Das Trauma des "Königsmordes"

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Auch Alfred Cobban registriert eine Metamorphose in der Entwicklung Robespierres vom Oppositionsmann zum Herrscher; er widersetzt sich jedoch Aulards Auffassung, daß es sich hierbei um politischen Opportunismus gehandelt habe. Er legt dar, daß Robespierre weder seine demokratischen Ideale verlassen noch bewußt den Tyrannen gespielt habe; bis zu seinem Ende sei die Wahrung der politischen Freiheit sein höchstes Ziel gewesen, und er habe für Prinzipien gekämpft, die in den heutigen demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich erscheinen mögen, unter den gegebenen Umständen seiner Zeit jedoch kaum verwirklichbar gewesen seien. »Seine verzweifelten Versuche, konsequent zu bleiben, zeugen nicht von Heuchelei, sondern vielmehr von der Aufrichtigkeit seiner Zielsetzung.«98

Albert S. Manfred hebt zwar die erkennbare klassenbezogene Dimension in der Gestalt Dantons, der ab 1793 einen Anziehungspunkt für diejenigen Elemente in den jakobinischen Reihen, welche mit der neuen Bourgeoisie verbunden waren, dargestellt habe, betont aber gleichzeitig, es bestehe nicht die geringste Notwendigkeit, »für Robespierre ein genaues soziales Äquivalent oder ein Etikett zu suchen, um ihn in die eine oder andere Kategorie des Mittel- oder Kleinbürgertums einzureihen.« Es genüge festzustellen, »daß Robespierre während der Revolution die Interessen des französischen Volkes vertrat und verteidigte.«99

Für Martin Göhring verkörpert Danton »das Ungebundene, Urwüchsige«. Seine »wilde Kraft« habe ihn dazu getrieben, »Menschen aufzuwühlen und in Bewegung zu setzen«; er sei jedoch nicht als blinder Zerstörer oder Anarchist anzusehen, sondern vielmehr als »eine einzigartige Mischung von brutaler Gewalt und jovialer Schlauheit, von Verwegenheit und List.«100 Ein politisches Konzept habe er zwar nicht gehabt und als Politiker habe er letztlich versagt; sobald indes die Rede vom Vaterland, von Frankreich, gewesen sei, habe sich dieses ungestüme Wesen als Versöhner entpuppt, der, über persönlicher Abneigung stehend, die politischen Gegner zur Einheit gegenüber der äußeren Bedrohung aufruft und anfeuert.

Die Gestalt Robespierres beschreibt Göhring als den vollkommenen Gegensatz zu der Dantons. Neben der leidenschaftlich quellenden Persönlichkeit des Führers der Cordelliers erscheint Robespierre als nüchterner Mensch von scharfem, kompromißlosem Geist, der sich »ganz langsam« und mit großer Beharrlichkeit »nach vorne« durchkämpfen muß. So beschaffen, hat er keine andere Wahl, als sich das ihm »angeborene Mißtrauen« zunutze zu machen: »Männer wie Robespierre, die nicht durch die physische Erscheinung, durch äußere Gaben der Natur als Führergestalten gezeichnet sind und nicht starken Magneten gleichen, die durch ihre Masse anziehen, sind notwendigerweise an das Mißtrauen gebunden. Danton war es fremd. Welche Gegensätze sind diese Männer, die nebeneinander der Revolution dienen!«101 Göhring akzeptiert nicht die pauschalisierenden Angriffe auf Robespierre. Die Behauptung Frankreichs in der kritischen Zeit der Revolution sei untrennbar mit seinem Namen verbunden, so auch die Organisation und Konsolidierung des Wohlfahrtsausschusses. Er sei »ein Demokrat reinsten Wassers« gewesen, der an die von ihm vertretenen Anschauungen unbeirrbar geglaubt habe; dementsprechend wäre es auch verfehlt, ihn als »Terroristen schlechthin« abzutun – Grausamkeit im gewöhnlichen Sinn habe er nicht gekannt und zweckloses Morden sei ihm zuwider gewesen. Dennoch seien in ihm die Eigenschaften eines »politischen Inquisitors« erkennbar, der sich schematisch von einer dualistischen Auffassung der Menschen leiten lasse. Aus diesem Grund sei er auch als Staatsmann gescheitert, als es an ihm gelegen hätte, für die Normalisierung zu sorgen (die große Versöhnung herbeizuführen), nachdem die großen Gefahren vergangen waren. Dazu sei er unbefähigt gewesen, weil ihm eben der Begriff der Synthese fremd war. Alles in allem bleibe er jedoch »Künder einer Idee, die für sich genommen, groß und erstrebenswert erscheint«.102

