Natascha

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Er stemmte sich mit beiden Händen an meinen Schultern ab und ich hörte ihn wie aus weiter Ferne brüllen:



»Tascha! Es … es tut mir leid.«



Ich hörte ihn. Tatsächlich drang seine Stimme bis zu mir durch. Einen kurzen Moment zögerte ich noch, ich roch seine Angst, seine Furcht und … sein Verlangen. Es roch herrlich, einfach köstlich. Aber seine Augen waren immer noch unergründlich, unendliche tiefe Brunnen.



Langsam kehrte ich in die Wirklichkeit zurück, tauchte auf, aus meinem Strudel der Gier.



Mit einem letzten Blick auf seinen Hals, seine helle Haut und das darunter pulsierende Blut, erhob ich mich, streckte ihm die Hand entgegen um ihn hochzuziehen. Er sah auf meine Hand, nur zögernd packte er sie. Als er wieder vor mir stand, ging er einen Schritt zurück, wie um einen Sicherheitsabstand einzuhalten.



»Mir tut es auch leid, Justin«, sagte ich leise und blickte in sein Gesicht. Er schluckte kurz und nickte leicht.




Die Stille wurde jäh unterbrochen von der Türklingel. Wir rissen gleichzeitig unsere Köpfe herum. Ich fragte ihn misstrauisch:



»Erwartest du noch jemanden?«



»Nein«, antwortete er und war scheinbar genauso erstaunt. Zögernd ging er zu seiner Wohnungstür.



Jetzt erkannte ich den nächtlichen Besucher, sein Geruch hatte ihn verraten: Frank. Was wollte der denn hier, um diese Uhrzeit.



Justin öffnete die Tür und sah überrascht aus als Frank ihn mit einem Lächeln begrüßte.



»Hallo, Junge, ich sah das Licht und …« Es schien, als zögerte er nur kurz, als er mich bemerkte.



»Tascha, das ist gut, das ich dich auch hier treffe.«



Justin schloss die Tür wieder und murmelte:



»Ich geh dann mal unter die Dusche«, damit verschwand er im Bad.



Ich blickte zu Frank



»Was machst du hier?«, fragte er mich scharf



Ich lachte kurz auf. »Das Gleiche könnte ich dich fragen.«



»Das geht dich nun wirklich nichts an«, gab er streng zurück und presste die Lippen aufeinander



»Gleichfalls«, erwiderte ich trotzig und setzte mich auf Justins Sofa.



Natürlich kam er gleich zum Punkt:



»Ich habe heute keine guten Nachrichten über dich gehört, Tascha. Du hast ein Halbblut übel zugerichtet, er hat geblutet. Geblutet in einem Raum voller Vampire. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, was mit ihm geschehen ist?« Frank legte eine Pause ein.



Arrogant betrachtete ich meine Fingernägel.



»Nö«, sagte ich kühl. Ich hatte keine Lust ihm Rechenschaft abzulegen.



»Es war ein Schlachtfeld«, fuhr Frank fort, »sie sind natürlich alle über ihn hergefallen und haben ihn getötet. Sein Herr wird darüber nicht sehr erfreut sein.«



Ich erhob mich und ging auf Frank zu.



»Er war ein Dreckskerl, außerdem hat er Justin angegriffen und mich hat er geschlagen, so was kann ich mir ja wohl nicht gefallen lassen.

Du

 hast doch selber gesagt, dass ich auf dein kleines Halbblut Acht geben soll.« Langsam wurde ich wütend.



»Ja, das schon, aber es war nicht darin eingeschlossen, das du das Halbblut von Michael töten solltest.« Er blickte mich grimmig an.



Der Idiot gehörte also zu Michael. Na ja, überlegte ich, er wird sich jemand Neues besorgen, er hat sowieso immer einige zur Auswahl, alles solche Mistkerle wie den letzten. Vielleicht zieht ein Mistkerl einfach automatisch andere Mistkerle an.



»Nun«, begann Frank abermals, »wir werden sehen, wie das weitergeht.« Erneut eine kurze Pause, in der Frank mich aufmerksam musterte.



