Die Totenbändiger - Band 6: Unheilige Nacht

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Kapitel 4


Zur gleichen Zeit in der Küche der Hunts

Jules stemmte die Ellbogen auf die Tischplatte, stützte den Kopf in die Hände und starrte wütend auf sein Handy, obwohl das kleine Gerät nicht das Geringste dafürkonnte, dass Cam nicht zu erreichen war. Es konnte auch nichts dafür, dass man Jules dazu verdonnert hatte, untätig hier zu Hause zu hocken, während seine Eltern mit Gabriel, Sky, Connor und Thad zu Topher fuhren, um ihm die Hölle heißzumachen.

Dieses verfluchte Arschloch!

Jules hasste Gewalt, aber jetzt gerade war ihm sehr danach und ein Scheißkerl wie Topher hatte es einfach verdient.

Er krallte seine Finger so fest in seinen Haarschopf, dass es wehtat. Er hasste, dass seine Eltern ihn nicht hatten mitnehmen wollen. Auch Gabriel war dagegen gewesen, obwohl Jules von seinem Bruder eigentlich Unterstützung erwartet hatte. Aber vermutlich fürchteten alle, er würde Topher an die Gurgel springen, sobald er ihn zu Gesicht bekam.

Was keine so abwegige Annahme war.

Trotzdem absolut unfair das Ganze!

Voller Wut kickte Jules unter dem Tisch gegen einen der Stühle, die ihm gegenüberstanden und auf dem gerade noch sein Vater gesessen hatte. Trotzig ignorierte er den Blick, den er sich dafür von seiner Grandma einfing, und starrte wieder finster auf sein Handy.

Sie würden ihm Bescheid geben, sobald sie Cam gefunden hatten. Das hatte Sky ihm versprochen.

Toll.

Bis dahin durfte er hier blöd rumsitzen und sich überlegen, was ihn wahnsinniger machte: Frust und Wut auf seine Eltern und älteren Geschwister, Hass auf Topher und Emmett oder die Sorge darüber, was diese sadistischen Arschlöcher Cam diesmal angetan haben mochten.

Sein Inneres zog sich zusammen beim Gedanken daran, dass sie Cam womöglich wieder in irgendeinen finsteren Raum gesperrt hatten, weil sie jetzt wussten, dass er unter Klaustrophobie litt und ihnen klar war, dass sie ihn damit noch viel schlimmer quälen konnten, als sie gedacht hatten. Diesen Dreckskerlen war schließlich zuzutrauen, dass sie genau das ausnutzen würden – und er war dazu verdammt, hier untätig herumzusitzen und ein braver Junge zu sein, statt Topher den Hintern aufzureißen!

Wieder kickte Jules gegen einen der Stühle. Diesmal willkürlich, weil ihm egal war, welchen er traf. Dann stützte er seine Ellbogen wieder auf den Tisch und vergrub seinen Kopf zwischen den Armen.

Nichts tun zu können und nicht zu wissen, wie es Cam gerade ging, machte ihn wirklich fertig.

Edna hatte am Herd herumgewerkelt, um das Abendessen warmzuhalten, betrachtete ihren Enkel jetzt aber mitfühlend. Sie schenkte zwei Tassen Tee ein und setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Ich will jetzt keinen Tee, Granny«, knurrte Jules dumpf zwischen seinen Armen hervor. »Und ich will auch keine aufmunternden Worte hören. Oder dass Mum, Dad und die anderen sich schon um alles kümmern werden. Wenn Topher Cam in eine Panikstarre getrieben hat, dann sollte ich bei ihm sein, wenn sie ihn finden. Ich kann ihn da wieder rausholen. Ich bin gut darin und das wissen Mum und Dad! Und ja, ich weiß, Mum kann das auch. Oder Gabe. Oder Sky. Aber trotzdem! Ich sollte das machen! Ich sollte jetzt bei ihm sein!«

Aufgebracht krallte er seine Finger wieder in seine Haare. Edna blieb einfach nur still neben ihm sitzen und ließ ihn reden, weil sie wusste, wie ihr Enkel tickte. Jules war eigentlich eher ruhig und besonnen, genau wie sein Vater. Doch reizte man ihn zu sehr oder traf einen falschen Nerv, brauchte er ein Ventil, um sich Luft zu machen. Und trieb man ihn zu weit, konnte er auch schon mal um sich schlagen. In dem Punkt kam er ganz nach seiner Mutter.

