Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 11


Schwärze schoss aus dem gegenüberliegenden Gang auf ihn zu und hüllte ihn ein. Eisige Kälte schnürte sich um seinen Körper und schien das Leben aus ihm herauspressen zu wollen.

Er konnte sich nicht rühren, nichts sehen, nichts hören.

Nicht atmen.

Selbst das Denken fiel ihm plötzlich schwer.

Er spürte nur, wie sein Herzschlag raste. Fühlte, wie die Schwärze ihm sein Leben entreißen wollte.

Sein Überlebensinstinkt übernahm, weil sein Kopf keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Er sammelte all seine Energie zusammen, schloss sie ein und würde mit ihr seine Seele beschützen, solange es ging.

Sky keuchte erschrocken auf, als die Schwärze sich auf Gabriel stürzte.

Verdammt, sie waren so dumm gewesen!

Wie blutige Anfänger waren sie dem Hocus in die Falle getappt.

Fluchend zwängte sie sich an dem Geist vorbei, um Abstand zwischen sich und das Biest zu bringen. Auf keinen Fall durfte sie sich auch noch fangen lassen. Sie stolperte ein paar Meter in den Seitengang zurück und warf den Rucksack mit den Silberboxen ab, dem sie zu verdanken hatte, dass der Hocus sich nicht auf sie gestürzt hatte. Zu mehr waren die Silberboxen allerdings nicht zu gebrauchen. Sie konnte ihre Auraglue nicht einsetzen. Mit Gabriel in seinem Inneren war es unmöglich, den Geist in eine Silberbox saugen zu lassen. Außerdem würde das Auraglue Gabriel lebensgefährlich verätzen.

Also musste sie improvisieren – und zwar schnell.

Sie bündelte Lebensenergie in ihre Fäuste.

»Nimm das!«

Sie schickte ihren Silbernebel wie zwei Peitschenstricke auf den Geist, krallte sich in seine Schwärze und zerrte mit aller Macht an seiner Todesenergie. Sie spürte sofort, wie stark das Biest war. Selbst für einen Hocus. Dieser Geist, der keine drei Meter von ihr entfernt war, brauchte vermutlich nicht mehr viel Energie, um sich in einen Wiedergänger zu verwandeln.

Sky presste die Kiefer aufeinander und zerrte noch heftiger an dem Geist. Fühlte, wie seine Todesenergie durch ihren Silbernebel kroch. Wie das Wesen sich dagegen wehrte und stattdessen versuchte, ihre Energie zu sich zu ziehen.

Ganz sicher nicht!

Sky stemmte sich dagegen. Sie liebte ihr Leben und würde es auf keinen Fall so einfach hergeben. Nicht diesem widerlichen verdorbenen Etwas, das nach Fäulnis, Angst und Tod schmeckte.

Ein weiterer Ruck und sie hatte seine Energie bis in ihre Hände gezogen. Der Tod war eiskalt und fast wäre er ihr wieder entglitten, doch sie krallte sich mit ihrem silbernen Leben fest. Jedes bisschen Todesenergie, das sie dem Hocus raubte, würde Gabriel helfen, sich zu befreien.

Und sie brauchte ihn.

Alleine konnte sie den Hocus nicht besiegen.

Sie spürte bereits, wie die Geisterkälte sie lähmte, während sie durch ihren Körper kroch. Für die Eliminierung der Todesenergie musste sie mit ihrer Lebensenergie zahlen. Bei schwachen Geistern bedeutete das nur Übelkeit, Kopfschmerzen und Schwindel, die allesamt schnell wieder verflogen. Doch der Hocus war alles andere als schwach. Seine Kälte bohrte sich mit stechendem Schmerz in ihren Kopf, trieb ihr Tränen in die Augen und legte sich wie Klauen um ihr Herz, die es quetschten, bei es kaum noch schlagen konnte.

Sky presste ihre Kiefer noch fester aufeinander.

Durchhalten!

Alles war verschwommen und sie merkte, wie sie schwankte.

Ein wenig Energie konnte sie aber trotzdem noch opfern.

Ihr dürft alles geben, nur niemals eure Seele.

Und wenn ihr euch retten müsst, dürft ihr von anderen alles nehmen, aber niemals deren Seele.

Das waren die Regeln, die ihre Mum ihnen eingebläut hatte. Am Ende jeder Trainingsstunde hatte sie sie aufsagen und schwören müssen, dass sie sie niemals brechen würden. Unter gar keinen Umständen.

