Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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George schlang seinen Arm um sie und Linda atmete tief durch, um ihre Fassung zurückzugewinnen. »Dann waren auf einmal die beiden da.« Sie blickte zu Cam und Ella. »Und – ich weiß nicht, was sie gemacht haben, aber sie haben Lily und Sam aus diesem Ding herausgeholt und es vernichtet.«

Jetzt tropften doch Tränen aus ihren Augen, als sie ihrer Tochter einen Kuss aufs Haar gab und ihrem Sohn über den Kopf strich. »George hat recht. Wir verdanken euch das Leben unserer Kinder.« Sie blickte von Cam zu Ella. »Und nein, das ist nicht selbstverständlich. Das ist etwas, das wir euch niemals vergessen werden.«

Ella und Cam lächelten verlegen.

»Was ich nicht verstehe«, sagte George, »ist, wie dieses Biest auf unser Grundstück kommen konnte. Wir haben Eisenzäune und Schutzpflanzen. Das sollte Geister doch eigentlich fernhalten, oder nicht?«

»Was für ein Geist war es denn?«, fragte Sky. »Wenn er kein Geisterleuchten an sich hatte, sondern schwarz war, klingt es nach einem Schatten oder Hocus. Hat das Biest irgendwelche Laute von sich gegeben?«

»Nein. Es war ein Schatten.« Cam setzte sich auf und zog seine Hand aus Gabriels. »Er war ziemlich stark. Aber Ella und ich haben es geschafft, ihn auseinanderzureißen, bevor er den Kids zu viel Energie rauben konnte.«

Ella betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln, das Cam nicht verstand.

»Na, das erklärt es dann. Starke Geister schaffen es manchmal, Schutzbarrieren zu überwinden«, meinte Connor an George und Linda gewandt. »Besonders in Unheiligen Jahren. Außerdem ist nächste Woche Vollmond und wir nähern uns dem Äquinoktium. Ich fürchte, da werden Geisterübergriffe in geschützte Bereiche noch öfter vorkommen. Vor allem dort, wo Kinder wohnen.«

»Habt ihr Taschenlampen mit Magnesiumlicht?«, fragte Gabriel. »Die sind zwar teuer, bieten allerdings dafür auch einen ganz guten Schutz gegen Geisterangriffe.«

»Wir haben eine«, antwortete George. »Aber ich schätze, für die dunkle Jahreszeit rüsten wir da noch auf.«

»Vielleicht sollten wir auch noch mal durchrechnen, ob wir uns nicht doch eine Beleuchtung im Vorgarten leisten können«, meinte Linda mit Blick zu George. »Ich weiß, es ist teuer, aber wenn wir zusammenlegen …«

Georges Eltern lebten mit im Haus.

Er nickte. »Wir reden mit ihnen.«

»Und wir sollten sie anrufen. Damit sie vorsichtig sind, wenn sie nach Hause kommen. Sie sind mit Freunden bowlen gegangen«, erklärte Linda für die anderen.

Gabriel stand auf. »Ich gehe raus und parke euren Wagen in der Garage. Dann lass ich das Tor auf, damit eure Eltern reinfahren können, ohne aussteigen zu müssen. Der Bewegungsmelder fürs Licht funktioniert doch noch, oder?«

Linda nickte. »Nur das Tor ist kaputt. Und danke, das wäre großartig.«

»Kein Ding, wo ist der Schlüssel?«

Unsicher hob Linda die Schultern. »Ich glaube, den hab ich vor dem Tor fallen gelassen. Aber ich weiß es nicht genau.«

»Ich finde ihn schon.« Gabriel zog eine Taschenlampe aus seiner Jackentasche.

»Ich komme mit dir«, bot Connor sofort an.

»Ich auch.« Sky stand ebenfalls auf. »Dann können wir auch gleich noch nachsehen, ob da draußen noch mehr Geister herumlungern.«

Die drei verschwanden zur Haustür.

Phil beendete seine Untersuchung bei Sammy und strubbelte seinem kleinen Patienten durch die Haare. »Das hast du toll gemacht.«

»Ist er in Ordnung?«, fragte George besorgt.

Phil nickte. »Seine Körpertemperatur ist noch ein bisschen niedrig, aber Herzschlag und Atmung sind völlig normal. Ihr müsst euch also keine Sorgen machen.« Er schaute zu Lily. »Weißt du noch, welche Medizin ich euch verschrieben hab?«

Lily nickte. »In der Badewanne planschen, Abendessen, kuscheln und heiße Milch mit Honig trinken«, zählte sie gewissenhaft auf und hob bei jedem Punkt einen Finger.