»Wenn Mum und Dad Angst haben, dass ich Topher an die Gurgel gehen könnte, müssen sie sich doch bei Gabe viel mehr Sorgen deswegen machen«, grollte Jules weiter. »Gabe ist der Hitzkopf, nicht ich! Bei ihm müssen sie aufpassen, wenn Topher Cam irgendwas angetan hat. Obwohl ich hoffe, dass Gabe diesen Scheißkerl echt fertigmacht. Dass Topher Cam so auf dem Kieker hat, ist das Allerletzte! Cam hat nichts getan, um das zu verdienen! Er hat in der Schule alles gemacht, um sich einzufügen. Er ist nirgendwo angeeckt. Warum schikanieren sie ihn dann trotzdem ständig? Nur weil er stiller ist als andere? Weil er Zeit braucht, um mit Fremden warmzuwerden? Mann, wenn diese Idioten das hätten durchmachen müssen, was Cam durchgemacht hat, wer weiß, wie die dann drauf wären!«

Voller Wut knallte er seine Fäuste auf den Tisch und ließ damit fast den Tee aus den Tassen schwappen.

»Die haben doch überhaupt keinen blassen Schimmer, wie großartig Cam ist!«, schimpfte er weiter. »Er würde niemals jemanden so mies behandelt, wie Topher es mit ihm macht. Und Cam würde auch niemals so einen Dreck abziehen wie Stephen oder Teagan. Aber die sind in der Schule alle megabeliebt! Warum? Ich verstehe es nicht! Keine Ahnung, ob ich zu blöd dafür bin oder einfach nur keine Ahnung von den beschissenen Sozialstrukturen hab, die in Schulen offensichtlich herrschen. Diesen ganzen Mist haben wir im Homeschooling nie gelernt. Aber ich finde es zum Kotzen! Warum geben sie jemandem wie Cam keine Chance? Es liegt doch nicht nur daran, dass er ein Totenbändiger ist. Das sind Ella und ich schließlich auch, aber mit uns hatten sie am Anfang keine Probleme. Warum sehen sie nicht, was für ein unglaublicher Mensch Cam ist? Er ist so viel besser als Stephen und Teagan und all die anderen Scheißleute!«

Wieder ballte er die Fäuste, doch bevor er sie noch einmal auf die Tischplatte donnern konnte, legte Edna ihre Hand über seine.

»Ich glaube, dass du Cam so siehst, ist viel mehr wert, als wenn eure ganze Schule ihn so sehen würde.« Sie bedachte ihren Enkel mit einem liebevollen Lächeln und tätschelte seinen Arm, als Jules mit einem verwirrten Stirnrunzeln zu ihr aufsah. »Manchmal ist vor allen Dingen wichtig, dass die richtigen Menschen uns so lieben, wie wir sind. Dann sind die ganzen Vollidioten um uns herum viel leichter zu ertragen« Sie tätschelte noch einmal seinen Arm und stand dann auf, um nach dem Essen zu sehen. »Das heißt allerdings nicht, dass wir hinnehmen werden, wenn andere Cam schlecht behandeln.«

Jules lachte zynisch auf. »Ach ja? Und was wollt ihr diesmal dagegen tun? Topher noch mal anzeigen? Das hat doch schon beim ersten Mal nichts gebracht! Und er wird sich auch jetzt wieder damit rausreden, dass Cam ein Totenbändiger ist, er sich von ihm bedroht gefühlt hat und es deshalb sein gutes Recht war, Cam eine Lektion zu erteilen. Und unser beschissenes Rechtssystem wird ihm dabei sogar den Rücken stärken! Wir Totenbändiger sind doch schließlich immer die Bösen!«

Edna wandte sich wieder zu ihm um. »Das Video der Überwachungskamera zeigt, dass Cam absolut nichts getan hat, von dem sich irgendjemand hätte bedroht fühlen können.«

»Ja, und? Dann werden sie einfach behaupten, er hätte es vorher getan.«

»Vorher war er bei Evan und davor mit euch in der Schule. Es gibt genügend Beweise für Cams Unschuld und es ist bekannt, dass Topher es auf ihn abgesehen hat. Er wird damit nicht durchkommen.«

Jules schnaubte bloß und behielt jeden weiteren Kommentar für sich.