Es ist schließlich Furet, der den Versuch unternimmt, die metaphorisierende Verknüpfung von Gestalt und historischem Prozeß aufzulösen, indem er die Gestalt Robespierres, samt ihrer psychologischen Eigenschaften, vom Symbol der Revolution in deren Funktion (rück)verwandelt. Seiner Auffassung nach ist Robespierres Darstellung als diktatorisches Ungeheuer ebenso unsinnig, wie die Bezeugung seiner Unbestechlichkeit zwecklos erscheint.

»Der diesen beiden Schulen gemeinsame Widersinn liegt darin, daß man die geschichtliche Rolle, die die Ereignisse ihm aufzwangen, und die Sprache, die sie ihm eingaben, den psychischen Eigenschaften des Mannes zuschreibt. Was aus Robespierre eine unsterbliche Gestalt macht, ist nicht, daß er ein paar Monate lang Herr über die Revolution war, sondern daß die Revolution aus ihm mit der zugleich tragischsten und reinsten Stimme spricht.«103

Es stellt sich indes heraus, daß das Bedürfnis nach Individualgestalten als Symbole politischer, sozialer und moralischer Anschauungen ungleich stärker geprägt ist, als die Einsicht in die Beschränktheit ihrer epistemologischen Gültigkeit. So registrierte schon Cunow die Mannigfaltigkeit der Attribute, die die Historiographie des 19. Jahrhunderts Marat anhängte: Er ist einerseits »brutaler Zyniker«, andererseits »uneigennützigster Humanitätsapostel«; die einen sehen in ihm einen »überspannten, von wildem Ehrgeiz gepeitschten leidenschaftlichen Fanatiker«, den anderen gilt er als »Verrückter und Narr«; mit Vorliebe wird er als »blutige Bestie« betrachtet, und für Göhring verkörpert er gar als »hemmungsloser Demagoge« in »Wort und Tat, in Gebärde und Haltung die schwarze Kehrseite der Revolution«.104 Als noch problematischer entpuppt sich die Personofizierung sozialer Randgruppen und Unterschichten, welche »durch ihren politischen Extremismus den Weg zu einer neuen Ordnung, von der sie selbst zerrieben werden«, öffnen.105 Um dieses Element der Revolution als historisches Subjekt präsentieren zu können, muß man ihn in »Masse«, »Volk«, »Nation«106 oder, im differenzierteren Fall, in »Sansculotten« verwandeln; es tritt dann allerdings gemeinhin in seiner Funktion als Anhängerschaft dieser oder jener politischen Führer auf, welche ihrerseits von ganz anderen gesellschaftlichen Schichten abstammen. Die anonyme Masse bringt – so will es scheinen – keine authentischen Führer hervor, die ein adäquates historiographisches Symbol abgeben könnten.

