Natascha

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Es gab nur zwei Bewegungen, die ich ausführen konnte. Die eine bedeutet Tod, seinen Tod, die andere bedeutete sein Leben. Tief in mir drin entbrannte ein Kampf. Mein Monster schrie heiser, es brüllte und kreischte. Das Feuer loderte heiß auf. Sein Blut konnte ich riechen und jetzt auch schmecken. Was sollte ich nur tun, wie sollte ich mich entscheiden? Zerstörte ich sein junges Leben jetzt und hier mit einer falschen Bewegung, die aber meinen Körper mit seinem köstlichen Blut nährte? Oder gab ich ihm sein Leben, indem ich stark war? Stärker als ich es je zuvor gewesen bin. Stark genug, um diesen wunderbaren Duft und köstlichen Geschmack zu widerstehen?

Ich entschied mich für sein Leben und verschloss mit meinem Speichel seine Wunden.

Das Monster in mir stieß einen schrillen, enttäuschten Schrei aus, dann verstummte es. Doch Justins Blut war nun genau dort, wo es nichts zu suchen hatte, in meinem Mund.

Wo ich es zwar vor einer halben Stunde noch unbedingt haben wollte, aber jetzt nicht mehr.

Auch wenn es mir fast körperliche Schmerzen zufügte, wendete ich meinen Kopf ab und spuckte sein Blut in hohem Bogen gegen die Badezimmerwand. Es klatschte ein bisschen, als es auftraf und floss dann langsam die Wand hinunter. Ein schauriger Anblick, wie aus einem Horrorfilm entsprungen. Der Geruch seines Blutes traf mich wieder, aber diesmal war es auszuhalten. Nur ganz kurz flackerte das Feuer nochmals auf, um dann ganz zu verlöschen.

Ich blickte in sein Gesicht, ein Lächeln verzog seine Lippen. Die Augen verdrehten sich nach oben und sein Kopf kippte ein zur Seite. Er war ohnmächtig geworden.

Ich hob ihn hoch und trug ihn, wie ein kleines Kind auf dem Arm, zum Sofa. Dort legte ich ihn wieder ab, setzte mich zu ihm und bettete seinen Kopf auf meinen Schoß. Ich hatte nicht vor, ihn in diesem Zustand allein zu lassen, also würde ich hier warten, bis er wieder zu sich kam.

Die Sonne ging gerade auf, ich sah ihr durch das große Fenster zu, es war ein herrlicher Anblick.

Ein friedlicher Augenblick, in dem ich fast vergaß, Wer oder Was ich bin.

Als Justin unruhig wurde und seine Lider zu flattern begannen, war es schon später Nachmittag. Immer wieder hatte er im Schlaf, der die Ohnmacht irgendwann ablöste, gemurmelt, unverständliches vor sich hin gebrabbelt.

Er schlug die Augen auf und sofort war ich wie gebannt. Jetzt, da er dem Vampirdasein noch ein kleines Stück näher gerückt war, war sein Blick nur noch intensiver geworden, noch eindringlicher.

Ich musste lächeln.

»Na, wieder unter den Lebenden?«, fragte ich ihn und zog die Augenbrauen noch oben.

»Ja«, er fasste sich an die Stirn, »und mir geht es erstaunlich gut, ich fühle mich … ausgeruht und klar im Kopf.«

Er setzte sich auf und blickte mich an. Mit einer raschen Bewegung zuckte seine Hand zu seinem Hals und strich über die Seite.

»Nichts mehr«, sagte er leise, »ich glaube, du hast mir das Leben gerettet … oder wenigstens mein Halbes.«

Er lachte kurz auf, es klang bitter in meinen Ohren.

»Ich verstehe nicht, wie Frank es versäumen konnte, dir die Wunden wieder zu verschließen«, stellte ich fest.

»Ich schätze, er war ziemlich sauer auf mich«, Justin grinste flüchtig.

Ich zog die Stirn in Falten und blickte ihn an.

»Was hast du denn gesagt, oder getan. Hast du etwa Krach mit ihm angefangen im Bad?«

»Tja, Frank stand wohl schon etwas länger vor der Tür und … na ja, er gab mir die Schuld dafür, was da passiert war. Ich antwortete etwas Unpassendes und dann ist er über mich hergefallen. War wohl alles nicht so toll.« Er grinste leicht.

Ich schüttelte den Kopf, das alles verstand ich nicht und es ergab auch keinen Sinn.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich leicht irritiert.