Sky spürte, wie sie zitterte.

Ihre Hände brannten vor Kälte. Trotzdem ließ sie nicht locker.

Ein bisschen mehr hielt sie noch aus.

Sie musste, sonst war Gabriel verloren.

Verbissen kämpfte sie weiter.

Wieder riss sie Todesenergie in sich und sank auf die Knie, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten.

Ihr Herz stolperte und ihr Schädel wollte explodieren.

Keuchend schloss sie ihre Seele ein, als die Kälte sie endgültig zu übermannen drohte.

Die Schwärze hatte ihn verschlungen. So plötzlich, so übermächtig, dass nur noch sein Überlebensinstinkt funktionierte.

Ihr dürft niemals eure Seele geben. Beschützt sie. Schließt sie ein. Denkt euch das beste Versteck für sie aus und verratet es niemandem. Nicht einmal mir. Und wenn die Kälte in euch ist, wenn sie euch eure Seele wegnehmen will, dann verteidigt euer Versteck mit allen Mitteln, die ihr euch vorstellen könnt. Übt das. Immer wieder, bis eure Verteidigung so stark ist, dass die Kälte keine Chance hat.

Gabriels Seelenversteck war ein unknackbarer Stahltresor, der in einer Batman-Höhle mit jeder Menge tödlicher Geheimfallen stand. Die Höhle war in einem Berg, der von einer Allianz aus Superhelden und Oberschurken bewacht wurde, die sich zum Schutz seiner Seele vereint hatten und Spezialwaffen besaßen, mit denen sie ultraheiße Laserstrahlen abschießen konnten, gegen die die Kälte keine Chance hatte.

Ja, das Ganze hatte einen ziemlich kindlichen Touch, aber seine Mum hatte das Seelentraining mit ihm und Sky angefangen, als er gerade schwer in seiner Superhelden-Phase steckte.

Doch trotz der naiven Kindlichkeit funktionierte sein Versteck bis heute tadellos und hatte ihm schon mehr als einmal seine Seele gerettet. Und da er eh niemandem sein Seelenversteck verraten würde, war ein bisschen nostalgischer Kindheitskitsch völlig okay.

Oder vielleicht funktionierte das Versteck genau deshalb so gut? Weil er so niemals das Kind in sich vergessen konnte und Kinder pure Lebensenergie waren?

Himmel, Connor färbte wirklich auf ihn ab.

Der grübelte ständig über solche Sachen und wollte immer wissen, wie etwas funktionierte und warum – oder warum nicht.

Gabriel schüttelte den Gedanken von sich.

Dass er wieder grübeln konnte, bedeutete, der Hocus wurde schwächer und hatte ihn nicht mehr so im Griff wie vorher. Was wiederum bedeutete, dass Sky ihm seine Energie raubte – und dafür mit ihrer zahlte.

Noch immer umgab ihn Schwärze und die Kälte lähmte seine Glieder. Doch die Kälte schien nicht mehr ganz so eisig wie zuvor. Auch die Schwärze war nicht mehr undurchdringlich. Wie durch einen finsteren Schleier konnte Gabriel den Schein der Taschenlampen sehen, die auf dem Boden des Tunnels lagen. Und Skys Silhouette. Er sah, wie sie kämpfte, wie ihr Silbernebel sich in die Schwärze des Hocus’ krallte und ihn schwächte. Sie schwankte, hielt sich aber eisern auf den Beinen, um ihm das Leben zu retten.

Höchste Zeit, sein Leben wieder in seine eigene Hand zu nehmen.

Er ließ seine Seele aus ihrem Versteck und mit ihr seine geballte Lebensenergie.

Ein warmes Kribbeln rauschte durch seinen Körper und er fühlte, wie die eisige Starre sich zu lösen begann. Er konnte seine Hände wieder spüren und bündelte in ihnen seine Energie – mit jeder Menge Wut auf den Hocus, weil er sie so widerlich in die Falle gelockt hatte. Und mit jeder Menge Wut auf sich selbst, weil er darauf hereingefallen war.

Dann grub er seine Finger in die Schwärze.