»Übrigens habe ich deinen Kindermörder zur Strecke gebracht, den, den du … übergangen hattest.«



Ja, den ich gegen das süße Blondinchen eintauschte. Ich musste grinsen. »Danke schön.«



»Ich übernehme alle, die du entwischen lässt, Tascha alle. Und ich erledige meine Arbeit sehr gründlich wie du weißt.« Er sprach sehr eindringlich und ich sah ihn misstrauisch an.



In diesem Augenblick kam Justin aus dem Badezimmer.



Franks und auch meine Nasenflügel bebten leicht. Justin roch einfach verlockend. Er duftete so verführerisch und ich musste meine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht wie ein Tier über ihn herzufallen.



Auch Frank sah leicht gereizt aus. Justin stand noch nahe der Badezimmertür und blickte uns unsicher an.



»Justin, es ist Zeit für deine nächste Stufe.« Frank drängte ihn wieder zurück ins Badezimmer und hinter beiden schloss sich knallend die Tür.



Ich seufzte, und setzte mich wieder auf das Sofa. Ich wusste, was nun in dem kleinen Badezimmer geschah. Frank würde Justin beißen, ihn wieder ein Stück näher an ein Dasein wie das Unsere bringen. Ich wusste immer noch nicht, ob Justin dafür bereit war, ob er letzten Endes ein guter Vampir werden würde. Noch ist er ein guter Junge, ein guter Mensch, aber wird er diese Eigenschaften auch als Vampir besitzen? Wird er dann noch derselbe sein?



Frank kam wieder aus dem Bad und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, eine unbewusste aber eindeutige Geste.



Aus seiner Jackentasche zog er einen verknitterten braunen Umschlag, den er mir zuwarf.



»Hier, ich habe zufällig deinen nächsten Auftrag dabei.«



Ich fing den Umschlag auf und warf ihn sofort uninteressiert auf den kleinen Tisch neben dem Sofa. Trotzig sah ich in Franks Gesicht, ich wartete nur auf ein falsches Wort von ihm. Ich war bereit, es jetzt und hier zu einer Entscheidung kommen zu lassen.



Er aber ignorierte scheinbar mein Verhalten und ging zur Wohnungstür, den Griff schon in der Hand drehte er sich noch mal halb zu mir um.



»Wir sehen uns, Tascha«, dann war er draußen.



Ich saß abwartend auf dem Sofa.



Wo bleibt denn Justin, fragte ich mich und stemmte mich aus dem bequemen Sitz hoch um im Badezimmer nach dem Rechten zu sehen.



Frank hatte die Tür nur angelehnt gelassen, ich zog sie auf und knallte sie augenblicklich wieder zu, um mich mit der Stirn dagegen zu lehnen.



Tief atmet ich ein und aus. Der Geruch aus dem kleinen Raum hatte mich tief getroffen. Es war ein Gemisch von frischen, lieblichen Blut, Angst, Wut, Gier, Lust und über dem ganzen schwebte der Duft von Justin.



Das war zu viel für meine Beherrschung. Aber trotz der Schnelligkeit meiner Bewegung hatte ich Justin auf dem Boden liegend gesehen.



»Justin«, rief ich durch die geschlossene Tür, »ist alles in Ordnung?«



Ich erhielt keine Antwort, ich hatte es mir gedacht. Ich hielt meinen Atem an und machte die Tür auf.



Da lag er, auf den kalten Fliesen. Sein Oberkörper war noch nackt, nur mit Jeans bekleidet. Das Gesicht war ganz entspannt aber seine Haut war kalkweiß. An seinem Hals prangten zwei kleine Einstichstellen, die immer noch nachbluteten. Ich verstand nicht, wieso Frank sie nicht verschlossen hatte, so konnte es leicht passieren, dass Justin verblutete. Ich kniete mich zu ihm und hob seinen Kopf auf meinen Schoß.



»Justin«, leicht schlug ich ihm auf die Wangen. »Justin, wach auf, los.«



Seine Augenlider flatterten, dann schlug er die Augen auf und blickte mich aus diesen Brunnen der Unendlichkeit an.