»Tascha, lass es uns doch einfach vergessen, ja.« Er stand auf und zog mich am Arm mit hoch. Er war wirklich stärker geworden. Jetzt könnte ich ihn mir nicht mehr so einfach vom Leib halten, wie heute Nacht.

Sollte er noch einmal versuchen mich zu verführen, hätte ich Mühe, mich zu verteidigen. Ein kleiner Teil in mir wollte sogar, dass er noch einen zweiten Versuch startete. Ich kämpfte verzweifelt meine zweideutigen, irritierenden Gefühle nieder.

Das alles war total verrückt.

Kurze Zeit später saßen wir in meinem Mustang, diesmal auf dem Weg zu meiner Wohnung.

Den braunen Umschlag mit unserem neuen Auftrag hatte ich achtlos auf den Rücksitz geworfen. Wir fuhren mit geschlossenem Verdeck, Der Himmel hatte sich verfinstert und in weiter Ferne hörte man schon das böse Grummeln und Knurren eines weiteren, herannahenden Gewitters. Es wird eine böse Nacht werden. So oder So.

In diesem engen Käfig zusammen mit Justin eingesperrt zu sein bereitete mir fürchterliche Plagen. Ich konnte mich mit Justin nicht unterhalten, ich musste meine ganze Willenskraft zusammen nehmen, damit ich bloß keinen Versuch unternahm, um seinen köstlichen Geruch und Geschmack in mich aufzusaugen. Ab und zu warf ich aus den Augenwinkeln einen Blick auf Justin. Er starrte aus der Seitenscheibe, auf die vorbei flitzende Umgebung. Sein Hals sah verlockend aus, seine Haut, seine schöne makellose Haut schrie förmlich nach meinen Zähnen. Sein Blut darunter pulsierte mir rhythmisch entgegen: »Beiß mich, beiß mich, beiß mich.« Ich schluckte und verdrehte die Augen zur Decke.

Langsam schüttelte ich den Kopf.

Das Blut eines Menschen oder auch das von einem Halbblut zu begehren war eigentlich nichts Neues für mich, das ging mir ständig so.

Aber hier, war irgendetwas anders, ich konnte es noch nicht erfassen, aber es fühlte sich … falsch an.

Ich parkte mein Auto in der Tiefgarage. Die Familienkutsche von diesem Ralph stand noch neben meinem Parkplatz.

Zu meiner Wohnung ging ich die Treppen hoch, mit Justin zusammen in diesem kleinen Aufzug eingesperrt zu sein, würde ich jetzt nicht ertragen können.

Oben angekommen, begab ich mich in meine kleine Küche. Justin hatte es sich auf meinem Sofa gemütlich gemacht und verfolgte jeden meiner Schritte. Ich überlegte, ob ich mit ein bisschen Konservenblut, seinen Geruch besser aushalten und auch widerstehen könnte. Zum Glück hatte ich immer einen kleinen Vorrat in meinem Kühlschrank, damit er wenigstens etwas zu kühlen hatte. Ich riss mir eine Dose auf und schüttete die Hälfte in ein Glas, das ich der Mikrowelle anvertraute.

Meiner Unhöflichkeit bewusst, sah ich Justin fragend an und hob die Dose hoch. »Auch was?« Er winkte ab.

»Nein, Danke.«

Als das zarte Pling ertönte merkte ich, wie gierig ich auf dieses rote Getränk war. Schnell stürzte ich das Blut herunter, das Glas war rasch wieder aufgefüllt, um erneut erwärmt zu werden. In meinem Körper breitete sich ein warmes Gefühl aus, ich glaubte, dass ich jetzt seinen Geruch besser ertragen konnte. Ich sah Justin an, der mich erneut mit diesen unergründlichen Augen musterte. Tiefe Brunnen, dachte ich.

»Was?«, fragte ich ihn gereizt. Er wusste doch Was ich war, warum sah er mich so anklagend an?

»Schmeckt das?«, fragte er wie beiläufig. Ich wusste genau, dass er das nicht wirklich fragen wollte, es plagte ihn etwas anderes. Ich sah mir das zweite Glas an und schwenkte das Blut leicht.

»Ja«, antwortete ich kurz angebunden.

Er seufzte, dann wurde sein Blick wieder lebendiger.

»Wohin führt uns denn unser nächster Auftrag? Du hast ja noch gar nicht nachgesehen«, führte er tadelnd hinzu.