»Hey«, versuchte Edna ihn aufzumuntern. »Wo ist dein Optimismus hin? Der Zyniker ist doch sonst immer Cam.«

»Ja, und ich kann ihn mittlerweile gut verstehen!« Aufgebracht schnappte Jules sein Handy vom Tisch, obwohl klar war, dass Sky noch keine Nachricht geschickt hatte. »Und Optimismus würde so viel leichter fallen, wenn ich hier nicht blöde herumsitzen müsste, sondern irgendwas tun könnte!«

Wie aufs Stichwort ertönte in diesem Moment das Piepen der Wachmaschine aus dem Hauswirtschaftsraum und teilte mit, dass die Wäsche fertig war.

Edna musste grinsen und sah vielsagend zu ihrem Enkel.

Der erwiderte ungläubig ihren Blick. »Nicht dein Ernst!«

Sie hob die Schultern. »Besser, als hier herumzusitzen und frustriert die Wände hochzugehen, oder? Und wenn Cam heimkommt, freut er sich sicher, wenn du den Wäschedienst für ihn erledigt hast.«

Jules rollte bloß die Augen, raffte sich aber auf und verschwand in den Hauswirtschaftsraum. Als er die Waschmaschine öffnete, purzelte ihm der Sockenberg einer zehnköpfigen Familie entgegen.

Echt jetzt?

Was wollte ihm das Schicksal mit dieser Geduldsprobe sagen?

Entnervt atmete er tief durch und zwang sich zu Ruhe und Gelassenheit, weil ausrasten und rumschreien nicht wirklich erwachsen und noch weniger hilfreich gewesen wären. Dann schaufelte er alle Socken aus der Maschine in den Wäschekorb und machte sich ans Aufhängen.

Und wehe die anderen meldeten sich nicht, sobald er hier fertig war …

Kapitel 5


Ihm war kalt.

Das Wasser, das Topher ihm ins Gesicht geschüttet hatte, hatte seine Schuluniform durchnässt und jetzt klebte sie eisig an seiner Haut.

Doch die Kälte war gut. Sie machte wach und vertrieb endlich den ätzenden Nebel aus seinem Kopf. Der Kopfschmerz von dem widerlichen Zeug, mit dem sie ihn betäubt hatten, pochte auch nicht mehr ganz so heftig gegen seine Schläfen.

Zum Glück.

Er musste seine Sinne beisammenhaben, sobald die Geister auftauchten.

Zum x-ten Mal zerrte er an den Kabelbindern, mit denen seine Hände an die Lehne des steinernen Stuhls gefesselt waren. Doch sie saßen zu eng, als dass er sich hätte herauswinden können, und das Material war zu stabil, um es zu zerreißen. Er probierte zwar, die Plastikriemen am Stein der Stuhllehne durchzuscheuern, aber dafür würde er vermutlich die ganze Nacht brauchen. Wind und Wetter hatten die einst sauber gearbeiteten Kanten der Lehne abgeschmirgelt und die Natur hatte alles mit glitschigem Moos überzogen. Seinen Silbernebel konnte er zwar auch mit gefesselten Händen rufen, aber Geister zu bändigen, wenn man ihnen nicht ausweichen konnte, war ein lebensgefährliches Glückspiel.

 

Verbissen rieb er die Hände weiter gegen die Kanten der Stuhllehne, weil es das Einzige war, das er tun konnte. Es brannte und er spürte klebriges Blut an seinen Fingern. Kabelbinder und Stein hatten die Haut an seinen Handgelenken aufgeschürft.

Aber genau wie die Kälte war auch der Schmerz gut.

Er machte wütend und Wut gab ihm Kraft, um durchzuhalten.

Er biss die Zähne zusammen und scheuerte weiter.

Wie spät mochte es sein?

Er hatte sein Zeitgefühl verloren, als sie ihn betäubt hatten. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Eine Stunde? Anderthalb?

Der Weg von der Bushaltestelle hierher zum Heath hatte sicher nicht länger als fünfzehn Minuten gedauert, aber die Wege durch den Wald zum Tumbleweed Park waren so zugewuchert, dass sie mit einem Auto kaum passierbar waren. Außerdem hatte er keinen startenden Wagen gehört, als Topher und die anderen verschwunden waren, da war er sich recht sicher. Wahrscheinlich hatten sie keine Kratzer im Lack riskieren wollen – oder dass der Wagen auf den feuchten Waldwegen steckenblieb und sie dann plötzlich hier festsaßen.

Cam erinnerte sich dunkel an ein Ziehen und Zerren und seine Arme schmerzten vermutlich nicht nur, weil sie auf dem Rücken zusammengebunden waren.