Genau hierauf bezieht sich Walter Markov, wenn er vom »Elend der [historischen] Biographie« spricht. Er bezichtigt die bürgerlichen Historiker einer bewußten, ideologisch motivierten historiographischen Verdrängung von Gruppen, wie der Bewegung der »Enragés«, und wirft ihnen abschätzige Überheblichkeit vor. Diese Verdrängung resultiere aus einer augenscheinlichen Verwechslung zwischen Jakobinismus und Volksbewegung: »Was jenseits des ›Berges‹ lag, versperrte sich von vornherein die Anerkennung als mitbestimmendes Element im Revolutionsprozeß. Die Herolde einer Klasse, die sich soeben anschickte, die Kommandobrücke der Weltgeschichte zu besetzen, spürten keine Veranlassung, ihrem Gegner von morgen zu einem anfeuernden Urbild zu verhelfen.«107 Markovs Held ist Jacques Roux; sowohl in seiner sozialen Abstammung als auch in seinem Wirken und seinem Schicksal verkörpere er die ungeschriebene Geschichte der unteren Schichten sowohl in der Revolutionszeit als auch nach ihr. Markov meint, es sei der Druck der sansculottischen »Alternativen« gewesen, welche die Jakobiner »zum Erkundungsvorstoß an die äußerste Belastungsgrenze bürgerlicher Demokratie« gezwungen hätte108, er ist sich freilich aber auch dessen bewußt, daß die Volksbewegung kein »Glück auf Erden« zu erwarten hatte – weder von den Jakobinern noch von sich selbst, wenn sie im Jahre 1794 unter Führung der Cordelliers zur Herrschaft gelangt wäre. Er selber behauptet, es habe nicht wenig »Desperados und Wirrköpfe« gegeben, welche nicht der radikalen Linken der Enragés zuzurechnen seien. Und dennoch: Mag es auch nicht in ihrem Sinne gelegen haben, die Jakobiner von der Macht zu stürzen, so sei es doch der herausragende Vertreter der Enragés, Jacques Roux, gewesen, der dem Grundsatz Ausdruck verliehen habe, den nicht jeder laut zu denken bereit gewesen sei: »Daß das ›nützliche Volk der Armen‹ zum Segen der Revolution in ihr verbleiben müsse, um sein Wort zu sagen und nicht den Eigentumskatechismus einer anderen Klasse nachzuplappern«; genau das sei ihm allerdings von der Montagne, »sobald sie sich fest im Sattel wähnte«, strikt verwehrt worden.109

Roux’ Ende ist zwar exemplarisch, jedoch nicht unbedingt im Sinne seiner spezifischen sozialen Zugehörigkeit. Die Revolution frißt bekanntlich ihre Kinder; betrachtet man jedoch das Fazit, so ist freilich die Feststellung unumgänglich, daß letztlich Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten und aller politischen Strömungen in dieser oder jenen Phase der Revolution ihr Leben lassen mußten. Von Anfang an war daher die Geschichtsschreibung der Revolution vor einem Sonderproblem gestellt, sobald sie daran ging, sich mit dem Phänomen des gewaltsamen Todes (einem integralen Bestandteil jener Epoche) auseinanderzusetzen. Auch wenn man die vorherrschende historiographische Linie des 19. Jahrhunderts, nach der Terror und Mord unausweichliche Ergebnisse der von der jakobinischen »Pöbelherrschaft« hervorgebrachten politischen Anarchie und Sittenlosigkeit darstellten, übergeht, und sich der Rezeption im 20. Jahrhundert zuwendet, trifft man selbst bei Anhängern der Revolution auf eine unterschwellige Apologie, sobald sie sich auf ein Phänomen wie das der »Septembermorde« beziehen. Es versteht sich von selbst, daß auch in diesem Zusammenhang die Darstellungstaktiken und die aus ihnen hervorgehenden Schlußfolgerungen nicht einheitlich sind.

 

Mathiez – nachdem er wohlweislich dargelegt hat, daß es Danton gewesen sei, der nichts dagegen hatte, »daß das Volk ›sich selbst Recht schaffe‹« – erwähnt die aufpeitschenden Reden der Sektionsvertreter in der Kommune, während die Sektionen selbst mit der allgemeinen Rekrutierung und den Vorbereitungen für den patriotischen Kampf gegen die äußeren Feinde der Revolution beschäftigt waren. Er beschreibt zwar in Kürze die Greuel der Gemetzeltage und redet auch von einem »Blutrausch«, betont aber ausdrücklich, die Bevölkerung habe »diese Schreckensszenen teils gleichgültig, teils mit Genugtuung« hingenommen und benutzt den Brief der Madame Julien vom 2. September, um klarzustellen, daß »das in seinem Zorn furchtbare Volk [Rache nimmt] für die Verbrechen, die feiger Verrat drei Jahre lang an ihm begangen hat«.110 Eng damit verbunden ist für Mathiez das »patriotische Fieber«, die Hingabe und die Aufopferung, welche die Sektionen in den damals stattfindenden Vorbereitungen zum bevorstehenden Krieg charakterisiert hätten, und so folgert er: »Das Erhabene und das Ungeheuerliche berührten sich.«111