Ich lachte kurz auf, da hatte er recht. Irgendwie verspürte ich kein großes Verlangen, diesen Auftrag auszuführen. Ich hatte mir selbst versprochen, nur noch einen Auftrag auszuführen, also musste es jetzt dieser sein. Genauso gut konnte ich aber jetzt sofort Schluss machen, ich war hin und her gerissen.

Ich versuchte meine Gefühle zu verdrängen, nahm den Umschlag, den ich achtlos auf die Küchenanrichte geworfen hatte und riss ihn mit einem Ruck auf.

Den gesamten Inhalt schüttete ich auf die Arbeitsplatte vor mir. Heraus fiel ein Bild, ein maschinengeschriebenes Blatt Papier, eine handgeschriebene Notiz und ein Stück Jeansstoff.

Dennis

Es traf mich wie ein Blitzschlag. Dieser Geruch, der von dem kleinen Stückchen Stoff zu mir hoch zog, dieses Gesicht auf dem Foto, beides kannte ich, beides war mir sehr vertraut. Es gehörte zu mir, es war von mir. Das Glas, das ich noch in der Hand hielt, zersprang in meiner Faust. Das restliche Konservenblut lief über meine Hand und tropfte auf den Boden. Ich merkte es kaum. Mein Blick war fixiert auf dieses Foto, und auf dieses Gesicht auf dem Foto. Um mich herum nahm ich nichts mehr wahr, die Zeit schien still zustehen. Wäre ich ein Mensch, ich wäre augenblicklich in eine dankbare Ohnmacht gefallen. Nur um meinen Blick von diesen Augen auf dem Bild abzuwenden. Damit ich endlich nicht mehr dieses Gesicht anschauen musste. Nur um nicht daran zu denken, dass es mein Auftrag war, diesen Jungen zu töten.

Ich konnte nichts fühlen, ich konnte nicht mehr denken, in mir war nur noch Leere, eine furchtbare Leere, die meinen ganzen Körper einzunehmen schien.

Ich starrte immer noch auf das Bild vor mir, nahm den Geruch war, diesen vertrauten, menschlichen Duft. Wie aus weiter Ferne hörte ich Justin:

»Tascha?«, seine Stimme klang ein wenig ängstlich und verwirrt.

»Tascha, was ist denn?«, er kam zu mir und legte den Arm um mich, ich bemerkte es kaum. Ich lauschte nur in diese Leere in mir, hörte tief unten aus meinem Innersten leise ein Wort. Es wiederholt sich immer wieder: NEIN. NEIN. NEIN.

 

Justin neben mir schüttelte mich an der Schulter.

»Tascha, was ist denn mit dir?«, er sah auch auf die verstreut liegenden Unterlagen.

»Kennst du den Jungen?«

Ob ich den kenne, dachte ich in diese Leere hinein, die mich komplett auszufüllen schien.

Es war so, als wenn Justins Worte ein Echo in mir erzeugten. Immer wieder hörte ich die Worte: »Kennst du den Jungen« und meine Antwort darauf: »Ob ich den Jungen kenne?« Die Worte wurden immer lauter. Immer schneller hörte ich die Sätze, bis sie ein gemischtes Wortchaos waren, bis die Worte nur noch Unsinn ergaben.

Erst dann konnte ich mich wieder bewegen. Langsam drehte ich meinen Kopf in Justins Richtung. Meine Muskeln und Sehnen am Hals schienen zu knarren und zu ächzen. Ich fühlte mich wie ferngesteuert.

»Ob ich ihn kenne?«, wiederholte ich nun laut und meine Stimme klang krächzend.

Ich blickte erneut auf das Bild.

»Das ist mein Sohn, mein richtiger Sohn«, ich holte tief Luft. »Das ist Dennis.«

Dennis, Dennis, Dennis, in meinem Kopf hallte sein Name wie ein Echo nach, und löste damit die unsinnigen Wortfetzen ab.

Ich fühlte noch diese hohle Leere in mir, aber ich spürte schon, wie sie langsam von einem anderen Gefühl verdrängt wurde: Hass! Blinder, wütender, alles vernichtender Hass.

Das wird sich besser anfühlen, dachte ich, damit konnte ich umgehen. Besser als diese tote Leere, deren Grenzen ich nicht einschätzen konnte. Ich wartete auf das Hassgefühl, erwartete es sehnsüchtig, um mich damit einzuhüllen, um darin zu versinken und vielleicht auch zu ertrinken.