Sie hatten ihn zu Fuß hierhergebracht.

Wie lange hatten sie dafür gebraucht?

Cam hatte keine Ahnung.

Wütend rieb er seine Hände weiter über die Stuhlkanten.

Das verfallene Picknickareal war groß. Auch nach knapp siebzig Jahren hatte der Wald sich den Platz noch nicht komplett zurückerobert. Über sich hatte Cam freie Sicht auf den Himmel. Kalter Nieselregen fiel aus tiefhängenden Wolken. Die Dämmerung hatte eingesetzt und die Sperrstunde war mit Sicherheit längst überschritten.

Zu Hause wunderten sich bestimmt alle, wo er blieb. Wahrscheinlich machten sie sich sogar schon Sorgen, weil er sich nicht gemeldet hatte, um Bescheid zu geben, dass er später kam. Vielleicht hatten sie sogar schon versucht, ihn zu erreichen.

Cam wusste nicht, wo sein Handy war. Er spürte es nicht mehr in seiner Jackentasche, also hatten die Dreckskerle es ihm abgenommen und mit Sicherheit ausgeschaltet, damit man es nicht orten konnte. Mit etwas Glück steckte es vielleicht in seinem Rucksack, der neben ihm im Gras lag. Doch selbst wenn, war es dort völlig nutzlos und hätte genauso gut auf dem Mond sein können. Dort wäre es für ihn ähnlich unerreichbar gewesen.

Wieder zerrte er an den verdammten Fesseln, die aber noch immer kein bisschen nachgeben wollten. Wütend keuchte er auf.

Er konnte keine Hilfe rufen, solange er hier angebunden war. Und er brauchte Hilfe. Er musste hier weg!

Er hatte keine Ahnung, wie viele Tote es hier auf der Lichtung gegeben hatte. Die Selbstmorde vom Tumbleweed Park waren zwar wirklich passiert, doch im Laufe der Jahre hatten sich die Tatsachen mehr und mehr mit Fantasie verwoben und jeder erzählte das, was damals geschehen war, ein bisschen anders. Es war zu einer realen Horrorgeschichte geworden, die immer wieder mit neuen grausigen Details ausgeschmückt wurde.

Zwanzig Tote?

Dreißig?

Er wusste es nicht. Doch sie waren zu Repeatern geworden und sobald die Nacht hereinbrach, würden sie auftauchen und ihr Todesritual wieder und wieder vollziehen, bis der Morgen anbrach.

Und wehe, jemand störte sie dabei.

Verbissen ratschte Cam die Fesseln weiter über den Stein.

Er musste hier weg.

Mit all diesen Geistern konnte er es unmöglich alleine aufnehmen. Schon gar nicht in einer Unheiligen Nacht.

Hasserfüllt starrte er auf die Kamera, die auf einem kleinen Stativ zwischen Schüsseln, Tellern und Platten auf der Festtafel stand. Ein rotes Licht blinkte und zeigte an, dass eine Aufnahme stattfand.

Diese verdammten Arschlöcher!

Es war erniedrigend, hier angebunden zu sein, während seine Peiniger irgendwo in Sicherheit saßen und ihm dabei zusahen, wie er um sein Leben kämpfte.

Cam biss die Zähne zusammen, zerrte trotzdem unermüdlich weiter an seinen Fesseln und klammerte sich an seine Wut, weil die Alternative Verzweiflung gewesen wäre und die durfte er auf keinen Fall zulassen, denn sonst hielt er das hier nicht aus. Und wenn er nicht durchhielt, würde es ihn sein Leben kosten, und diesen Triumph wollte er Topher auf gar keinen Fall gönnen.

Kapitel 6


20:03 Uhr

Thad drückte den Klingelknopf und warf warnende Blicke zu Gabriel und Sky. »Wie besprochen, klar?«

Sky schnaubte. Gabriel ignorierte ihn, doch seine Gesichtsmuskeln verrieten, wie fest er die Kiefer aufeinanderpressen musste, um sich zu beherrschen.

Thad sah kurz zu Connor. Der nickte knapp. Obwohl er selbst ebenfalls den kaum zu bändigenden Drang verspürte, diesen Topher in die Mangel zu nehmen, würde er trotzdem dafür sorgen, dass Gabriel und Sky nichts taten, was ihre Jobs gefährdete – oder ihre Leben.

