtlich der direkten ideologischen Implikationen, sondern auch für die Strukturanalyse der revolutionären Anfangsphasen erweist sich Furets paradigmatische Modifikation als höchst bedeutungsvoll. Wenn, beispielsweise, Manfred die »künstliche Zergliederung des lebendigen Gewebes des historischen Prozesses« beklagt und (im Gegensatz zu den sozialistischen Historikern Frankreichs, welche die Zeit zwischen 1789 und 1794 in verschiedene Entwicklungsstadien untergliedern) deklariert, daß diese Zeit »einen einzigen, unteilbaren revolutionären Prozeß« bilde26, so sprechen Furet und Richet von drei schon im Sommer 1789 stattfindenden, verschiedenen und voneinander unabhängigen Revolutionen27: der Revolution der Abgeordneten in Versailles, der Revolution der kleinbürgerlichen Schichten in der Stadt und der Revolution der Bauern auf dem Land, wobei man wenigstens die zwei letzten dieser Revolutionen einer alten »Tradition« von Handwerker-, Gesellen- und Bauernrevolten zuzuordnen habe.

 

Diese Hervorhebung ist gewichtig, denn es deuten sich in ihr zwei weitere kontroverselle Aspekte der historiographischen Debatte an: das Problem der Ursachen der Revolution und die Frage nach dem Stellenwert der Revolution in der historischen Kontinuität. Auch in diesem Zusammenhang sind jedoch die Unterschiede nicht in den Fakten oder Befunden zu suchen, sondern vielmehr in den sich widersprechenden Interpretationen, welche ihrerseits wiederum von den unterschiedlichen paradigmatischen Ansätzen herrühren; die Ursachen der Revolution28 stellen sich hierbei als weniger umstritten heraus als die Bedeutungen, die ihren Auswirkungen beigemessen werden.

So beschreibt z.B. Markov ein engmaschiges Netz von wirtschaftlichen, politisch-sozialen und institutionellen Konfliktherden im Ancien Régime (und Mathiez spricht von dem sich täglich »vertiefenden Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und den Gesetzen, zwischen den Einrichtungen und den Sitten, zwischen dem Geist und dem Buchstaben«29), um resümierend zu folgern, daß das Unterfangen, jenen Staat »mit den Mitteln einer rationalen, d.h. in der Sache also bürgerlich-kapitalistischen Modernisierung leistungsfähiger zu gestalten, ohne seinen feudalen Klassencharakter anzutasten«, einer »Quadratur des Kreises« gleiche.30 Die historisch-materialistische Schule vertritt also die Auffassung, daß die einzelnen antagonistischen Erscheinungen objektiv als Hebel zur Zerschmetterung von Struktur und Gestalt des alten feudalen Staates dienten – dies zumindest von jenem Zeitpunkt an, wo das Bürgertum genügend entwickelt und konsolidiert war, um die Beseitigung der Diskrepanz zwischen seiner wirtschaftlichen und seiner konkreten politischen Macht anzustreben.31 Andererseits sind sich auch marxistische Verfasser dessen bewußt, daß man den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht als ein kurzfristiges revolutionäres Ereignis begreifen könne:

»Als bürgerliche Revolution bildet die Französische Revolution nicht selbst einen solchen Übergang, vielmehr wird dieser erst durch die Industrielle Revolution zwischen 1830 und 1860 vollzogen […]. Aber indem die Revolution das Gesellschaftssystem des Ancien Régime und gleichzeitig auch das damit verbundene absolutistische Staatswesen zerstörte, ebnete sie den Weg […] und verwirklichte sie die notwendigen Voraussetzungen für den Aufschwung des liberalen Kapitalismus.«32

Diese makrohistorische These des Marxismus rief eine besonders heftige Kritik hervor.33 Furet rechnet in diesem Zusammenhang mit der Vulgarisierung der Marxschen Lehre in der Historiographie der Französischen Revolution ab, indem er behauptet, sie stelle »die Welt auf den Kopf«, weil sie außerstande sei, sich von den Illusionen und Werten des historischen revolutionären Bewußtseins zu lösen. Das Ergebnis sei ein Versäumnis, gerade »das radikal Neueste und Geheimnisvollste an der Französischen Revolution« zu erfassen, denn weder der Kapitalismus noch die Bourgeoisie hätten, um sich auszubreiten und die wichtigsten europäischen Länder des 19. Jahrhunderts zu beherrschen, Revolutionen nötig gehabt: »Aber Frankreich ist das Land, das durch die Revolution die demokratische Kultur erfindet und das der Welt einer der grundlegenden Bewußtseinslagen des historischen Handelns offenbart.«34 Im ersten Teil dieser Äußerung kommt die Annahme zum Ausdruck, der Feudalismus als soziales und wirtschaftliches System habe schon in der Periode vor der Revolution und ohnehin in dieser selbst keinen Bestand mehr gehabt, und daß von daher der Gebrauch des Begriffs »Feudalismus«, sowohl in der Revolutionszeit als auch in der nachmaligen Interpretation, die Erfassung des Prozesses konzeptuell entstelle. Albert Soboul hingegen akzeptiert zwar die Ablehnung des Vergleichs des mittelalterlichen Feudalismus mit den herrschenden Zuständen um 1789, er besteht gleichwohl aber darauf, daß »für die Zeitgenossen, die Bürger und noch mehr für die Bauern dieser abstrakte Begriff eine Realität umschloß, die ihnen sehr bekannt war (Feudalrechte, lehensherrliche Gewalt) und die schließlich hinweggefegt wurde.«35