»Sehr gut.«

Lily grinste stolz.

»Das ist wirklich alles?«, hakte Linda nach.

»Ja, keine Sorge. Die zwei sind gesunde Kids, sie werden das gut wegstecken. Was ihnen an Energie und Körperwärme noch fehlt, regenerieren sie über Nacht. Aber falls wirklich noch irgendwas sein sollte, ruft an. Egal zu welcher Zeit. Dann komme ich noch mal her und sehe nach ihnen.«

»Danke.«

Phil schüttelte den Kopf. »Keine Ursache. Dafür bin ich ja da.« Dann wandte er sich zu Ella um. »Dir geht es gut?«

Sie nickte und stand vom Boden auf. »Yep. Mir ist nur kalt und ich muss aus den nassen Klamotten raus.«

»Und was ist mit dir?« Phil hockte sich zu Cam und fühlte seine Hände und Stirn.

»Nur noch ein bisschen k. o.« Cam fröstelte. »Und ich muss auch aus den nassen Klamotten raus.«

Phil nahm kurz seinen Puls und nickte dann. »Eine heiße Dusche ist sicher auch eine gute Idee.«

»Und Abendessen!«, rief Lily eifrig. »Und dann kuscheln und eine heiße Milch mit Honig!« Sie hüpfte von der Couch und schlang ihre Arme um Ella. »Danke, dass du mir geholfen hast. Du bist sooo cool!« Sie strich mit ihren Fingern über die Linien an Ellas Stirn. »Wenn ich groß bin, werde ich auch eine Totenbändigerin und dann mach ich auch böse Geister kaputt!«

Alle mussten schmunzeln und Phil half Cam auf die Beine.

Der Schwindel meldete sich zurück, genauso wie das Pochen an den Schläfen.

»Geht es?« Phil musterte seinen Sohn prüfend, als der leicht schwankte und noch eine Spur blasser wurde, als er es ohnehin schon gewesen war.

Cam atmete tief durch und schüttelte ihn ab. »Ja, alles gut.«

Linda und George erhoben sich. »Danke noch mal für eure Hilfe. Ohne euch …«

Sue strich Linda über den Arm. »Sehr gern geschehen. Und jetzt hakt es ab und denkt nicht mehr zu viel darüber nach.«

Gabriel, Connor und Sky erschienen wieder in der Tür.

»Draußen ist alles friedlich.« Gabriel reichte George den Schlüssel. »Das Auto ist geparkt und der Bewegungsmelder funktioniert einwandfrei. Eure Eltern sollten also keine Probleme haben, wenn sie heimkommen. Falls aber doch irgendwas komisch sein sollte, riskiert nichts und ruft an. Wir sehen uns das dann an.«

»Danke.«

»Kein Ding.« Er musterte Ella und Cam. »Jetzt bringen wir aber erst mal euch zwei nach Hause. Ihr seht so aus, als könntet ihr dringend eine Riesenportion großmütterlicher Fürsorge vertragen. Und vor allem eine heiße Dusche und trockene Klamotten. Also Abmarsch.«

Sie verabschiedeten sich von den Archers und eilten durch den Regen hinüber zu ihrem Zuhause. Erschöpft vom kurzen Spurt lehnte Cam sich gegen die Hauswand, während Sue die Tür aufschloss.

»Warum bist du eigentlich nicht genauso kaputt wie ich?«, grummelte er, als Ella unverschämt munter durch die Tür schlüpfte, kaum dass sie offen war, während er nur völlig erledigt hinter ihr her tappen konnte.

Ella wandte sich zu ihm um. »Ist das jetzt ein Scherz?«

Verständnislos schüttelte er den Kopf. »Nein. Warum?«

Sie hob eine Augenbraue. »Du hast echt nicht gemerkt, dass du den Schatten fast im Alleingang plattgemacht hast? Du hast so heftig an dem Biest gezerrt, dass du mich fast von den Füßen gerissen hättest. Alles, was ich machen konnte, war, mich dagegenzustemmen. Ich hab zwar geholfen, ihn auseinanderzureißen, aber ich konnte nichts von seiner Todesenergie zu mir ziehen, weil du alles aus dem Biest zu dir gezerrt hast. Hast du das wirklich nicht gemerkt?«

Verwirrt runzelte Cam die Stirn. »Nein. Ich – ich wollte bloß nicht, dass der Schatten Sam und Lily tötet.«

»Alle Achtung. Scheint so, als hättest du dafür ein paar Superkräfte entwickelt.« Gabriel knuffte ihm gegen die Schulter.