Die Haustür öffnete sich einen Spalt und eine zierliche dunkelhaarige Frau mittleren Alters musterte sie argwöhnisch. Die Sperrstundenzeit hatte längst begonnen, da klingelte eigentlich niemand mehr an Haustüren.

»Ja bitte?« Ihr Blick glitt über die schwarzen Linien, die Sky und Gabriel an ihren Schläfen trugen, und ihre Miene wurde schlagartig abweisend. »Was wollen Sie hier?«

Thad zog seinen Dienstausweis und hielt ihn ihr unter die Nase. »Guten Abend. Chief Inspector Pearce von der London Metropolitan Police. Das sind meine Kollegen aus der Spuk Squad.« Mit einer Geste wies er auf Connor, Sky und Gabriel. »Sind Sie Clarice Morena, die Mutter von Topher Morena?«

»Ja, das bin ich.« Jetzt flackerte plötzlich Sorge in ihrem Blick. »Warum? Ist etwas mit Topher?«

»Dann ist er nicht hier?«, fragte Sky, was ihr einen missbilligenden Blick von Ms Morena einbrachte. Offensichtlich schätzte sie es nicht, von einer Totenbändigerin angesprochen zu werden.

»Nein. Warum wollen Sie das wissen?«

Gabriel trat einen Schritt vor, doch bevor er etwas sagen konnte, ging Connor dazwischen.

»Einer von Tophers Mitschülern ist heute am späten Nachmittag von drei Jugendlichen in einen Wagen gezerrt und verschleppt worden. Die Aufzeichnungen einer Überwachungskamera zeigen, dass Topher einer dieser Jugendlichen war.«

Der Gesichtsausdruck von Clarice Morena wurde verkniffen und noch deutlich abweisender als zuvor. »Handelt es sich bei dem verschleppten Mitschüler wieder um diesen Jungen, den Topher angeblich mobbt?«

»Allerdings.«

»Himmel, er ist ein Totenbändiger!«, begehrte Ms Morena auf und warf giftige Blicke in Richtung Gabriel und Sky. »Ich verstehe gar nicht, warum deshalb ständig so ein Theater gemacht wird. Topher hat das Recht, ihn in seine Schranken zu weisen, wenn er sich durch diese Missgeburt bedroht fühlt!«

Gabriels Hände ballten sich zu Fäusten und er hielt sich nur zurück, weil Connor ihm fast den Arm zerquetschte.

»Die Aufnahmen der Überwachungskamera zeigen deutlich, dass der Junge weder Topher noch einen der beiden anderen Beteiligten bedroht hat«, stellte Thad mit kühler Ruhe klar. »Trotzdem haben die drei ihn betäubt, in ihr Auto gezerrt und mitgenommen. Wissen Sie, wo sich Ihr Sohn gerade aufhält? Er macht sich strafbar, wenn er den Jungen grundlos gegen seinen Willen festhält. Und für Sie gilt das Gleiche, wenn Sie unsere Ermittlungen behindern und Informationen zurückhalten.«

Wut blitzte in Ms Morenas Augen auf. »Dieser Junge ist ein Totenbändiger, Himmel noch mal! Sie glauben doch nicht wirklich, dass irgendein Richter meinen Sohn dafür verurteilen würde, sollte er diesem Freak eine Lektion erteilen! Also sparen Sie sich Ihre erbärmlichen Einschüchterungsversuche. Mein Sohn ist fast achtzehn, ich vertraue ihm und er darf seiner eigenen Wege gehen. Ich weiß nicht, wo er heute Nacht ist, aber er hat mir versichert, dass er in Sicherheit sein wird. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Mehr will ich Ihnen auch nicht sagen. Sollten Sie weitere Fragen haben, werden Sie die mir oder meinem Sohn nur in Gegenwart unseres Anwalts stellen, haben Sie das verstanden? Und jetzt verschwinden Sie von meinem Grundstück. Guten Abend!«

Mit einem letzten giftigen Blick in die Runde, trat sie zurück ins Haus und warf geräuschvoll die Tür zu.

Schäumend vor Wut starrte Gabriel ihr hinterher und riss seinen Arm aus Connors Griff. Den stechenden Schmerz, der dabei durch seine verletzte Schulter fuhr, ignorierte er. »Bei dieser Mutter wundert mich gar nichts mehr.« Er hatte die rechte Hand so fest zur Faust geballt, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Ich schwöre –«

»Spar es dir.« Thad packte ihn am Oberarm und zog ihn mit sich, bevor Gabriel eine Dummheit machen konnte. »Vielleicht haben wir bei den Nachbarn mehr Erfolg.«

Sie liefen durch den Vorgarten der schmucken kleinen Doppelhaushälfte zurück zur Straße. Sue und Phil stiegen aus dem Familienkombi, mit dem sie den anderen hinterhergefahren waren.