Ich war noch nicht sehr lange ein Vampir erst zehn Jahre. Seltsam, wenn man sonst mit Vampiren sprach, oder von welchen hörte, waren alle immer mindestens über fünfzig Jahre schon verwandelt, die meisten noch viel, viel länger. Aber irgendwann haben alle mal angefangen, angefangen ein Vampir zu sein.

Mein Entschluss stand damals sehr schnell fest, in das Reich der Verdammten zu wechseln.

Ich hatte bei Frank als Sekretärin gearbeitet und war gut mit ihm ausgekommen. Irgendwann erzählte er mir von seinem wahren Wesen und ich war fasziniert.

Wochenlang erklärte er mir die Vorteile ein Vampir zu sein. Die wenigen Nachteile wollte ich erst gar nicht hören. Ich freute mich schon auf mein neues Leben.

Die Verwandlung selbst, zog sich über etliche Monate hin. Immer weiter veränderte ich mich, aber so langsam, dass es kaum einem auffiel.

Kurz vor der Vollendung meiner Umwandlung entschloss sich Frank aber, mich sterben zu lassen.

Ich musste sterben für meine Mitmenschen. Ich konnte nicht als fertiger Vampir weiter mit meiner Familie leben, als sei nichts geschehen. Er meinte, irgendwann würde ich mich nicht mehr beherrschen können und meine Kinder oder sonst jemanden in meinem nahen Umfeld beißen.

Wie gut er mich damals schon kannte. Es wäre bestimmt so geschehen. Mit meiner Beherrschung war es heute auch noch nicht weit her.

Ich hatte damals einen tödlichen Autounfall. Alles wurde perfekt arrangiert und der Unfallort hergerichtet. Meine Leiche wurde gespielt von einer Frau aus der Stadt, die keiner vermissen würde. Sie wurde von Frank ausgesucht, da sie eine gewisse Ähnlichkeit mit mir aufwies.

Alles lief einfach perfekt, die Identifizierung, die Beerdigung, die Trauerfeier, alles hatte ich aus sicherer Entfernung beobachtet. Wer möchte nicht gerne sehen, wer alles zur eigenen Beerdigung erschien und wie sich die Hinterbliebenen ums Erbe stritten, es war das reinste Vergnügen für mich.

Der einzige Wermutstropfen war, das ich zwei kleine Kinder von fünf und sechs Jahren hinterließ, die mein Mann zu versorgen hatte.

Auch als ich schon für den Rest der Welt als tot galt, bin ich bei Frank geblieben, um in weitere Einzelheiten eingeweiht zu werden. Er erzählte mir von dem Kodex und dem Clan der Vampire. Er lud mich ein, einer von ihnen zu werden. Ich hätte auch ablehnen können, ich fragte mich nur, was Frank dann mit mir gemacht hätte. Er duldete keine Vampire um sich, die nicht dem Clan angehörten.

Es war eine interessante, berauschende Zeit. In der wir fast jedes Wochenende wilde Feste feierten, mit appetitlichen Jungs und Mädchen als Partyhäppchen. Ich wusste bis heute nicht, wo dieser ständige Nachschub an Jugendlichen herkam.

Einmal fragte ich Frank nach unserem Kodex und er antwortete mir mit einem Schulterzucken, das es alles Ausreißer, Dummköpfe und Kleinkriminelle sind. Die würde keiner vermissen.

Wehret den Anfängen. Sozusagen.

Meine Kinder sind jetzt Jugendliche, ich hatte meinen Mann und meine Tochter seit meinem Tod und der anschließenden Beerdigung, nicht mehr gesehen.

Nur meinen Sohn musste ich vor zwei Jahren kurz wieder auf den rechten Weg geleiten. Zufällig hatte ich erfahren, dass er mit ein paar seiner Freunde einen Einbruch plante. Kurz vor ihrem Treffen habe ich ihm den Kopf ein wenig gerade gerückt. Er hatte mich nicht erkannt, da ich mich mittlerweile stark veränderte und er noch ein kleines Kind war, als ich … starb. Ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass er auf die schiefe Bahn geriet.

Wer weiß, vielleicht hätte ich ihn sonst als Partyhäppchen bei Franks Wochenend-Ausschweifungen wieder getroffen. Bis heute habe ich keinerlei Schandtaten von ihm gehört. Frank hatte ich nie von meinem kurzen Ausflug in die Menschenwelt erzählt.