Cam strafte ihn mit einem vernichtenden Blick, doch bevor er irgendwas sagen konnte, zog Connor ihn ebenfalls auf.

»Ist in der Schule vielleicht irgendwas Außergewöhnliches passiert? Wurdest du im Chemieunterricht zufällig von einer radioaktiven Spinne gebissen, oder so?«

Gabriel lachte auf. »Genau! Spider-Cam!«

Cam schnaubte.

Das Letzte, was er haben wollte, waren irgendwelche bescheuerten Superkräfte, die ihn noch freakiger machten, als er es ohnehin schon war.

Er verkniff sich aber eine Antwort und rempelte sich bloß an den beiden vorbei Richtung Treppe.

»Hey, du bist jetzt nicht wirklich angepisst, oder? Was ist los?«

»Nichts!«

Gabriel packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Das hier ist nicht nichts. Was ist los? Connor und ich haben nur einen blöden Witz gemacht.«

»Ja, total lustig«, gab Cam biestig zurück. »Ich hab innerlich ganz laut gelacht.« Er riss seinen Arm aus Gabriels Griff und stieg so schnell es seine müden Knochen erlaubten die Treppe hinauf.

»Was war das denn?« Verwirrt blickte Connor ihm hinterher. »Er ist doch sonst nicht so empfindlich.«

Phil stellte seine Arzttasche einsatzbereit neben die Haustür und seufzte. »Wer weiß, was da gerade mal wieder in ihm vorgeht.« Er blickte zu seinem Ältesten. »Kläre das, okay? Ich will keinen Streit zwischen euch. Cam kämpft gerade schon an genug Fronten. Er braucht nicht auch noch eine zwischen euch.«

Gabriel hob die Hände. »Glaub mir, die brauche ich auch nicht.« Er wandte sich der Treppe zu.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Connor. »Was auch immer los ist, ist ja irgendwie auch meine Schuld.«

»Nein, ich mach das schon. Das ist so ein Brüder-Ding.« Gabriel verschwand in die oberen Stockwerke.

Ella blickte ihm nach. Sie hasste es, wenn es in ihrer Familie Streit gab.

»Hey.« Sue zog sie in ihre Arme. »Keine Sorge. Du kennst die zwei doch. Die kriegen das wieder hin.« Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Und ich hoffe, du weißt, wie stolz dein Dad und ich auf dich und Cam sind.«

 

Ella hob bloß die Schultern. »Ich glaube, so richtig hat da keiner von uns drüber nachgedacht. Als Sam und Lily geschrien haben, sind wir einfach losgerannt.«

Phil strich ihr liebevoll über die regennassen Haare. »Genau deshalb sind wir stolz auf euch. Weil es für euch selbstverständlich ist, zu helfen. Und jetzt geh duschen und dann komm essen. Granny will mit Sicherheit alle Einzelheiten über eure Heldentat hören.«

Edna kam aus der Küche und trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. »Das will ich allerdings. Also beeilt euch. Alle. Das Abendessen ist gleich fertig.«

Cam warf die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu, kickte seine Schuhe von den Füßen und verdrehte die Augen, als es klopfte.

»Geh weg!«

Ihm war kalt, er war kaputt und er wollte einfach nur kurz seine Ruhe haben. War das echt zu viel verlangt?

»Tut mir leid, das kann ich nicht.« Gabriel öffnete die Tür und trat ein. »Nicht, bevor du mir nicht gesagt hast, was los ist. Normalerweise bist du nicht auf den Mund gefallen, wenn dich irgendjemand von uns ärgert. Was war also so schlimm an dem blöden Witz, den Connor und ich gemacht haben, dass du jetzt nicht mehr mit mir reden willst?«

Genervt verpasste Cam einem seiner Schuhe einen Tritt quer durchs Zimmer. »Ich hab keine Ahnung, welche kranken Experimente in den ersten vier Jahren meines Leben mit mir gemacht wurden, also sorry, dass ich es nicht witzig finde, wenn ich plötzlich irgendwelche freakigen Superkräfte an den Tag lege, von denen kein Mensch weiß, wo sie herkommen und was sie bedeuten! Ich dachte, du verstehst das und reitest nicht noch darauf herum.«