»Und?«, fragte Sue drängend, als die vier unverrichteter Dinge vom Haus zurückkehrten.

Sky schüttelte den Kopf. »Seine Mutter sagt, Topher ist nicht hier.«

»Und wenn sie lügt? Ich hab ihre Blicke gesehen. Sie mag Totenbändiger nicht. Was, wenn sie ihren Sohn deckt?«

Thad drückte ihr die Schulter. »Bleib ruhig, okay? Wir fragen jetzt bei den Nachbarn. Vielleicht sind die kooperativer und wissen mehr.«

»Und wenn nicht?«

»Das sehen wir dann.«

Phil legte seinen Arm um sie. »Lass die vier ihre Arbeit machen.« Er sah zu seinem besten Freund. »Thad weiß schon, was er tut.«

Aufgebracht fuhr Sue sich durch die Haare. »Ja, ich weiß«, sagte sie dann jedoch mit einem entschuldigenden Blick zu Thad und gab sich alle Mühe, Ruhe zu bewahren. »Tut mir leid.«

Thad schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Alles gut. Wir finden Cam. Versprochen.« Dann wandte er sich an Gabriel und Sky. »Wartet hier und lasst Connor und mich alleine zu Emmetts Eltern gehen.«

Sofort öffnete Gabriel den Mund, um zu protestieren, aber Thad ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich weiß, das passt dir nicht, und glaub mir, mir geht es auch gegen den Strich. Aber wenn die Banks ähnlich drauf sind wie Ms Morena, haben Connor und ich bessere Chancen etwas Hilfreiches zu erfahren, wenn sie keine Totenbändiger sehen.«

Gabriels Gesichtsmuskeln zuckten mit nur mühsam unterdrücktem Zorn und er schlug seine Faust gegen die Autotür.

Auch Sky sah alles andere als glücklich aus, doch sie nickte und fasste ihren Bruder am Arm. »Komm. Thad hat recht. Es geht jetzt nicht darum, Streit mit engstirnigen Idioten anzufangen.«

Gabriels finsterer Blick sprach nicht dafür, dass er ihre Meinung teilte, doch Sky blieb hartnäckig und zog an seinem Arm.

»Komm schon. Es geht nur um Cam und darum, ihn schnell zu finden. Also lass Thad und Connor die Befragung übernehmen.«

Zähneknirschend gab Gabriel nach. Er hasste es, besonnen und vernünftig sein zu müssen. Aber wenn er mitging, bestand nicht nur die Gefahr, dass Emmetts Eltern beim Anblick von zwei Totenbändigern nichts sagen würden. Das Risiko, dass er sich nicht beherrschen konnte, wenn er noch mal ähnliche Worte wie die von Tophers Mutter zu hören bekam, war ebenfalls verdammt hoch. Und Sky hatte recht: Es ging hier jetzt nicht darum, Streit zu suchen, sondern darum, Cam zu finden.

»Ich warte im Wagen«, knurrte er, schüttelte seine Schwester ab und wandte sich zu ihrem Dienstwagen um.

Sky drückte kurz Connors Hand, dann folgte sie Gabriel.

 

»Los, gehen wir.« Grimmig stiefelte Connor zum Haus der Banks. Die Hunts waren für ihn zu einer zweiten Familie geworden, die ihm unendlich viel bedeutete, nachdem er seine eigene grausam verloren hatte. Und er hasste es jedes verdammte Mal, wenn er hautnah miterleben musste, wie die Ablehnung, die viele seiner Mitbürger Totenbändigern entgegenbrachten, die Menschen verletzte, die ihm wichtig waren. Emmetts Eltern sollten sich daher besser kooperativ zeigen.