Er hätte es nicht gutgeheißen, er vertrat die Meinung, dass man in die Welt der Blutsäcke nicht einzugreifen hatte. Sie müssten ihr Leben ohne Beeinflussung durch uns meistern. Auch ihre Entscheidungen dürften nicht durch einen von uns durchkreuzt oder verändert werden. Nur wenn wir den Abschaum jagten, sollen wir mit der Menschenwelt in Berührung kommen.

Ich zwinkerte kurz und schlug meine Augen auf. Dunkelheit hüllte mich ein. Ich lag auf meinem Sofa. Ich überlegte, wie ich dort hinkam.

Wurde ich vielleicht doch ohnmächtig? Nein, das kann nicht sein, Vampire können nicht ohnmächtig werden. Ich horchte in mich hinein und hörte immer noch das leise Echo: »Dennis, Dennis, Dennis«

Wie bin ich bloß auf dieses verflixte Sofa gekommen.

»Na, wieder unter den Lebenden?«

Ich zuckte zusammen, ich hatte Justin überhaupt nicht bemerkt Er stand direkt neben mir und grinste mich von oben herab an. Aber seine Augen machten diese Bewegung nicht mit. Seine unergründlichen, tiefen Brunnen sahen mich forschend an.

Schnell setzte ich mich auf, mit einem Mal überkam es mich, schwappte die Erinnerung wie eine Welle über mich hinweg und riss mich mit. Ich krallte mich mit beiden Händen an dem Polster des Sofas fest, um nicht fort gespült zu werden.

Ich schüttelte den Kopf um ihn frei zu bekommen und horchte erneut in mich hinein. Die Leere war weg, zum Glück. Der Hass war noch da. Aber im Moment war er ein weit entferntes, dumpfes Pochen. Damit konnte ich leben.

Ich erhob mich und ging zur Küche.

Der Inhalt des Umschlages lag verstreut auf der Arbeitsplatte.

Ich überflog den Anfang der Information, die persönlichen Daten kannte ich schon und ging direkt zu den aufgeführten Taten:

Angefangen mit kleineren Ladendiebstählen und Vandalismus. Dann wurde die versuchte Tat vor zwei Jahren erwähnt, also wusste man doch die ganze Zeit davon, dass ich Dennis damals von dem Einbruch abhielt, wie konnte ich nur so naiv, so dumm sein.

Fast ein Jahr herrschte Ruhe um ihn, dann ging es wohl Schlag auf Schlag mit Raubüberfall, Erpressung, schwerer Körperverletzung, wieder Raubüberfall, Totschlag und sogar einem Mord weiter. Mein Söhnchen war in einem Jahr wirklich sehr fleißig, das musste man ihm lassen.

Er war genau der Kandidat, den Frank früher auf unsere wilden Wochenendpartys eingeladen hätte. Eine kleine Tankstelle für Vampire, ein Taugenichts und Dummkopf, den keiner vermissen würde.

Ich warf einen raschen Blick auf die handgeschriebene Notiz. Wie immer stand da Datum, Uhrzeit und der Ort, an dem er sich befinden wird. Der Ort war wieder unten am Fluss, diesmal das Gebäude Nummer 2. Das Datum war das von Übermorgen und die Uhrzeit war zwölf Uhr mittags.

Niemals hatte ich einen Auftrag für tagsüber erhalten, immer spielte sich meine Jagd nachts ab. Immer.

Nur, dass hier sowieso alles anders war.

Ich blickte Justin an. »Wo sind das Foto und der Stofffetzen?« fragte ich gelassen. Seine Augen blickten gehetzt hin und her, er sah gestresst aus.

»Die hab ich ins Klo geworfen. Du wirst sie nicht brauchen.«

Ich blickte ihn grimmig an, aber gleichzeitig verstand ich, was er meinte. Ich brauche kein Foto um mich an das Aussehen meines Sohnes, zu erinnern. Ich brauche auch keine Geruchsprobe, um seinem Geruch zu folgen. Er hatte natürlich Recht.

Ich suchte Justins Blick, suchte die unergründlichen, tiefen Brunnen um mich darin ein bisschen zu verlieren, um diesen Alptraum, in dem ich mich befand, kurz zu vergessen. Ich fühlte mich so allein, mir war nach ein wenig Gesellschaft.