Silbernebel umspielte seine Hände, als sie den finsteren Schleier auseinanderrissen. Gabriel zwängte sich hindurch und stürzte in den Tunnel. Keuchend schlug er auf dem Boden auf, schnappte hastig ein paar Mal nach Luft und brachte kriechend Abstand zwischen sich und den Geist. Seine Muskeln schmerzten von der tödlichen Kälte, die sie im Inneren des Hocus’ hatten aushalten müssen. Trotzdem wälzte Gabriel sich auf den Rücken, zog mit steifen Fingern seine Auraglue und schoss.

Feine Silbertropfen hefteten sich an die Aura des Hocus’ und der Geist kreischte auf. Wie zuvor das verzweifelte Kinderweinen imitierte das Biest nun den Schmerzensschrei eines Gepeinigten, um seine Angreifer abzuschrecken, zu verwirren oder vielleicht sogar, um Mitleid zu erregen.

»Tja, Pech«, knurrte Gabriel und stemmte sich mühsam auf die Beine. »Kreisch so viel, wie du willst. Damit erreichst du bei mir gar nichts. Außer vielleicht, dass ich dich noch schneller erledigen will, um dem Geplärre ein Ende zu bereiten.«

Noch unsicher auf den Füßen stützte er sich gegen die Tunnelwand und stolperte zu seiner Schwester.

Sky hatte ihre Verbindung zum Hocus getrennt, sobald das Auraglue den Geist getroffen hatte. Doch das Biest war stark. Eine Dosis hielt ihn zwar in Schach, reichte aber nicht, um ihn zu vernichten. Er wehrte sich gegen die bewegungshemmende Wirkung und versuchte, zu entkommen, um sich auf Sky zu stürzen.

Rache dafür, dass sie ihm seine Energie geraubt hatte.

Mit zitternden Fingern tastete Sky nach ihrer Auraglue, doch als sie sie aus ihrem Halfter zog, schien die Waffe tonnenschwer.

Gabriel tappte zu ihr.

»Bist du okay?« Sie musterte ihn besorgt.

»Jedenfalls mehr okay als du, wie es aussieht.« Er sank neben ihr auf den Boden, nahm ihr die Pistole ab und schoss eine zweite Ladung Auraglue auf den Hocus.

Wieder kreischte der Geist auf, als ein weiterer Schauer Silbertropfen auf ihn niederging und ihn endgültig bewegungsunfähig machte.

 

»Memo an die Obrigkeit: Findet endlich einen Weg, wie man mehr als einen Schuss mit der Auraglue abgeben kann.« Gabriel zog den Rucksack mit den Silberboxen zu sich. »Oder macht zumindest aus dem Wechseln der Kartusche keine Raketenwissenschaft.« Er öffnete eine der Seitentaschen und fischte einen Energieriegel heraus. »Du kannst dir gleich Energie von mir nehmen, ich will nur zuerst den Hocus in eine Silberbox bannen. Der geht mir mit seinem Gekreische nämlich echt auf den Sack.«

Doch Sky schüttelte den Kopf, als er ihr den Riegel reichen wollte. Erschöpft rutschte sie an die Tunnelwand, lehnte sich dagegen und schloss die Augen. »Ich kriege jetzt nichts runter. Mir ist kotzübel. Der Hocus war echt ekelhaft.«

Obwohl sie längst keine Verbindung mehr zu dem Geist hatte, war ihr immer noch schweinekalt und ihre Muskeln wollten nicht aufhören zu zittern. Hinter ihren Schläfen hämmerte es, ihr war schwindelig und ein ekelhafter Geschmack klebte in ihrem Mund.

Gabriel zog eine Colaflasche aus dem Rucksack, drehte sie auf und drückte sie ihr in die Hand. »Trink wenigstens etwas.«

Gehorsam überwand sie sich und merkte sofort, wie sie sich besser fühlte, als die süße Cola den widerlichen Geschmack von Fäulnis, Tod und Verdorbenheit aus ihrem Mund vertrieb. Sie trank weiter kleine Schlucke und sah zu, wie Gabriel eine Silberbox aus dem Rucksack holte und sie vor den fixierten Geist schob. Dann nahm er die Fernbedienung aus der Tasche und aktivierte die Box. Die Klappen auf der Oberseite sprangen auf und der Magnet im Inneren reagierte mit den Eisenpartikeln des Auraglue.

Wieder kreischte der Hocus, als die Magnetkräfte ihn zusammenpressten und in die Box sogen. Sein Schrei wurde immer schriller, bis das Biest endlich komplett in der Box verschwunden war.