»Vielleicht sollten wir mitgehen.« Sue sah Connor und Thad hinterher, als sie durch den Vorgarten zum Haus liefen. »Wenn wir als Eltern an die Banks appellieren, bringt das vielleicht mehr. Wäre ihr Sohn von seinen Mitschülern verschleppt worden, würden sie ihn doch sicher auch wiederfinden wollen.«

Schwer seufzend schüttelte Phil den Kopf und zog sie an sich. »Ich fürchte, das bringt nichts. Du hast gesehen, wie Tophers Mutter auf Totenbändiger reagiert hat. Wenn Emmetts Eltern genauso denken, ist Thads Vorschlag die bessere Idee.«

»Aber du könntest mit ihnen reden. Du bist kein Totenbändiger.«

Wieder seufzte Phil. »Aber Cam ist einer. Und wenn wir Pech haben, fühlen die Banks sich bedrängt, wenn ich als sein Vater vor ihnen stehe, und sie machen dicht.«

Sue schnaubte entnervt, lehnte sich dann aber an ihn und zog seinen Arm fester um sich. Die Sorge um Cam machte sie ganz krank.

Phil ging es nicht besser, doch er hielt sie fest und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er hatte keine Ahnung, wen er mit dieser vertrauten Geste mehr beruhigen wollte, Sue oder sich selbst. Der Ruhepol der Familie zu sein, war manchmal wirklich anstrengend, und er war froh, dass Granny daheim geblieben war und Jules, Ella und Jaz im Zaum hielt. Die drei auch noch in Schach halten zu müssen, hätten ihn jetzt gerade mehr Geduldsreserven gekostet, als er hätte aufbringen können.

»Komm.« Sanft schob er Sue zum Auto zurück. »Setzen wir uns in den Wagen. Das ist unauffälliger.«

Sie nickte knapp.

An der Haustür der Banks drückte Connor den Klingelknopf. Ein vielstimmiges Glockenspiel ertönte im Inneren des Hauses, dann dauerte es einen Moment bis die Tür geöffnet wurde und ein stämmiger Mann Ende vierzig erschien. Ähnlich wie zuvor Tophers Mutter musterte auch er die Fremden vor seiner Haustür mit einer deutlichen Portion Misstrauen.

»Ja bitte?«

Wieder zog Thad seinen Dienstausweis. »Guten Abend, Sir. Chief Inspector Pearce und Sergeant Fry von der London Metropolitan Police. Sind Sie Fergus Banks, der Vater von Emmett Banks?«

»Schatz, wer ist da?« Aus den Tiefen des Hauses erschien eine beängstigend dünne Frau im ähnlichen Alter wie ihr Ehemann. Sie trat neben ihn und warf als Erstes einen furchtsamen Blick auf die Umgebung, wobei sie peinlich genau darauf achtete, bloß nicht über die eiserne Türschwelle zu treten. Als sie in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft nichts Beunruhigendes entdeckte, wandte sie sich den beiden Fremden vor ihrer Haustür zu und musterte sie argwöhnisch.

»London Metropolitan Police, Ma’am. Chief Inspector Pearce und Sergeant Fry«, stellte Thad sich und Connor erneut vor. »Sind Sie Angela Banks?«

»In der Tat. Worum geht es?« Nervös griff sie nach einer kunstvoll gearbeiteten kleinen Silberkugel, die vor ihrer Brust an einer Silberkette baumelte, und begann daran herumzuspielen, während ihr Blick unstet zwischen Thad, Connor und der Umgebung hin und her zuckte.

»Wir suchen Ihren Sohn Emmett. Die Überwachungskamera einer Bushaltestelle hat ihn und seinen Wagen aufgezeichnet, als er vor drei Stunden gemeinsam mit zwei weiteren Jugendlichen einen Mitschüler gegen seinen Willen in sein Auto gezerrt hat. Wir gehen von einem dummen Streich aus, doch bisher ist der Junge noch nicht wiederaufgetaucht.«

»Ist der Junge einer dieser Totenbändiger, die seit den Sommerferien mit unserem Sohn zur Schule gehen?«, wollte Mr Banks prompt wissen und sein ungehaltener Tonfall machte unmissverständlich deutlich, was er von diesem Pilotprojekt hielt. »Der, mit dem es immer wieder Ärger gibt? Wir waren von Anfang an dagegen, dass dieses Gesocks auf die Ravencourt gehen darf. Die sind gemeingefährlich und es war abzusehen, dass es mit denen nur Probleme geben wird. Wenn Emmett und seine Freunde da ein bisschen für Ordnung sorgen, ist das ihr gutes Recht!«

Connor zwang sich, professionell und ruhig zu bleiben. Emmetts Auto stand nicht vor dem Haus, also lag die Vermutung nahe, dass weder er noch Topher oder Cam hier waren. Sie mussten daher geschickt vorgehen, wenn die Befragung der Banks in keiner Sackgasse enden sollte.