Unwirsch strich er sich die nassen Haare aus der Stirn, fühlte sich aber zu k. o., um mit seinem Bruder zu streiten. Er wollte ihn bloß loswerden und allein sein. »Aber egal. Ich muss duschen und mich umziehen, also geh jetzt bitte einfach.« Er streifte seine Jacke ab und warf sie aufs Bett. »Und wenn Phil dich geschickt hat, weil er nicht will, dass wir uns streiten – keine Sorge, gleich beim Abendessen ist alles wieder gut. Aber jetzt brauche ich einen Moment für mich alleine, okay?«

Gabriel musterte ihn einen Moment lang und schüttelte dann den Kopf. »Warum zum Henker denkst du immer so schlecht von dir?«

Cam warf einen beschwörenden Blick an die Zimmerdecke. »Wieso kannst du nicht einfach gehen und mich in Ruhe lassen?«

»Weil du mein Bruder bist und ich gerade nicht weiß, ob ich mir Sorgen um dich machen muss. Also noch mal: Warum zum Henker denkst du so schlecht von dir?«

»Keine Ahnung! Vielleicht, weil ich ätzende Träume habe, bei denen ich starr vor Angst bin, ohne, dass ich überhaupt weiß, was ich geträumt hab?«, gab Cam entnervt und mit einer gehörigen Portion Zynismus zurück. »Oder weil ich ständig unruhig und nervös bin, und es dafür keinen vernünftigen Grund gibt? Oder weil Vollmond und Unheilige Nächte mich halb wahnsinnig machen? Such dir was aus! Es fühlt sich alles beschissen an! Warum sollten also irgendwelche bescheuerten Superkräfte etwas Gutes sein?«

»Cam, du hast keine Superkräfte. Du bist einfach nur ein ziemlich starker Totenbändiger. Das warst du schon immer.«

Aufgebracht kickte Cam auch seinen zweiten Schuh durchs Zimmer. »Ja, aber keiner weiß, warum meine Kräfte so stark sind, weil keiner weiß, was mit mir passiert ist!«

Seufzend trat Gabriel einen Schritt auf seinen Bruder zu. »Aber deswegen sind deine Kräfte doch nichts Schlechtes. Was man dir als Kind angetan hat, war grausam und es ist absolut unentschuldbar. Aber es macht dich nicht zu einem schlechten Menschen oder einer Gefahr für andere. Und falls diese Experimente dazu geführt haben, dass deine Totenbändigerkräfte sich stärker ausgeprägt haben als bei anderen, hat dir das in dieser schrecklichen Nacht, als Thad dich gefunden hat, vermutlich das Leben gerettet. Deine Kräfte sind also etwas verdammt Gutes. Und du hast sie all die Jahre immer weitertrainiert und gefestigt und noch stärker gemacht. So stark, dass du den Schatten vorhin wahrscheinlich auch ohne Ella hättest besiegen können. Das ist überhaupt nichts Schlechtes, sondern etwas, auf das du stolz sein kannst. Ich bin es auf jeden Fall. Und falls du dich entschließen solltest, nach der Schule zu uns in die Spuk Squad zu kommen, würde ich dir jederzeit und ohne zu zögern mein Leben anvertrauen.«

Cam konnte ihn nur stumm anschauen und hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte.

Doch Gabriel schien auch keine Antwort von ihm zu erwarten. Er zog in bloß kurz in seine Arme und schob ihn dann Richtung Tür. »Und jetzt solltest du wirklich duschen gehen. Sonst fängst du dir womöglich noch einen Männerschnupfen ein und du weißt ja: Der kann tödlich sein.«

Gemeinsam traten sie auf den Flur hinaus und wären fast mit Jules zusammengeprallt, als der die Treppe hochgestürmt kam.

»Shit, was ist denn mit dir passiert?«, fragte er erschrocken, als er Cam sah.

»Kleine Auseinandersetzung mit einem Schatten«, antwortete Gabriel. »Cam und Ella fanden es nicht okay, dass das Biest Lily und Sam töten wollte.«

Jules’ Augen weiteten sich. »Ernsthaft?«

Cam hob die Schultern und nickte.