Gabriel aktivierte den Schließmechanismus, die Klappen schnappten zu und es herrschte schlagartig Stille.

»Das war’s.« Er sank neben Sky gegen die Tunnelwand. »Danke fürs Lebenretten, kleine Schwester.«

Sie lächelte matt. »Jederzeit wieder, großer Bruder.«

Er klaute ihr die Colaflasche und nahm ihre Hand. »Nimm dir von mir alles, was du brauchst.«

»Nein, schon okay. Du bist ja selbst k. o. und es geht mir schon besser. Ich regeneriere mich auch von alleine.« Sie tastete nach dem Energieriegel und fühlte ein warmes Kribbeln in ihrer Hand, als Gabriel ihr trotzdem etwas von seiner Energie schenkte.

Ihr Funkgerät knackte und Connors besorgte Stimme drang knisternd aus dem kleinen Lautsprecher.

»Sky? Gabe? Ist alles in Ordnung bei euch? Was war das für ein Gekreische?«

Sky zog ihre Hand aus Gabriels und nahm das Gerät vom Gürtel. »Hey. Alles gut. Es gab hier bloß keine Kinder, dafür aber einen fiesen Hocus.«

»Shit!«

»Yep. Ich glaube, das war sein zweiter Vorname.«

»Seid ihr okay?«

»Ja, nur ein bisschen k. o. Das Biest war ziemlich stark. Ich schätze, wenn es Gabe und mich erledigt hätte, hättest du dich in nicht allzu ferner Zukunft mit einem hungrigen Wiedergänger herumschlagen müssen.«

»Dann danke, dass ihr mir das erspart habt. Habt ihr ihn in eine Silberbox gebannt?«

»Aber so was von. Sonst ist hier nichts. Wir ruhen uns kurz aus und kommen dann zurück.«

»Kein Stress, ich hab hier alles im Griff. Nehmt euch alle Zeit der Welt.«

»Nee, so schön ist es hier nicht. Wie weit seid ihr? Ich hab nämlich ehrlich gesagt nichts dagegen, bald hier raus und zurück ans Tageslicht zu kommen.«

Es herrschte kurz Stille, dann antwortete Connor: »Doktor Monroe meint, sie ist in einer halben Stunde fertig, und ich schätze, bis dahin hab ich auch alle Fingerabdrücke.«

»Fantastisch. Wir kommen rechtzeitig zurück, um euch beim Einpacken zu helfen.«

»Okay. Bis dann. Over and out.«

»Over and out.«

Sky steckte das Funkgerät zurück in ihren Gürtel und riss das Einwickelpapier um den Energieriegel auf. »Eigentlich dachte ich ja, wegen ihres ersten Schultags hätten die Kids heute beim Abendessen am meisten zu erzählen.« Sie biss in den Riegel und klaute sich von Gabriel die Colaflasche zurück. »Aber um einen Tunnel voller Leichen und eine Nahtoderfahrung durch einen Hocus zu toppen, müssen die drei schon einiges liefern.«

Kapitel 12


Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen auf die in die Jahre gekommene Stadtvilla, die am Ende der Sackgasse stand. Es war ein großes Haus mit großem Garten, gebaut zu einer Zeit, in der die Bewohner noch Personal hatten, das unter dem Dach wohnte, und man Zimmer wie einen Salon brauchte, der eine Art zweites Wohnzimmer darstellte, in dem man Gäste empfangen hatte.

Solchen Luxus gab es heute nicht mehr.

Zumindest nicht im Norden Londons.

Hier lebte die Mittelschicht meist mit mehreren Generationen unter einem Dach, weil London ein teures Pflaster und Wohnraum in einem sicheren Umfeld schmerzhaft kostspielig war. Oft rückten Familien und andere Wohngemeinschaften deshalb zusammen, um sich das Leben hier leisten zu können.

Und man setzte Prioritäten.

Allen Fassaden der Häuser im Crescent Drive hätte neuer Putz oder ein neuer Anstrich gutgetan. Doch stattdessen gab es Eisenzäune und eiserne Rahmen um Fenster und Türen. Manche Häuser hatten als zusätzlichen Schutz sogar Schmuckornamente aus Eisen an den Wänden oder eiserne Skulpturen in den Gärten, und überall wuchsen Schutzpflanzen wie Salbei, Lavendel und Thymian, Holunder, Wachholder und Engelwurz.