Er erwiderte meinen Blick, schaute mich von unten her an. Zuerst misstrauisch, dann glättete sich sein Gesicht und er kam näher. Nur wenige Zentimeter trennten unsere Körper voneinander. Mir genügte das schon, sein Geruch, seine Wärme, die sein Körper abstrahlte, das Rauschen seines Blutes. All das genügte mir, all das half mir schon. Ich hätte ihn gerne umarmt, hätte mich gerne von ihm umarmen lassen. Befürchtete aber, dass sich die Situation dann wieder verselbstständigt. So genoss ich, mit geschlossenen Augen, nur seine Nähe.

Ich beruhigte mich tatsächlich etwas. Jetzt konnte ich langsam wieder klar denken.

»Justin, hast du davon gewusst?«, fragte ich ihn leise.

Er atmete scharf ein und packte mich an den Schultern. Seine Augen nagelten meine fest.

»Tascha, natürlich nicht, wie kannst du nur so etwas denken.« Er ließ seine Arme sinken und fügte leise hinzu: »Ich dachte, du vertraust mir ein bisschen.« Traurigkeit lag in seiner Stimme.

Ich ihm vertrauen, überlegte ich und atmete Justins Geruch tief ein. Wie kam er darauf, dass er mein Vertrauen gewonnen hatte? Ganz in Gedanken legte ich meine Stirn in Falten.

Leise sagte ich: »Der letzte, der mein Vertrauen hatte, war Frank. Wohin das geführt hat sieht man ja.« Erneut packte Justin mich an den Schultern und drehte mich zu sich.

»Tascha.« Ich öffnete meine Augen und sah tiefe Brunnen vor mir, ganz nah vor mir. Ob ich ihm vertraue, überlegte ich. Ich war so nah bei ihm, dass ich in seinen Augen mein Spiegelbild erkannte. Plötzlich wurde mir klar, dass ich ihm wirklich vertraute, mehr noch: Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag.

»Tascha«, sagte Justin abermals. Er hatte wohl bemerkt, dass mein Blick abwesend und durch ihn durch ging. Ich blinzelte einmal und war wieder in der Wirklichkeit angekommen.

»Ja?«, hauchte ich

»Ich würde dir niemals wehtun, Tascha.« Er nahm mein Gesicht in seine warmen Hände und küsste mich flüchtig auf die Lippen. Für einen längeren Kuss reichte sein Vertrauen in meine Beherrschung wahrscheinlich nicht aus. Dann umarmte er mich. Auch ich schlang meine Arme um seinen warmen Körper. Es tat mir gut. Er tat mir gut.

Wenn mir vor zwei Tagen jemand gesagt hätte, das ich einen Menschen umarme, ohne meine Zähne in seinen Hals zu schlagen, Ich hätte denjenigen nicht nur für völlig verrückt erklärt. Nein, ich hätte ihn getötet.

Die Stille wurde unterbrochen von meinem Handy, das klingelte. Mechanisch ging ich ran. »Ja?«

»Tascha?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung

Ich versteifte mich in Justins Armen, und brüllte in das Telefon: »Frank. Du Schweinehund. Wie kannst du es wagen mich anzurufen.« Justin drückte mich fester an sich. Ich hörte wie sein Puls anstieg, sein Blut schneller rauschte.

»Tascha, stell dich nicht so an. Wir sind die Putzkolonne, schon vergessen? Wir säubern die Stadt von all den Subjekten, die sie verunreinigt. Dass dein Sohn dazugehört, dafür kannst du mich nicht verantwortlich machen!«

Ich fühlte, wie Wut und Hass in mir aufstiegen.

»Du wirst dir sicher denken können, dass ich das nicht machen werde.« Im gleichen Augenblick wo der Satz meine Lippen verließ, wollte ich ihn gerne zurücknehmen. Ich wusste, es war ein Fehler.

»Das macht nichts. Es gibt genug andere, die nicht so zimperlich sind. Dann schicke ich eben Thomas auf die Jagd.« Es knackte, er hatte aufgelegt. Ich hatte das dringende Bedürfnis, dieses verflixte Handy mit Wucht auf den Boden zu werfen. Aber ich widerstand diesem Drang und steckte es einfach wieder weg.

 

Justin sah mich fragend an. Ich erzählte ihm von Thomas und was ich über ihn wusste. Es war sehr wenig.

»Thomas wird Dennis jagen und er wird ihn erwischen«, fügte ich am Ende hinzu.

»Wir müssen schneller sein, das ist alles.« Justin sah mich prüfend an.