Auch Soboul erwähnt die »quälende Furcht vor Verrat«, welche die Bevölkerung am Vorabend der Ereignisse gepeinigt habe. Aus seiner Darstellung geht hervor, daß der Anlaß für die Ereignisse in den gegen die eidverweigernden Priestern unternommenen Schritte zu sehen sei, und daß »nach der Konzeption der Volkssouveränität […] die Ausübung der Gerichtsbarkeit direkt zu dieser Souveränität, deren sich das Volk dann wieder unmittelbar bemächtigt, wenn es not tut«, gehöre. Soboul begnügt sich jedoch nicht mit der nationalen Dimension der »Reaktion des Volkes« (der Angst vor den einmarschierenden Preußen), sondern verbindet sie mit einem sozialen Aspekt: »Zu der Angst um die Nation kam […] noch die soziale Angst: Angst um die Revolution und Furcht vor der Konterrevolution. Das aristokratische Komplott bedrückte erneut die Gedanken der Patrioten.« Soboul vermeint also einen Zusammenhang zwischen den »Septembermorden« und dem »sozialen Haß«, der angesichts der »Umstände« nur zu verständlich gewesen sei, zu erkennen, und somit erhält das Massaker für ihn einen nahezu symbolischen Charakter: »Zu keinem anderen Zeitpunkt der Revolution zeigte sich die enge Verbindung des nationalen Problems mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in dieser Deutlichkeit.«112

Das im Zusammenhang mit der Rezeption der »Septembermorde« natürliche Gefühl der Doppelwertigkeit ruft bei gewissen Historikern das Bedürfnis nach eindeutiger Aussage hervor, damit sich das Phänomen als integraler Bestandteil der Revolution einfügen lasse. Für Peter Fischer stellen sie daher »eine Strafaktion des Volkes gegen Elemente, die irgendwie in die Konspiration mit dem Ausland verwickelt waren«, dar; man habe in ihnen demgemäß »eine Tat des wachsenden Selbstbewußtseins« zu erblicken, »ein Exempel, das zeigen sollte, daß man mit dem Volk nicht mehr so umspringen könne wie bisher.« Problematisch und »ein Gegenstand des Abscheus« seien die »Septembermorde« ohnehin erst dann geworden, »als sich für die Gironde Gelegenheit bot, sie den Männern des Berges in die Schuhe zu schieben«.113

Eine solche Resolutheit kann freilich gerade im besagten Zusammenhang nur von den wenigsten Historikern geteilt werden. Das Gefühl der Ambivalenz und des Geheimnisvollen dominiert für gewöhnlich die Betrachtungsweise der meisten von ihnen. George Rudé z.B. sieht die Ereignisse zwar in der »panischen Angst« vor der Bedrohung durch Konterrevolution und Invasion begründet, betont aber doch, daß sich diese »mysteriöse Episode« exakter Analyse entziehe114. Ähnlich begreift auch Vovelle die »panische Reaktion« auf die »doppelte Furcht« als »eines der dunkelsten Kapitel der Revolution.« Er hebt hervor, daß neben Aristokraten und Priester auch »unzählige Strafgefangene« unterschiedslos hingemeuchelt worden seien, und so stellt für ihn das Septembermassaker das große Kontrastbild zu Valmy dar.115

Furet und Richet unterstreichen den sozialpsychologischen Aspekt der Septembermorde und verschieben somit die Gewichtung einer vorgeblichen bewußten sozialen Dimension der Aktion. Zwar verbindet sich für sie die Tatsache, daß fast Dreiviertel aller Getöteten gewöhnliche Kriminelle waren, damit, daß sie »besonders verhaßt waren, weil in den Kerkern falsche Assignaten angefertigt wurden«, aber im Grunde – so kann man ihrer Argumentation entnehmen – seien die von der »panischen Angst vor dem Verrat« herrührenden »vernebelten Gewissen« eine Reaktion auf tiefer liegende historische Vorbelastungen gewesen: »Noch einmal erhob sich aus dem Dunkel des Unterbewußtseins die jahrhundertealte Furcht der Geknechteten dieser Welt und entlud sich in einem Delirium kollektiver Gewalttätigkeit.«116 Die Verfasser stützen sich auf Jaurès’ Diktum, daß die Angst keine revolutionäre Kraft sei, um sowohl auf die Notwendigkeit des Geschehens als auch auf das ihm einwohnende Paradox hinzuweisen: »Für den Augenblick, kurzfristig, tritt die Revolution des Elends, der Leidenschaften und der rächenden Gewalt in den Vordergrund, und die eigentliche Revolution ist ohnmächtig ohne diese zweite.«117