Auch die alte Villa der Hunts war gut geschützt. Zwar fand man am Haus und in den Gärten weder Ornamente noch Skulpturen, aber das Grundstück war mit einem hohen Eisenzaun umgeben und alle Fenster und Türen waren gesichert. Im Vorgarten wucherten Holunder- und Wacholdersträucher und im hinteren Garten umgab eine gut zwei Meter hohe Weißdornhecke den Gartenzaun und sorgte neben Sichtschutz vor neugierigen Blicken auch für zusätzlichen Schutz vor Geistern, denn hinter dem Garten begann der Wald des Hampstead Heath.

Der Heath war nur einer von über zweihundert Grünanlagen in London, gehörte aber zu den größeren und war neben den Parks in Richmond und Wimbledon einer derjenigen, in denen man die Natur aus Kostengründen großteils sich selbst überließ und die Stadtgärtner nur dafür sorgten, dass die Parkwege nicht völlig zuwucherten. Das machte den Heath als Rückzugsort für Geister unschlagbar attraktiv.

Cam mochte den Park, auch wenn der Heath jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung, ein gefährlicher Ort war. Tagsüber waren der Wald und die verwilderten Wiesen wunderschön und wie verwunschen. Und die Geister, die sich darin vor dem Tageslicht versteckten, schreckten Cam nicht. Er hatte zwar den nötigen Respekt vor ihnen, aber Angst hatte er keine. Man musste keine Angst vor den Seelenlosen haben, wenn man wusste, wie man sich gegen sie schützte. Und das hatten Sue, Gabriel und Sky ihm beigebracht.

Ihren Garten mochte Cam auch, obwohl der kein bisschen verwunschen und wild war, sah man mal von der Weißdornhecke ab. Die war so alt und in sich verwuchert, dass man selbst im Winter, wenn sie keine Blätter trug, nicht hindurchsehen konnte. Fast schien es, als würde die Pflanze ihren Schutzauftrag besonders ernst nehmen und Haus und Grundstück wie ein Bollwerk gegen die Außenwelt abschirmen wollen. Genau dafür liebte Cam die Hecke, auch wenn es ein Albtraum war, sie schneiden zu müssen.

Der Garten selbst bestand im Wesentlichen aus einem Stück Rasen mit vier Obstbäumen, an den rechts und links verschiedene Gemüsebeete grenzten. In einer Ecke standen ein Geräteschuppen und ein kleines Gewächshaus, neben denen Sträucher mit Himbeeren und Brombeeren wuchsen. Am Haus führte eine Tür aus dem Wohnzimmer auf eine große Terrasse mit hölzernen Gartenmöbeln und bunten Blumenkübeln, die Ella bemalt hatte und in denen Granny Tomaten und Kräuter züchtete.

Granny liebte ihren Garten und sie liebte es, alles Mögliche anzubauen und die Familie mit eigenem Obst und Gemüse zu versorgen. In einer Zeit als es galt, acht hungrige Mäuler zu stopfen, und es mit Sue und Phil nur zwei Verdiener gegeben hatte, war die Selbstversorgung ein willkommener Weg gewesen, die Haushaltskasse zu entlasten. Mittlerweile steuerten Gabriel und Sky zwar eigenes Geld zur Familienkasse bei, doch Cam wusste, dass Phil und Sue nicht viel von ihnen annahmen, weil sie wollten, dass die beiden ihr Gehalt sparen konnten, um sich irgendwann eine eigene Wohnung leisten zu können.

Von einem Polizistengehalt war das in London allerdings kaum noch möglich. Connor war vor einigen Monaten bei ihnen eingezogen, weil er es mit neun anderen Leuten in seiner Wohngemeinschaft in Islington nicht mehr ausgehalten hatte. Sich alleine ein kleines Apartment zu nehmen, war bei den momentanen Mietpreisen jedoch absolut unerschwinglich. Selbst wenn er mit Sky und Gabriel zusammengezogen wäre, hätten sie sich nur eine winzige, heruntergekommene Bude irgendwo in Brixton oder Croydon leisten können, und diese Viertel waren fast so schlimm wie das East End. Jeder, der es irgendwie verhindern konnte, vermied es, dort hinzuziehen.