»Frank wird Thomas bestimmt eine andere Uhrzeit geben und einen anderen Ort, oder was meinst du?«

»Ja, bestimmt. Thomas zu verfolgen hat gar keinen Sinn, wir müssen Dennis ausfindig machen und ihn verstecken. Nur so sind wir auf der sicheren Seite.«

»Ja, du hast Recht, also los, wo ist dein Sohn jetzt?« Justin blickte auf seine Armbanduhr, »um sechs Uhr morgens?«

Ich überlegte kurz. »Na ja, ich schätze im Bett, wenn er nicht wieder auf einem Raubzug ist.«

»Okay, also auf zu seinem Bett, wo immer das auch sein mag.«

»Es sind fast zwei Stunden Fahrt bis dahin«, wendete ich ein.

»Na dann aber nichts wie los.« Justin zog mich am Arm aus meiner Wohnung. Ich sah ihn unverständlich an und fragte mich wieder einmal, was er verbarg, was ihn so plagte.

Wir rannten die Treppen hinunter, zu meinem Mustang, sprangen hinein und ich fuhr mit quietschenden Reifen aus dem Parkhaus, aus der Stadt, in die Richtung, in der ich früher einmal lebte. Zurück in mein altes Haus.

Dunkelheit umgab uns, das Gewitter war vorbei, aber die schwarzen Wolken bedeckten immer noch den Himmel und färbten ihn schwarz. Plötzlich fiel mir etwas ein.

»Justin, was wird denn jetzt aus dir? Wie stehst du denn zu Frank? Immerhin bist du noch sein Halbblut«, fragte ich erstaunt. Überrascht, dass er noch nicht von selbst darauf zu sprechen gekommen war.

Justin drehte nicht nur seinen Kopf zu mir, sondern fast seinen gesamten Körper. Er sah mich an.

»Tascha, Frank hat mich auch gelinkt. Willst du immer noch wissen, warum er mir im Badezimmer die Wunden nicht verschlossen hat?«

Ich konnte ihn nur verständnislos ansehen.

Justin schmiss sich wieder in seinen Sitz und starrte nach vorne.

»Er wollte, dass du mich erledigst. Frank wollte mich auf eine einfache und für ihn bequeme Art loswerden. Das ist der Grund. Außerdem hättest du ihm und der Obrigkeit, endlich einen triftigen Grund geliefert, dich aus dem Weg zu räumen.«

Ich sah nach vorne auf die Straße und konnte es nicht glauben, was ich soeben hörte.

»Frank will mich … töten?« Es klang in meinen Ohren nicht echt und ich sagte es direkt noch einmal.

»Aber warum?«, dann durchzuckte es mich.

»Und wie kommt es, dass du davon weißt?«

»Fahr bitte rechts ran.« Justin starrte immer noch nach vorne.

»Warum sollte ich. Ich will schnell zu Dennis.«

»Bitte Tascha, fahr rechts ran. Ich hab dir was zu sagen und ich möchte verhindern, dass du das Auto um einen Baum wickelst, nur aus Wut über mich. Denn so möchte ich nicht sterben«, er grinste schief.

Das Glück war mit ihm. Es kam gerade eine Pannenzone, ich steuerte den Wagen hinein, hielt an und stellte den Motor ab. Nur das leise Ticken war zu hören. Und Justins Blut, das viel zu schnell durch seinen Körper rauschte.

Ich drehte mich halb zu ihm um. »Nun?«

Justin nahm meine kalte Hand und legte sie in seine warme, dann bedeckte er sie mit seiner anderen Hand. Er sah mich wieder mit seinem unergründlichen, tiefen Augen an.

»Tascha, letzten Monat wollte ich noch Selbstmord begehen, ich hatte nur einen Wunsch, aus dieser verdammten Welt zu verschwinden. Ich stand auf der Brücke, sie ist hoch genug und wollte springen. Da kam Frank, wie aus dem Nichts. Ich habe mich lange mit ihm unterhalten und er machte es mir echt schmackhaft, vor meinem Tod noch etwas für ihn zu erledigen. Ich weiß nicht mehr, wie er mich dazu gebracht hat. Aber er hat es letztendlich geschafft. Er weihte mich ein und machte mich zu seinem Halbblut, oder … besser gesagt zu seinem Diener.« Justin legte eine kurze Pause ein.