Gabriel grinste. »Super-Cam hat den Schatten aber gnadenlos plattgemacht und Sammy danach das Leben gerettet.«

Cam verdrehte die Augen. »Echt jetzt?« Er runzelte die Stirn. »Und war ich vorhin nicht noch Spider-Cam?«

Lachend strubbelte Gabriel ihm durch die feuchten Haare. »Wie wäre es mit Super-Spider-Cam?«

Planlos, was zwischen den beiden gerade abging, hob Jules eine Augenbraue.

Cam verdrehte nur erneut die Augen. »Frag nicht.« Dann trollte er sich ins Badezimmer.

Jules sah ihm hinterher und blickte dann zu Gabriel. »Hat er wirklich einen Schatten plattgemacht?«

»Yep.« Gabriel klopfte ihm kurz auf die Schulter und ging dann zur Treppe. »Beeil dich. Ich verspreche dir, die Sache wird das Gesprächsthema Nummer eins beim Abendessen.«

Kapitel 11


Samstag, 7. September

Jaz hockte im Schutz einer Platane auf der Begrenzungsmauer des Sainsbury’s Parkplatzes und beobachtete das Treiben vor dem Supermarkt. Es war später Samstagnachmittag und nur noch mäßig voll. Viele hatten die Einkäufe fürs Wochenende bereits erledigt.

Jaz fluchte innerlich. Sie hätte früher herkommen sollen. Aber wie in fast allen Nächten dieser Woche war sie auch in der letzten immer wieder von ihren Schlafplätzen vertrieben worden. Als sie sich dann kurz nach dem Öffnen der Stadtteilbibliothek in die hinterste Leseecke verkrochen hatte, war sie dort in einem der Sessel todmüde eingeschlafen. Das Personal hatte sie kurz vor dem Schließen gefunden und Jaz hatte so getan, als ob sie nur kurz weggenickt wäre, doch die Blicke der beiden Frauen hatten Bände gesprochen. Offensichtlich sah man ihr so langsam an, dass sie kein Zuhause mehr hatte.

Ganz toll.

Sie hatte versucht, unter überdachten Eingängen von Häusern und Shops Schutz vor dem verfluchten Dauerregen zu finden, doch in den besseren Gegenden war sie von Anwohnern und Ladenbesitzern verjagt worden und in den mieseren Stadtteilen waren die trockenen Plätze im Bereich von sicheren Straßenlaternen feste Reviere von anderen Obdachlosen.

Obdachlose …

Jaz sträubte sich noch, sich dazuzuzählen, auch wenn sie eigentlich Realistin war und die Augen vor der Wahrheit nicht verschließen durfte. Und die Realität waren Halsschmerzen und ein Husten, der langsam wehtat. Nach der ersten Regennacht hatte es mit einem leichten Kratzen im Hals angefangen, das zuerst nur beim Schlucken genervt hatte, mittlerweile aber dauerschmerzte. Nach der zweiten nassen Nacht war der Husten dazugekommen, der in der letzten Nacht noch schlimmer geworden war. Den Dauerregen hatte Petrus in den frühen Morgenstunden zwar endlich eingestellt, fiesen Niesel schien er sich aber nicht verkneifen zu können und für Anfang September war es zudem auch schon ziemlich kalt.

Ein Tropfen fand den Weg durch das dichte Blätterdach der Platane und landete auf Jaz’ Knie. Genervt unterdrückte sie ein Husten.

Seit drei Tagen waren all ihre Klamotten mehr oder weniger nonstop feucht. Sie hatte zwar versucht, die Öffnungszeiten von Bibliotheken und Einkaufszentren auszunutzen, um sich dort im Warmen und Trockenen aufzuhalten, doch sie wollte nicht zu lange an einem Ort bleiben.

Bloß nicht auffallen.

Bei einer herumlungernden Totenbändigerin kamen die Leute zu schnell auf den Gedanken, die Polizei zu rufen. Oder sie sorgten gleich selbst für Recht und Ordnung. Deshalb war Jaz jedes Mal nach spätestens einer Stunde weitergezogen – und dabei immer wieder patschnass geworden.

Scheißwetter.

Sie konnte nicht noch eine weitere Nacht in Nässe und Kälte verbringen, sonst war sie morgen richtig krank. Sie spürte es bereits in ihren Knochen. Und richtig krank zu werden, konnte sie sich nicht leisten.