Komplizierter und wohl auch von größerer ideologischer Bedeutung als die »Septembermorde« scheint das Thema des Terrors in der Französischen Revolution zu sein, weil sich seine historiographische Deutung nicht in die Unverbindlichkeit einer spontanen, kurzfristigen oder gar unbewußten »Episode« flüchten kann. Die sogenannte »Schreckensherrschaft« war ein bewußt eingesetzter und, zumindest in den Anfängen, wohl organisierter politischer Akt.118 Sein historisches Echo ist noch deutlich in Georges Sorels Erörterung des Zurückschreckens vor proletarischer Gewalt vernehmbar: »[…] die geringste Beobachtung genügt hier für die Feststellung, daß die proletarischen Gewalttaten eine Menge peinlicher Erinnerungen an jene Vergangenheit wachrufen; man beginnt unwillkürlich an die revolutionären Überwachungsausschüsse, an die Roheiten argwöhnischer, plumper und durch die Furcht betörter Beamten sowie an die Tragödien der Guillotine zu denken.«119

In der Darstellung Lefebvres verbinden sich die der Anwendung des Terrors zugrunde liegenden psychologischen Bedürfnisse mit ihrer politischen Funktionalität: Von Anfang an habe sich in der revolutionären Mentalität der Wille zur Bestrafung mit der Verteidigung gegenüber dem »aristokratischen Komplott« vermischt. Nach den »Septembermorden« habe man beschlossen, den Terror zu organisieren, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholten; die revolutionäre Regierung sei jedoch nicht imstande gewesen, die Repression zu kontrollieren, daher habe man sie erweitern und dezentralisieren müssen, was zur Folge gehabt habe, daß der Terror ungleichmäßig und teilweise willkürlich ausgeübt wurde. Den sozialen Aspekt der Schreckenspraxis sieht Lefebvre darin verkörpert, daß nicht nur Aristokraten, sondern auch reiche Kapitalexporteure, Gegner des Maximums, der Annahme von Assignaten abgeneigte Geschäftsleute und eidverweigernde Priester zu »Volksfeinden« erklärt und als solche verfolgt worden seien. Diese Erweiterung der »Verdächtigen«-Liste sei zwar nützlich gewesen, habe allerdings auch mit sich gebracht, daß viele, die bereit waren, der Revolution zu gehorchen, obwohl sie nicht zu ihren Anhängern zählten, nun vollends vor ihr zurückschreckten. Der Terror habe seinen Zweck als Mittel zur Wiederherstellung der staatlichen Autorität erfüllt, aber nur solange er durch die Revolutionsregierung beherrscht wurde; je weiter der Begriff des »aristokratischen Komplotts« gefaßt wurde, desto mehr habe die Regierung die Kontrolle verloren, seien die gerichtlichen Verfahren vereinfacht und die Hinrichtungen bis zum Exzeß betrieben worden. Erst als »der Sieg der Revolution nicht mehr zu bezweifeln war und die Angst vor dem aristokratischen Komplott sich verflüchtigte, verschwand auch der Wille zur Bestrafung und das Fieber des Volkes sank.«120

Guérin bezieht sich in erster Linie auf die langfristige revolutionäre Bedeutung der terroristischen Diktatur. »Die große Lehre von 1793« erblickt er nicht nur in der Lebensfähigkeit der »direkten Demokratie«, sondern auch darin, »daß die Avantgarde einer Gesellschaft, ist sie auch gegenüber der Masse des Landes, die sie mit sich reißt, noch in der Minderheit, in dem Kampf auf Leben und Tod, wie dies eine Revolution ist, unvermeidlich der Mehrheit ihren Willen aufzwingen muß, zuerst und vorzugsweise durch Überzeugung, wenn diese nichts fruchtet, durch Zwang«. Mit zwei verschiedenen Typen der Repression habe man es im Jahre 1793 zu tun gehabt: »[…] mit der bürgerlichen Diktatur von oben, jener der Revolutionsregierung, und mit dem revolutionären Zwang von unten, jenem der bewaffneten Sansculotten, die in ihren Klubs und in der Kommune demokratisch organisiert waren.«121