»Weiter«, drängte ich. Er löste seinen Blick von meinem und sah erneut durch die Frontscheibe in die Dunkelheit. Ohne meine Hand loszulassen fuhr er fort:

»Es war alles inszeniert. Die Blondine, die er dir geschickt hat, die Versammlung, unser kleines Geplänkel draußen vor der Tür, meine Angst. Alles nur gespielt, für dich gespielt.« Ich entziehe ihm meine Hand, seine klatschen leise und leer aufeinander.

»Alles nur … . gespielt?«, fragte ich ungläubig.

»Ja, oder vielmehr … Nein«, er blickte zu mir, ich konnte ihm jedoch nicht in die Augen sehen, ich starrte ins Nichts.

»Nein, das war nicht richtig, meine Angst war nicht gespielt. Ich hatte keine Angst vor dir, aber ich hatte plötzlich Angst, dass Frank alles wahr machen würde, dass er dich wirklich umbringen wollte. Bis dahin hatte ich das noch alles für einen … Na ja, für einen Scherz gehalten, dass er dich nur ein bisschen einschüchtern wollte, um dich wieder auf den rechten Weg zu bringen. Verstehst du wie ich das meine?« Justin sah mich fragend an.

»Ein Scherz?«, meine Stimme war nur ein Murmeln.

»Alles nur gespielt? Und wie war das dann bei dir im Bad als er über dich hergefallen ist?«, ich runzelte die Stirn.

»Wie du schon richtig bemerkt hast, hatte ich Krach mit ihm. Er wollte dich loswerden, indem er mich nach dem Biss bluten ließ. Er hatte deine Gier nach … meinem Blut bemerkt und sah seine Chance gekommen. Er rechnete fest damit, dass du nicht wiederstehen könntest. Das du mich töten würdest. Ich wollte ja sterben, aber ich wollte nicht für deinen Tod verantwortlich sein. Ich sagte ihm, dass ich nicht mehr mitmachen würde, dass er nicht mit meiner Hilfe dein Ende vorbereiten könnte.« Justin schnaubte verächtlich, »als wenn das so einfach wäre. Außerdem meinte ich noch, er könnte mich, von mir aus, jetzt und hier umbringen, aber ich werde definitiv nicht mehr mitmachen. Und dann hat er es ja auch fast getan, es hat sich noch nie so schmerzhaft angefühlt. Wenn du wirklich nicht hättest widerstehen können, wäre das nur wie eine Erlösung gewesen. Aber ich habe dir vertraut, und du hast mich nicht enttäuscht.«

Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen, versuchte alles in die richtige Bahn zu lenken. Wortfetzen, kurze Situationen Bilder tauchten in rascher Abfolge vor meinem inneren Auge auf und plötzlich fügte sich alles in ein ganzes Bild zusammen.

Justin hatte Recht. Was auch immer er mir bis hierhin vorgelogen und vorgespielt hatte, die letzte Erklärung entsprach der Wahrheit.

Aber etwas wollte ich gerne noch wissen.

»Warum willst du dich eigentlich umbringen?«

Er seufzte, »Liebe, Hass, Vertrauen … so in etwa.«

»Vertrauen«, überlegte ich, und schloss genervt meine Augen. Das Thema hatten wir doch gerade erst.

Hatte schon wieder jemand, mein in ihn gesetztes Vertrauen missbraucht? Zwei Mal, so schnell hintereinander? Was bin ich nur für ein einfältiger Vampir?

Ich horchte in mich hinein. Hörte auf mein kaltes, nicht mehr durchblutetes Herz, was es mir zu sagen hatte.

Lauschte und suchte nach Entscheidungen.

Ich öffnete meine Augen und sah in die von Justin. Es waren jetzt keine unergründlichen Brunnen mehr, in denen ich mich verlieren konnte. Es waren warme, freundliche Augen. Augen in die man sich verlieben könnte. Ich lächelte ein bisschen und startete den Motor.

»Können wir jetzt weiterfahren?«, fragte ich munter, »schließlich haben wir noch etwas vor.«

Justin lächelte auch und schnallte sich an.

»Willst du jetzt nicht mehr sterben?«, fragend zog ich eine Augenbraue nach oben.

Statt einer Antwort nahm er meine Hand, legt sie in seine warme und bedeckt sie mit seiner anderen.

Die Sonne war eben erst aufgegangen und schenkte uns einen perfekten Sonnenaufgang.

Wir fuhren weiter unserem Ziel entgegen.

Ich wusste nicht, was mich heute noch alles erwartet, wie dieser Tag enden würde, aber eines wusste ich:

Bis hierhin hatte es sich schon mal gelohnt.