Cam hatte nicht viel Ahnung von Politik. Nicht, dass er sich nicht dafür interessierte, aber viele der Entscheidungen, die im Stadtrat getroffen wurden, fand er unlogisch, nicht nachvollziehbar oder einfach nur dämlich. Wie zum Beispiel, dass Polizisten, die in London für Ordnung sorgten und dabei immer wieder ihre Leben riskierten, nicht ausreichend Geld für diesen Job bekamen, um sich problemlos in genau der Stadt, für die sie so viel taten, ein sicheres Zuhause in einer halbwegs netten Gegend leisten zu können.

Für Cam klang das völlig irrsinnig.

Aber was wusste er schon.

Und insgeheim war er froh, dass Connor zu ihnen gezogen und Sky und Gabriel nicht weggegangen waren. Die alte Villa war sein Zuhause und Gabe und Sky gehörten zu seiner Familie. Ohne sie wäre beides nicht mehr komplett gewesen. Vor allem die Vorstellung nicht mehr mit Gabriel unter einem Dach zu wohnen, mochte Cam nicht. Überhaupt nicht. Auch wenn das kindisch und egoistisch war.

Er schaute hinauf zu den Baumwipfeln des Waldes, über denen die Abendsonne den Himmel in ein hübsches Farbenspiel aus orange, rot und blau tauchte.

Holmes sprang zu ihm und legte ihm einen der bunten Stoffbälle vor die Füße, die Ella für die tierischen Familienmitglieder genäht hatte. Lächelnd strich Cam dem kleinen Kater über das schwarze Fell.

»Gut gemacht.«

Dann warf er den Ball ein weiteres Mal in den Garten und Holmes flitzte begeistert hinterher.

»Der Kater versteht das Prinzip des Apportierens irgendwie deutlich besser als der Dackel.« Gabriel kam aus dem Wohnzimmer über die Terrasse und setzte sich neben Cam auf die Stufen, die zum Rasen hinunterführten.

Beide sahen hinüber zu einem üppigen Rhododendronstrauch, in dem es wild raschelte. Ihr Dackelwelpe versteckte seinen Ball lieber irgendwo dort in den floralen Tiefen, statt ihn zum Spielen zurückzubringen.

Cam grinste. »Sherlock ist halt was Besonderes.«

Gabriel lachte und streichelte Watson, der sich auf Cams Schoß zusammengerollt hatte. Der rotweiße Katzenjunge war im Gegensatz zu seinen beiden tierischen Geschwistern die Ruhe schlechthin und kuschelte lieber mit seinen Menschen, als irgendwelchen Bällen hinterherzujagen.

Holmes kam mit seiner Beute zurück, legte sie Gabriel vor die Füße und strich maunzend um seine Beine, um auch eine kurze Streicheleinheit zu bekommen. Dann tippte er mit der Vorderpfote auf den Stoffball, maunzte erneut und sah erwartungsvoll zu Gabriel auf.

»Da sag noch mal einer, Tiere können nicht sprechen.« Gabriel nahm den Ball und warf ihn in den Garten. Wieder sauste Holmes hinterher und überschlug sich dabei vor Begeisterung beinahe.

Eine Weile sahen sie dem Kitten zu, wie er sich mit dem Ball über die Wiese kugelte, dann blickte Gabriel zu Cam.

»Okay, Kleiner, jetzt mal raus mit der Sprache. Wie war es heute in der Schule wirklich? Jules und Ella nehme ich ihre Begeisterung ab, aber dass du es ziemlich okay fandest – nicht wirklich. Ich rechne dir hoch an, dass du der Erzieherfraktion dieser Familie zuliebe so tust, als ob, aber zu mir kannst du ehrlich sein. Also, auf einer Skala von eins bis zehn: Wie schlimm war dein erster Schultag wirklich?«

 

Cam schnitt eine Grimasse. »Wenn ich zehn sage, kann ich dann ab morgen wieder Homeschooling machen?«

»Netter Versuch, aber da du beim Essen gerade so getan hast, als wäre alles in Ordnung, hast du nicht vor, das Mum und Granny anzutun.«

Wieder verzog Cam das Gesicht. »Stimmt. Und so schlimm war es auch nicht.«

Watson schmiegte sein Köpfchen an Cams Brust und rollte sich dann auf den Rücken, um sich den Bauch kraulen zu lassen.

»Aber?«, hakte Gabriel nach und warf den Stoffball, den Holmes ihm brachte, zurück in den Garten. »Bist du mit jemandem aneinandergeraten?«

Cam seufzte und erzählte von Topher und seinen Drohungen, aber auch, dass Evan ihm geholfen hatte.