Soboul verweilt zwar bei Fällen unbegründeten Blutvergießens und offenbar unmotivierter Grausamkeit des sansculottischen Terrors; er widersetzt sich jedoch der pauschalisierenden Meinung, diese psychologische Einzelerscheinungen seien charakteristisch gewesen für eine vorherrschende Vorliebe der Sansculotten für die Guillotine. Ähnlich wie bei der Rezeption der »Septembermorde«, begreift er die in den Gefahrmomenten auftretende Gewalttätigkeit von sonst ruhigen Menschen als eine Heftigkeit, welche »ein klares politisches Ziel und einen Klasseninhalt« gehabt habe. Die Guillotine sei volkstümlich gewesen, weil man in ihr »ein Racheinstrument der ganzen Nation« gesehen, und sich der »Klassenhaß gegen die Aristokratie« zu einer der »treibenden Kräften« für den »Volkszorn« seit 1789 gesteigert habe. Wie Lefebvre faßt auch Soboul den Terror von 1794 als Mittel zur Lenkung der Wirtschaft auf: »[…] durch ihn war das allgemeine Maximum wirklich zur Anwendung gekommen, das dem Volk sein tägliches Brot sicherte.« Freilich, gerade weil der Terror Klasseninteressen gedient habe, sei es unumgänglich gewesen, daß er früher oder später die Krise heraufbeschwörte; stellte er doch einen Widerspruch zu den politischen Auffassungen der Bourgeoisie und eine Bedrohung ihres Herrschaftsmonopols dar. Der Sturz des »Schreckensregimes« sei also unvermeidbar gewesen.122

Demgegenüber widersetzt sich Furet dem apologisierenden Versuch, die Terrorherrschaft als Funktion notwendiger, unumgänglicher »Umstände« analysiern zu wollen. Ein solcher Ansatz sei eine Art Variante der schon zur Revolutionszeit vorherrschenden »Verschwörungsthese«, welche tendiere, eher Dinge als Menschen zu beschuldigen. Er lehnt sich vor allem gegen die aus dieser Denkweise hervorgehenden Schlußfolgerung auf, daß somit »die historische Initiative zugunsten der Kräfte, die der Revolution feindlich gesonnen sind,« verdrängt werde: »Dies ist der unvermeidliche Preis für einen Freispruch der Revolution hinsichtlich der Schreckensherrschaft.«123 Furet dreht also den Spieß um. Im Grunde – so postuliert er – gehöre die Schreckensherrschaft zur revolutionären Ideologie; diese Ideologie sei es, welche die Bedeutung der »Umstände« steigere, zu deren Entstehen sie aber weitgehend selber beitrage: »Es gibt keine revolutionären Umstände, es gibt nur eine Revolution, die sich aus den Umständen nährt.«124

Es läßt sich indes behaupten, daß die Rezeption des der Revolution ihr »erschütterndes Kolorit« gebenden Terrors125 weniger, als es bei anderen Phänomenen der Fall ist, durch den historiographischen »Raschomon« und durch die zeitliche Entfernung vom historischen Ereignis beeinflußt worden sei. Noch Anfang der fünfziger Jahre, d.h. also nach den entsetzlichen Greuel zweier Weltkriege und des Holocausts, verbinden sich für Martin Göhring die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts mit dem Terror der Französischen Revolution; nachdem er in seinen Ausführungen die Inquisition und die Hexenverfolgungen kurz gestreift hat, gelangt er zur jakobinischen Phase der Revolution, zu der er feststellt:

»Jetzt entsteht vor den Augen der Welt ein System des Terrors in bisher nicht gekannter Form, auf rein politischer Grundlage, und man entsetzt sich über die blutigen Verirrungen einer großen Nation. Lange hat das Entsetzen angehalten. Inzwischen aber hat die Menschheit andere Schrecken gesehen. Die Bestie ist auchin den Menschen anderer Völker durchgebrochen, sie hat ihre Opfer gefordert, das Recht verhöhnt, Menschen vergewaltigt. Heiligste Güter sind zynisch in den Schmutz getreten und im Namen der Menschlichkeit ist Unmenschliches verübt worden. So beruht die historische Bedeutung der Schreckensherrschaft des Konvents eigentlich in erster Linie darin, der modernen Geschichte das erste Beispiel eines solchen Systems gegeben, gezeigt zu haben, welcher Mittel eine Minderheit sich bedienen kann, um sich und eine Revolution zu verteidigen.«126