Sie brauchte eine Unterkunft. Irgendein winziges Hotelzimmer. Nur für ein oder zwei Nächte. Eine heiße Dusche. Ein Bett zum Durchschlafen. Nur bis es ihr wieder besser ging und dieser verdammte Regen vorbei war.

Doch sie hatte gerade mal noch vierzig Pfund. Dafür gab es in London nicht mal in der miesesten Absteige ein Zimmer. Nicht, wenn sie keinen Stress mit Zuhältern und Drogendealern haben wollte.

Und das kam nicht infrage. Niemals.

Sie hatte versucht, ihr Geld so gut es irgendwie ging, zusammenzuhalten. Zu essen gab es nur das billigste Toastbrot, das sie im Supermarkt hatte finden können. Aber in den Nächten brauchte sie Kaffee, um die Kälte zu vertreiben und wachsam zu bleiben. Dreimal hatte sie Geister bändigen müssen, weil sie sich nicht hatten abschütteln lassen. Das hatte ihr zusätzliche Kälte eingebracht. Und tierischen Hunger am nächsten Morgen. Nach der Übelkeit beim Geisterbändigen kam der immer, weil ihr Körper seine Energiereserven wieder aufladen musste. Und das ging nicht nur mit pappigem Toastbrot. Dafür hatte sie ein paar ordentliche Sandwiches gebraucht. Einen Apfel. Eine Banane. Denn dass ihr Körper schlappmachte, durfte sie nicht riskieren. Sie wollte schließlich nicht als Geisterfutter enden.

Genau deshalb durfte sie auch nicht noch schlimmer krank werden, also musste für die nächste Nacht genug Geld für ein billiges Zimmer her.

Fröstelnd zog sie die Schultern hoch, ignorierte so gut es ging Magenknurren, Halsschmerzen und dass Hoodie und Jeansjacke mehr als nur feucht waren.

Der Husten kratzte wieder im Hals und Jaz versuchte vergeblich, ihn zu unterdrücken. Ihre Brust schmerzte als der Anfall vorbei war.

Verdammt, sie brauchte nicht nur einen trockenen Schlafplatz und eine warme Dusche. Sie brauchte auch eine ordentliche Mahlzeit, heißen Tee und vielleicht sogar ein paar Medikamente, um schnell wieder fit zu werden.

Ihre Finger spielten mit der silbernen Wallnusshälfte. Bisher hatte der kleine Briefbeschwerer ihr kein bisschen weitergeholfen. Sie hatte alle Adressen abgeklappert, die sie von Pfandleihern und Läden, die Silber ankauften, herausgesucht hatte. Und sogar noch ein paar mehr. Doch es war immer dasselbe gewesen. In den seriösen Geschäften hatte man nichts von einem Deal mit ihr wissen wollen, da sie sich nicht ausweisen konnte und keine Papiere für den Briefbeschwerer hatte. Und in den weniger seriösen Shops wurden ihr nur lachhaft schlechte Angebote gemacht, weil die Händler genau wussten, dass Jaz nichts dagegen tun konnte.

Seufzend steckte sie das kleine Silberding zurück in ihre Hosentasche. Irgendwie schien sich in den letzten Tagen alles gegen sie verschworen zu haben.

Sie ließ ihren Blick wieder über den Parkplatz wandern. Wer noch fehlende Einkäufe fürs Wochenende erledigt hatte, verstaute sie so schnell es ging im Kofferraum und sah dann zu, dass er ins Warme und Trockene nach Hause kam.

Jaz beneidete jeden Einzelnen von ihnen.

Und sie hatte ein schlechtes Gewissen.

Was sie vorhatte war mies, keine Frage.

Aber ätzende Zeiten verlangten ätzende Maßnahmen.

 

Sie beobachtete eine ältere Frau, die mit einem vollbeladenen Einkaufswagen aus Sainsbury’s herauskam und ihn durch die Nieselschleier schnell quer über den Parkplatz hin zu einem Kombi schob.

Nicht schlecht.

Die alte Lady machte zwar einen rüstigen Eindruck, aber Jaz war ziemlich schnell. Selbst angeschlagen würde sie sicher entkommen können und die Linien an ihrer Schläfe würden die Frau vermutlich ohnehin davon abhalten, ihr nachzulaufen. Wenn die Menschen Angst vor Totenbändigern hatten, warum sollte sie das dann nicht ausnutzen?

Jaz sprang von der Mauer und schulterte ihren Rucksack. Ein letzter Blick über den Parkplatz, doch in ihrer unmittelbaren Nähe war gerade niemand.