»Hast du dieses Video?«, fragte Gabriel, als Cam geendet hatte.

Cam nickte. »Evan hat es mir geschickt.«

»Gut. Schick es mir auch.«

»Nein. Ich will nicht, dass du irgendwas gegen Topher unternimmst. Das gibt nur Ärger. Und der Mistkerl ist mein Problem. Das regle ich alleine.«

»Daran hab ich auch keine Zweifel. Trotzdem will ich mir diesen Musterknaben und seine Gang mal ansehen. Nenn es brüderliches Interesse – und darüber diskutieren wir nicht«, würgte Gabriel ihn ab, als Cam erneut den Mund aufmachen wollte. »Schick mir einfach das Video. Wissen Jules und Ella von den Drohungen gegen euch?«

»Ja, natürlich. Wir haben ihnen alles erzählt und Evan hat ihnen das Video ebenfalls geschickt. Wenn Topher oder jemand anderes uns Ärger in die Schuhe schieben will, können wir es der Carroll zeigen.«

Gabriel nickte zufrieden. »Ich mag diesen Evan.« Er bedachte Cam mit einem Seitenblick. »Der hat definitiv gutes Freundschaftspotenzial.«

Unverbindlich zuckte Cam die Schultern. »Ja, vielleicht.«

»Magst du ihn?«

Wieder hob Cam bloß die Schultern. »Ja, ich denke schon. Er hat mir geholfen. Einfach so. Das war ziemlich cool und er scheint ganz okay zu sein.«

»Dann gib ihm eine Chance. Auch wenn es nicht so dein Ding ist, aber nach der Aktion heute, hat Evan einen Vertrauensvorschuss verdient. Und jeder braucht Freunde.« Gabriel rempelte ihm sanft gegen die Schulter. »Überzeugt?«

Cam verzog das Gesicht, nickte aber knapp. »Okay.«

Wieder brachte Holmes seinen Ball und wollte diesmal, dass Cam ihn warf.

»Also, von eins bis zehn«, fragte Gabriel erneut. »Wie schlimm ist die Schule für dich jetzt wirklich – so alles in allem?«

Cam schnaubte. »Keine Ahnung. Fünf? Sechs? Ich freue mich nicht darauf, morgen wieder hinzumüssen. Aber ich hab auch keine Panik davor. Das reicht doch, oder?«

Gabriel seufzte innerlich, schenkte Cam aber ein kleines Lächeln und nickte. »Ja, das reicht. Und mit der Zeit wird es sicher noch besser. Vor allem, wenn du Leuten wie Evan eine Chance gibst.«

Cam schwieg und sie sahen Holmes dabei zu, wie er alleine mit seinem Ball spielte, bis ihm das zu langweilig wurde und er ihn wieder Gabriel brachte.

»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie knapp war es heute, als du und Sky von dem Hocus angegriffen wurdet?«

Gabriel wandte sich zu Cam um und hob eine Augenbraue.

»Komm schon. Ich bin nicht blöd. Ihr habt die Sache beim Essen runtergespielt, um Sue, Phil und Granny nicht zu schocken. Genauso wie Ella, Jules und ich nichts von Topher erzählt haben.«

Gabriel musste grinsen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob mir gefällt, wie gut du mich durchschaust.«

»Danke, gleichfalls! Aber offensichtlich müssen wir beide damit leben. Also? Wie schlimm war es heute?«

Gabriel seufzte. »Es war knapp, aber Sky und ich sind ein gutes Team«, sagte er dann. »Wir waren dumm und haben vorschnell Schlüsse gezogen. Aber unsere Seelenverstecke haben perfekt funktioniert, deshalb ist alles gut gegangen.«

»Denkst du, der Hocus hat euch belauscht und euch absichtlich mit Kinderweinen angelockt? Weil ihr gedacht habt, die Leichen im Tunnel sind von dem Mistkerl, der im letzten Unheiligen Jahr die Totenbändigerkinder gequält hat?«

»Nein, das glaube ich nicht. Kinderweinen vorzutäuschen, um Opfer in einen Hinterhalt zu locken, ist die Standardmasche von Hocusgeistern. Sie appellieren damit an den Helferinstinkt der Menschen. Wenn man ein Kind weinen hört, will so gut wie jeder nachsehen, was los ist, und helfen. Deshalb war es ja so dämlich, dass wir darauf hereingefallen sind.«