 

Es geht nicht eindeutig hervor, welche »andere Schrecken« Göhring meint. Bezieht er sich auf den deutschen Faschismus oder etwa auf den sowjetischen Totalitarismus, wie dem Ausdruck »Unmenschliches im Namen der Menschlichkeit« und dem Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Buches, der Zeit des Kalten Krieges, zu entnehmen wäre. Wie dem auch sei, die nebulöse Unklarheit an sich ist schon symptomatisch. Ist doch die Französische Revolution, eines der meisterforschten Themen neuerer Geschichte127, im Laufe ihrer langen historiographischen Reise zu einer Art Beziehungsfolie geworden, mittels der sowohl die ihr voraufgegangenen Abläufe als auch die nachfolgenden Entwicklungen aufs gegensätzlichste gewertet werden.128 Soboul glorifiziert ihre Großartigkeit als eine gleichzeitig bürgerliche und demokratische Revolution; mit Beziehung auf einen Ausdruck Jaurès’ unterscheidet er sie von ihren englischen und amerikanischen Vorgängerinnen, welche »borniert bürgerlich und konservativ« geblieben seien, und stellt fest: »Ob bewundert oder gefürchtet – die Revolution lebt im Bewußtsein der Menschen weiter.«129 Schon im Jahre 1931 erklärt Eugen Rosenstock-Huessy:

»Die französische Revolution ist noch heute in aller Munde. Zwischen ihr und der russischen Revolution steht die europäische Welt. Der einzelne Europäer muß seinen Standpunkt wählen im bürgerlichen oder im nichtbürgerlichen Lager. Das bürgerliche Lager aber ist das Lager der Ideen von 1789. Es ist das Lager der liberalen Grundsätze von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der bürgerliche Bewohner unseres Erdteils lebt also unter der Bürgschaft der bürgerlichen Revolution. Aber auch der unbürgerliche Sozialist oder Kommunist oder Bolschewist sieht die Welt im Lichte der Gesellschaftssordnung von 1789. Er bekämpft die bürgerliche Gesellschaft. […] Sie begreift ihm die gesamte Vergangenheit in sich, aus der er die Zukunft herauszuschlagen hofft.«130

Diese Sicht der revolutionären Auswirkungen verdeutlicht sowohl die Totalität des Einflusses, den die Französischen Revolution auf die heutige Auffassung der politischen und gesellschaftlichen Praxis ausübt, als auch die in ihr enthaltene antizipierende Dimension. Die Antizipation selbst wirkt in zweierlei Richtungen: Das eine historiographische Lager bedient sich der Französischen Revolution als Vergleichsmodell zur Analyse der Gegenwart und zur Wertung des in ihr verborgenen Entwicklungspotentials – die Tendenz dieser Auffassung ist auf die Verhinderung der Reproduktion der Geschichte gerichtet. Im »rationalen« Fall rührt die mit dieser Tendenz einhergehende Furcht von einem Assoziationssystem her, welches (wie es beispielsweise Taine tut) das Verhalten der revolutionären Menge dem eines Betrunkenen gleichsetzt: erst sei er fröhlich, dann euphorisch und brüderlich, schließlich aber zunehmend gewalttätig, irrational und »mordlustig«. Nicht von ungefähr behauptet Vovelle, hinter dieser anthropomorphen Reduktion verberge sich ein Erklärungsmodell, wonach die Menge entweder infantil oder betrunken sei.131 Im »irrationalen« Fall wurzelt die Angst vor der Revolution in einem regressiven Pattern, welches die Revision der Geschichte anstrebt. Die Tatsache, daß neoroyalistische Verfasser, wie Gaxotte oder Aubry, in einem solchen Geiste schreiben, überrascht dabei weniger als die »bedeutende Resonanz«, welche ihren Auffassungen in der Öffentlichkeit zuteil wird.132 In beiden Fällen geht die Assoziation des Infantilen aus der Furcht hervor: Im ersten Fall projiziert sie der Historiker auf seinen Forschungsgegenstand, die Menge; dieses Vorgehen ermöglicht die Distanzierung von eben dieser Menge als einsehbare Konsequenz aus der Delegitimierung ihres mündigen Auftritts auf der Bühne der Geschichte – Kinder haben auf dem Spielfeld der Erwachsenen sozusagen nichts verloren. Im zweiten Fall verharrt das »Infantile« im Historiker selbst, und er flüchtet sich in den nachkonstruierten Schutz eines väterlichen Königs. Die Tatsache, daß der »König«, auch als politisches Paradigma, tot ist und nicht mehr existiert, ist in diesem Zusammenhang von minderer Bedeutung. Wie wir im Verlauf unserer Untersuchung noch zu zeigen haben werden, kann die kollektiv-psychische Realität ungleich persistenter und stärker sein als der Bezug zu Tatbeständen der objektiven Wirklichkeit.