Gut so.

Zielstrebig, aber nicht zu auffällig lief sie in Richtung Kombi. Die Frau musste Mitte bis Ende sechzig sein. Durchschnittliche Größe, durchschnittliche Figur, braunes Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war. Für ihr Alter schien sie recht fit zu sein und anscheinend hatte sie für eine halbe Kompanie eingekauft. Als sie sich bückte, um von der unteren Ablage des Einkaufswagens einen Karton mit Pastatüten und Reispaketen in den Kofferraum zu hieven, rannte Jaz los.

Die Handtasche der Frau lag im Kofferraum. Blitzschnell packte Jaz zu und wollte genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen war. Doch sie hatte die alte Lady unterschätzt. Die ließ sich nämlich kein bisschen überrumpeln. Sie rammte den Einkaufswagen gegen Jaz und presste sie damit an den Kombi.

»Was soll denn das?« Die Frau wirkte eher verärgert als erschrocken oder gar verängstigt. »Leg meine Tasche zurück und zwar sofort.«

Jaz schnaubte nur und drehte den Kopf, für den Fall, dass die Alte wegen des Hoodies das Zeichen an ihrer Schläfe noch nicht bemerkt hatte – oder glaubte, die weinroten Haare wären bloß gefärbt.

Mit provozierendem Blick streckte Jaz ihre Hand nach einer der Hände aus, die den Einkaufswagen gegen sie pressten, und ließ ein bisschen ihres Silbernebels ihre Finger umspielen.

»Lassen Sie mich gehen, sonst töte ich Sie«, zischte sie drohend.

Noch immer trat keine Angst in den Blick der Frau, nur Unmut und – Mitleid?

»Kind, solche Drohungen ziehen bei mir nicht. Ich weiß, wie deine Kräfte funktionieren und auch, wie ich mich dagegen wehren kann. Und du solltest nicht mit solchen Einschüchterungen arbeiten. Damit schürst du nur die Ängste und Vorurteile gegenüber Totenbändigern und damit tust du euch keinen Gefallen.«

Was?!

Wollte die Alte ihr gerade ernsthaft erklären, wie diese beschissene Welt funktionierte und wie sie sich darin zu verhalten hatte? Nicht wirklich, oder?

»Lassen Sie mich gehen!«, zischte sie erneut und musste kurz husten.

»Wenn du meine Tasche zurück in den Kofferraum legst. Ich habe keine Lust, Führerschein und Ausweispapiere neu zu beantragen. Die Bürokratie in dieser Stadt ist zum Haareraufen. Und wenn du auf Geld aus bist, hättest du mich überfallen sollen, bevor ich den Wocheneinkauf für einen neunköpfigen Haushalt samt Dackel und zwei Kater erledigt habe. In meiner Börse sind nur noch zehn Pfund und ein bisschen Kleingeld. Was immer du vorhast, damit kommst du nicht weit.«

»Sie wird überhaupt nicht weit kommen, weil ich ihr gleich den Hals umdrehe«, knurrte eine Stimme von rechts.

Shit.

Ein muskulöser Typ Mitte zwanzig schob einen Einkaufswagen voller Getränkekästen zum Kombi. Neben ihm lief ein Mädchen mit blaugrünen Haaren und einer Beanie mit Regenbogenringeln. Sie musste ungefähr so alt sein wie Jaz, vielleicht ein bisschen jünger, und trug mehrere Pakete Klopapier und Küchenrollen. Beide waren Totenbändiger und vor allem der Typ musterte Jaz mit finsterem Blick. Er keilte sie mit dem zweiten Einkaufswagen zusätzlich ein, packte sie grob am Arm und riss ihr die Handtasche aus der Hand – alles in einer fließenden Bewegung und so schnell, dass Jaz nichts dagegen tun konnte.

»Hast du gedacht, es wäre easy, mal eben eine wehrlose ältere Frau zu überfallen?«, fragte er angewidert und packte Jaz’ Arm noch fester. »Tja, da hast du dir mit Granny wohl die Falsche ausgesucht. Und du hast ein Riesenpech, dass ich heute Einkaufsdienst mit ihr habe.«

Jaz erwiderte seinen Blick, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen, und zerrte an ihrem Arm. »Lass mich los. Du tust mir weh.«

»Gut, dann verleiht das meinen Worten ja den nötigen Nachdruck.«

Sie hatte keine Chance. Sein Griff machte jedem Schraubstock Konkurrenz und sie fürchtete, dass auch ihre Totenbändigerkräfte nicht viel helfen würden. Der Typ sah so aus, als wüsste er seine ziemlich gut einzusetzen. Und das Mädchen würde ihm sicher helfen. Sich auf ein Duell einzulassen, war also keine gute Idee.