»Wegen mir, stimmt’s?«, seufzte Cam mit hörbar schlechtem Gewissen. »Ihr dachtet, die Leichen sind von dem Irren, der auch mich gefangen gehalten hat. Deshalb habt ihr gedacht, da unten im Tunnel sind Kinder, und wolltet sie retten.«

Gabriel musterte ihn mit durchdringendem Blick. »Stopp. Denk nicht mal ansatzweise das, was du gerade denken willst. Es ist nicht deine Schuld, dass Sky und ich heute bloß in eine Richtung gedacht haben. Wir sind Profis. Wir sollten immer alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, und es war fahrlässig, dass wir vorschnelle Schlüsse gezogen haben.«

»Aber wenn ich nicht –«

»Nein, Cam. Es liegt nicht an dir, sondern an mir, klar? Selbst wenn damals nur unbekannte Kinder betroffen gewesen wären und du nichts damit zu tun gehabt hättest, wäre ich heute genauso blind und unüberlegt in den Tunnel gelaufen, weil ich die Vorstellung nicht ertragen hätte, dass irgendein kranker Mistkerl da unten Kinder quält. Und ich würde es jederzeit wieder tun und nachsehen und mich dabei mit jedem verfluchten Hocus dieser Welt anlegen, bevor ich einmal nichts tue und dann vielleicht wirklich Kinder irgendwo leiden müssen. Verstanden? Das hat nichts mit dir zu tun. Ich müsste mich jedes verdammte Mal vergewissern, weil ich nicht damit leben könnte, nichts getan zu haben. Aber ich werde beim nächsten Mal definitiv vorsichtiger sein und auch andere Möglichkeiten im Blick haben. Noch mal passiert mir so was wie heute garantiert nicht. Und für Sky gilt dasselbe. Also mach dir keine Sorgen um uns. Wir sind nicht blöd und lernen aus unseren Fehlern. Und die sind nicht deine Schuld. Die verbocken wir ganz alleine. Kapiert?«

»Okay«, murmelte Cam, wich dem bohrenden Blick seines Bruders aber aus.

Wieder herrschte eine Weile Schweigen.

Holmes hatte seinen Ball zu Sherlock in den Rhododendron gebracht und seitdem raschelte und rumorte es in dem Strauch noch heftiger als zuvor.

»Glaubst du denn, die Leichen sind vom selben Täter wie damals?«, fragte Cam schließlich leise und mied noch immer Gabriels Blick. Stattdessen beobachtete er die immer länger werdenden Schatten, die der Wald warf, jetzt da die Sonne endgültig versank.

Seufzend hob Gabriel die Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Toten heute waren schrecklich zugerichtet. Das passt nicht zu den Opfern von damals. Außerdem gab es zum Glück keine Kinderleichen. Außer der Anzahl der Toten und dass ihnen die Kehlen durchgeschnitten wurden, gibt es eigentlich keine Gemeinsamkeiten.«

»Ihr habt gesagt, dass es auch Obdachlose waren«, warf Cam ein. »Genau wie damals.«

Gabriel nickte. »Aber so übel wie das jetzt klingt, Obdachlose sind leider keine ungewöhnlichen Opfer für irgendwelche Irren, die jemanden suchen, an dem sie möglichst unauffällig ihre abartigen Fantasien ausleben können.«

Cam presste die Kiefer aufeinander und streichelt wieder Watson, weil das seinen Händen etwas zu tun gab und half, Unruhe und Wut im Griff zu behalten – und das widerliche Gefühl, für irgendwelche kranken Experimente missbraucht worden zu sein.

Unbeeindruckt von dem ernsten Gespräch, das die beiden Menschen führten, dankte der kleine Kater ihm die Streicheleinheiten mit hingebungsvollem Schnurren.

»Werdet ihr weiter ermitteln?«

»Wir treffen uns morgen mit Thad beim Commander. Dann sollten alle Ergebnisse des Fingerabdruckabgleichs da sein, genauso wie der Bericht von Doktor Monroe. Danach besprechen wir, wie es weitergeht. Aber egal, was dann entschieden wird, Sky, Connor und ich werden auf jeden Fall die Augen offen halten.«

Ein Schauer lief Cam über den Rücken und er hatte keine Ahnung, warum.