Das zweite historiographische Lager bedient sich der Französischen Revolution zur Antizipation der nachfolgenden Revolutionen. So registriert etwa Guérin eine »evidente« Verbindung »von der Kommune von 1793 zu der von 1871 und zu den Sowjets von 1905 und 1917«. Sacher weiß zwar, daß die Enragés weder Kommunisten noch Sozialisten sein konnten, doch behauptet er, »ihr profunder Egalitarismus« habe sie »zu Vorläufern des Sozialismus« gemacht. Griewank erklärt, die Französische Revolution habe »an der Wiege« des Bürgerkönigtums von 1830, der parlamentarischen Republik von 1848, der bürgerlichen Republik von 1870 wie der Pariser Kommune von 1871 gestanden, und Soboul stellt fest, aus der Französischen Revolution seien Ideen hervorgegangen, die (nach Marx’ Diktum) »›über die Ideen des ganzen alten Weltzustandes‹ hinausweisen: die einer neuen Gesellschaftsverfassung, die nicht mehr die bürgerliche Ordnung sein wird.«133 Aus einem solchen Blickwinkel wird also die Französische Revolution als Meilenstein im Emanzipationsprozeß der Menschheit begriffen, wenn nicht gar als dessen Ausgangspunkt. Sie selbst hat den Menschen zwar nicht von seinen sozialen Zwängen befreien können, aber ihre ideellen und mentalen Ergebnisse – das in ihr verkörperte historische Paradigma – fungieren als Ansätze zukünftiger progressiver Entwicklungen, welche (so die marxistischen Lehre) die soziale Revolution als Manifestation des immerwährenden Klassenkampfes zum Inhalt haben. Aus dieser Perspektive kann Jaurès’ emphatische Deklaration, die Revolution sei noch nicht beendet, als nur zu folgerichtig erachtet werden; ihre Spuren lassen sich jedenfalls in der bis in die Gegenwart hinein andauernden historiographischen Debatte um das Ende der Revolution verfolgen.134

Es ist dieser »finalistische« Ansatz, den wiederum Furet der Kritik unterwirft: Obgleich sich offenbar nach der Revolution von 1917 alles geändert habe, projizierten die Historiker der Französischen Revolution ihre Wertung des Jahres 1917 auf die Vergangenheit, indem sie die antizipatorischen Elemente der ersten Revolution hervorheben. Das Ergebnis sei auch nicht zu verkennen: »Die Bolschewisten haben jakobinische Vorfahren, und die Jakobiner nahmen die Kommunisten in gewisser Weise vorweg.«135 Um den Teufelskreis dieser historiographischen Tradition zu durchbrechen, unterscheidet Furet zwischen dem Wertsystem der »linken Kultur« und dem »Verhängnis der kommunistischen Erfahrung im 20. Jahrhundert«; auf dieser Grundlage attackiert er die Verknüpfungbeider Revolutionen unter Verwendung des sowjetischen Totalitarismus als Kriterium:

»Im Jahre 1920 rechtfertigte Mathiez die bolschewistische Gewalt im Namen vergleichbarer Umstände mit dem französischen Vorbild. Heute führt uns der Gulag dazu, la Terreur, die Schreckensherrschaft, wegen einer gewissen Identität der Absichten neu zu überdenken. Die beiden Revolutionen bleiben miteinander verknüpft; aber vor einem halben Jahrhundert wurden sie systematisch freigesprochen, mit einer Entschuldigung, die von den ›Umständen‹, d.h. von äußeren und ihrem Wesen fremden Erscheinungen hergeleitet wurde. Heute beschuldigt man sie im Gegenteil, wesensgleiche Systeme peinlich genauer Zwangsausübung auf Körper und Geist zu sein.«136