»Ja, natürlich, Sir. Aber die Eltern des Jungen sind in großer Sorge. Besonders, weil die Unheilige Nacht bald anbricht. Sicher können Sie als Vater das nachvollziehen. Wissen Sie, wo Ihr Sohn sich gerade aufhält und ob er in Sicherheit ist? Falls der Totenbändiger sich bedrängt gefühlt hat, besteht schließlich Grund zur Sorge, dass er mit seinen Kräften um sich geschlagen und Ihren Sohn dabei verletzt haben könnte. Und sollten sie irgendwo sein, wo sie nicht ausreichend gut geschützt sind, könnte das in dieser Nacht fatale Folgen haben, falls sie nicht mehr in der Lage sein sollten, sich eigenständig in Sicherheit zu bringen.«

Connor war froh, dass Gabriel und Sky seine Worte nicht hören konnten. Doch um hilfreiche Informationen zu bekommen, war ihm gerade so gut wie jedes Mittel recht. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten und wenn Topher und Emmett Cam irgendwo im Freien gelassen hatten, wurde es langsam wirklich gefährlich.

Die beiden Banks tauschten einen Blick und Emmetts Mutter nestelte wieder an ihrer Kette herum.

»Unser Sohn ist nicht dumm«, entgegnete Mr Banks schroff. »Wenn er diesem Totenbändiger eine Lektion erteilt hat, dann hat er sich dabei ganz sicher nicht selbst in Gefahr gebracht.«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, stimmte Emmetts Mutter ihrem Mann sofort zu. »Sie haben diesem Jungen sicher nur einen Denkzettel für den Ärger verpasst, den er ständig macht. Emmett ist ein guter Junge und immer sehr verantwortungsbewusst, deshalb ist er ganz bestimmt in Sicherheit. Einer seiner Freunde gibt heute eine Übernachtungsparty.« Sie lächelte verkrampft und warf erneut einen ängstlichen Blick in ihre Nachbarschaft. »Wie Jugendliche halt so sind. Sie gehen mit den Gefahren der Unheiligen Nächte auf ihre ganz eigene Art um. Und das ist auch gut so.«

»Natürlich«, nickte Thad. »Können Sie uns den Namen und die Adresse des Freundes nennen, bei dem diese Party stattfindet? Auch wenn die Jugendlichen dort gewiss alle genauso verantwortungsbewusst sind wie Ihr Sohn, würden wir gerne einmal nachsehen, ob die Kinder dort wirklich sicher angekommen und nicht noch draußen unterwegs sind.«

»Ich glaube, er heißt Stephen«, sagte Mrs Banks nach kurzem Überlegen. »Aber seinen Nachnamen oder die Adresse kenne ich leider nicht.« Sie lächelte entschuldigend. »Emmett ist schon fast erwachsen und er mag es nicht, wenn man ihm zu viele Fragen stellt. Persönlicher Freiraum ist den jungen Leuten heute sehr wichtig und wir als fortschrittlich denkende Eltern respektieren das natürlich.«

Fortschrittlich denkend – ja klar! Connor schnaubte innerlich.

»Das ist sehr löblich«, heuchelte Thad. »Danke für die Auskunft.«

Mrs Banks nickte knapp und wich ins Haus zurück, offensichtlich erleichtert, dass sich das Gespräch dem Ende zuneigte und sie sich nicht länger den Gefahren der offenen Haustür ausliefern musste.

»Emmett ist ein guter Junge«, stellte Mr Banks noch einmal klar. »Sollte dieser Totenbändiger oder seine Eltern ihm Ärger machen, kümmert sich unser Anwalt darum.«

»Natürlich.« Connor riss sich zusammen und legte den gebührenden Ernst in seine Stimme. Sie hatten bekommen, was sie wollten. Das war es, was zählte. »Wir wünschen Ihnen eine sichere Unheilige Nacht.«

»Danke. Die wünschen wir Ihnen auch.« Mit einem letzten nervösen Lächeln schloss Mrs Banks hastig die Tür.

Thad und Connor wandten sich um und eilten über den Weg zurück zu den Wagen.

»Kannst du mit dem Namen Stephen etwas anfangen?«, fragte Thad. »Sonst fordere ich eine Namensliste der Schüler der Ravencourt an.«

»Ich glaube, Jules kennt ihn. Fragen wir ihn zuerst.«

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