Die Debatte um diesen Aspekt der Revolutionsinterpretation spiegelt ein grundlegendes Mißverständnis in bezug auf die Bedeutung der Französischen Revolution bei Marx und Engels wider. Dieses Mißverständnis hängt mit dem Gebrauch des Begriffs »bürgerliche Revolution« zusammen, und nach Eberhard Schmitt stehen in dieser Hinsicht Furet und Richet den »beiden Klassikern der materialistischen Geschichtsschreibung« näher als die heutigen Marxisten-Leninisten. Er weist darauf hin, daß, ähnlich wie Marx und Engels, auch die beiden französischen Historiker die Revolution als einen »Übergang von der altständischen Privilegiengesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, vom absolutistischen Staat zum modernen Repräsentativstaat« begreifen, und daß auch sie das »Hauptergebnis der Revolution für die soziale Schicht der Bourgeoisie« in der »Errichtung des Staatsführungsmonopols« sehen.36 Es handelt sich hierbei freilich um ein vermeintliches Paradox: Zunächst muß vorausgeschickt werden, daß sich weder bei Marx noch bei Engels eine systematische Analyse der Französischen Revolution findet, und daß sich jedes Unterfangen, ihre Einstellung zu dieser darzustellen, zwangsläufig auf sporadisch auftretende, zuweilen aphoristische Äußerungen, die an verschiedenen Stellen ihrer Schriften verstreut sind, stützen muß.37 Beide begriffen sich ja selber nicht als ideographisch operierende Historiker; die spezifische historische Erscheinung oder Gestalt dient ihnen oft lediglich als pointiert symbolische Illustration einer Behauptung, die sich strukturell in ihre allgemeine Geschichtstheorie einfügt. Marx’ berühmtes Diktum in der »Heiligen Familie« gibt hierfür ein gutes Beispiel ab:

Die »französische Revolution [hat] Ideen hervorgetrieben, welche über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung, welche 1789 im Cercle social begann, in der Mitte ihrer Bahn Leclerc und Roux zu ihren Hauptrepräsentanten hatte und endlich mit Babeufs Verschwörung für einen Augenblick unterlag, hatte die kommunistische Idee hervorgetrieben, welche Babeufs Freund, Buonarroti, nach der Revolution von 1830 wieder in Frankreich einführte. Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes.«38

Es steht wohl außer Frage, daß dieser tolldreiste Sprung vom Cercle social des Jahres 1789 bis hin zur Revolution von 1830 – wobei ein Robespierre und ein Marat übergangen werden, dafür aber Roux (den Richard C. Cobb als »eine der sympathischsten Persönlichkeiten der Revolution« beschreibt, die gleichwohl kein »Vorläufer irgendeines politischen Glaubens des 19. oder 20. Jahrhunderts« gewesen sei) und Leclerc (von dem Cobb meint, er habe »kein wirkliches Verständnis für die Nöte des Volkes« gehabt39) ausdrückliche Erwähnung finden – nicht den Anspruch erhebt, den Verlauf der Französischen Revolution widerzuspiegeln; und dennoch sind in ihm wichtige Elemente der Marxschen Revolutionsinterpretation enthalten: Die Französische Revolution »treibt« die Idee eines neuen Weltzustandes hervor, deren Verwirklichung in eine unbestimmte Zukunft verlagert wird. D.h., Marx würdigt wohl die höchste Bedeutung der Revolution als Etappenstation auf dem Weg zum erstrebten Ziel der sozialen Revolution, er gibt sich jedoch keinerlei Illusion hin, was das in dieser Revolution unmittelbar Erreichte anbelangt.40 Wohl sieht er die Notwendigkeit einer politischen Revolution ein, ist sich aber auch ihrer Grenzen bewußt, wie seine Stellungnahme zur Pauperismusfrage deutlich genug bezeugt.41