»Was willst du denn noch?«, fauchte sie deshalb bloß und musste prompt wieder husten. »Du hast die Tasche doch schon, also lass mich los.«

Wenn er auf den Gedanken kam, die Polizei zu rufen, war sie geliefert.

»Dieser Husten klingt nicht gut, Kind.« Die Großmutter musterte sie eingehend. »Und du siehst blass und übermüdet aus. Wo kommst du her? Oder lebst du auf der Straße? Wolltest du mich deshalb bestehlen?«

Jaz funkelte sie nur an, unterdrückte mit aller Macht den verdammten Hustenreiz und schwieg.

»Echt?« Das süße Mädchen mit der Regenbogenbeanie warf die Klopapierpakete und Küchenrollen in den Kofferraum und musterte Jaz ebenfalls. »Hat Granny recht? Bist du wirklich obdachlos?«

Süß hin oder her, Jaz bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. »Ihr stellt zu viele Fragen«, knurrte sie und musste dabei zum Glück kaum husten.

»Bist du aus der Akademie weggelaufen?«, wollte der Grobian wissen, der ihr noch immer den Arm zerquetschte.

Jaz verfluchte den Mistkerl gedanklich. »Nein.«

»Also ja.« Seltsamerweise lockerte sich sein Griff um ihren Oberarm bei dieser Feststellung. Allerdings nicht genug, dass Jaz sich hätte losreißen können. Hätte aber ohnehin nichts gebracht, weil die drei sie zwischen dem Kombi und den beiden Einkaufswagen komplett einpferchten.

»Das geht euch nichts an. Lasst mich einfach gehen. Es tut mir leid, dass ich versucht habe, euch zu bestehlen, okay?«

Besser, sie lenkte jetzt ein und versuchte, von hier wegzukommen, als dass die drei auf den Gedanken kamen, sie in die Akademie zu bringen. Bevor sie dorthin zurückging, nahm sie es heute Nacht doch lieber wieder mit Regen, Kälte und den Geistern von ganz London auf.

Sie machte ein reumütiges Gesicht, ließ den ätzenden Hustenreiz Mitleid heischend kurz gewinnen und wandte sich der Großmutter zu.

»Ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie bedroht habe und Ihnen die Handtasche stehlen wollte. Es tut mir leid und ich verspreche, wenn Sie mich gehen lassen, werde ich einfach verschwinden und Sie nie wieder belästigen.«

Die Frau betrachtete sie einen Moment lang mit einem Blick, den Jaz nicht einschätzen konnte.

»Gabriel wird dich loslassen und ich nehme deine Entschuldigung an. Aber nur unter einer Bedingung.«

»Welche?«

»Du siehst mir in die Augen und beantwortest mir aufrichtig zwei Fragen.«

Jaz schluckte. Dieser durchdringende Blick war nur schwer zu ertragen und sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Auch wenn sie eigentlich ziemlich gut im Lügen war, würde diese Frau es sofort merken.

Aber was machte es schon, zwei Fragen zu beantworten?

Hauptsache, sie kam hier schnell weg. Danach würde sie die drei nie wiedersehen.

»Okay. Stellen Sie mir Ihre Fragen.«

»Bist du aus der Akademie weggelaufen?«

»Ja.« Trotzig verschränkte Jaz die Arme vor der Brust und hielt dem prüfenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Und die zweite Frage?«

Ungerührt von ihrer Kratzbürstigkeit musterte die Frau sie weiter ruhig. »Wenn wir dich dorthin zurückbrächten, würdest du dann wieder weglaufen?«

Jaz presste die Kiefer aufeinander.

Darauf könnt ihr wetten.

Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob ihr eine Flucht noch einmal gelingen würde. Vermutlich würde Master Carlton sie in die Arrestzelle sperren, sobald sie einen Fuß über die Schwelle der Akademie setzte, und dann würde er organisieren, dass man sie aus der Zelle heraus direkt nach Newfield brachte. Das würde sie den Leuten hier aber ganz sicher nicht auf die Nase binden.