»Was ist passiert?«, fragte er leise nuschelnd.



»Frank ist dir passiert«, antwortete ich grimmig, »er hat vergessen die Wunden zu verschließen, hast du irgendwo Verbandszeug? Dann kann ich die Blutung stoppen, du verlierst eindeutig zu viel Blut.« Ich sah ihn fragend an.



»Kannst … kannst du das nicht machen?«, seine Augen fielen ihm zu. »Ich meine darüber … wie auch immer … und alles ist wieder gut?« Seine Stimme war nur ein leises Murmeln. Er schlug die Augen wieder auf und blickte mich an. Unergründlich, in diesen Augen könnte man sich tatsächlich verlieren und es würde einem noch nicht einmal auffallen. Ich löste mühsam meinen Blick und betrachtete die zwei Einstichstellen, aus denen sein köstlich, duftender Lebenssaft unermüdlich heraustrat. Es wäre keine gute Idee, jetzt von seinem Blut zu kosten.



»Justin, ich … « begann ich zögernd und überlegte, wie ich es ihm sagen sollte.



»Ich glaube, das wäre nicht gut für dich, ich kann mich nicht so gut beherrschen. Ich … könnte vielleicht nicht wieder aufhören.« Ich presste die Lippen aufeinander und ärgerte mich über mich selbst.



»Bitte, Tascha«, er machte eine Pause und leckte sich über die Lippen, »ich vertraue dir.« Damit legte er mir sanft seine Hand auf den Unterarm, eine Berührung, leicht wie eine Feder. Ich schloss die Augen und atmete tief durch den Mund ein. Dann schluckte ich meine Befürchtungen, meine Angst herunter und öffnete meine Augen wieder.



Er sah mich immer noch an. Langsam und zögerlich hob ich seinen Oberkörper zu mir hoch und beugte gleichzeitig meinen Kopf zu ihm herunter. Immer näher kam ich seinem Blut, immer intensiver wurde sein Geruch, immer schlimmer spürte ich die Gier in mir aufsteigen. Ich bemerkte, wie meine Zähne wieder zu Dolchen werden wollten. Krampfhaft versuchte ich diesen Zustand niederzukämpfen. Ich schloss meine Augen erneut, vor seinem allzu köstlichen Blut. Langsam umschloss mein Mund seine Wunden am Hals, Justin stöhnte leicht und zuckte kurz zusammen.




Es gab nur zwei Bewegungen, die ich ausführen konnte. Die eine bedeutet Tod, seinen Tod, die andere bedeutete sein Leben. Tief in mir drin entbrannte ein Kampf. Mein Monster schrie heiser, es brüllte und kreischte. Das Feuer loderte heiß auf. Sein Blut konnte ich riechen und jetzt auch schmecken. Was sollte ich nur tun, wie sollte ich mich entscheiden? Zerstörte ich sein junges Leben jetzt und hier mit einer falschen Bewegung, die aber meinen Körper mit seinem köstlichen Blut nährte? Oder gab ich ihm sein Leben, indem ich stark war? Stärker als ich es je zuvor gewesen bin. Stark genug, um diesen wunderbaren Duft und köstlichen Geschmack zu widerstehen?

 




Ich entschied mich für sein Leben und verschloss mit meinem Speichel seine Wunden.



Das Monster in mir stieß einen schrillen, enttäuschten Schrei aus, dann verstummte es. Doch Justins Blut war nun genau dort, wo es nichts zu suchen hatte, in meinem Mund.



Wo ich es zwar vor einer halben Stunde noch unbedingt haben wollte, aber jetzt nicht mehr.



Auch wenn es mir fast körperliche Schmerzen zufügte, wendete ich meinen Kopf ab und spuckte sein Blut in hohem Bogen gegen die Badezimmerwand. Es klatschte ein bisschen, als es auftraf und floss dann langsam die Wand hinunter. Ein schauriger Anblick, wie aus einem Horrorfilm entsprungen. Der Geruch seines Blutes traf mich wieder, aber diesmal war es auszuhalten. Nur ganz kurz flackerte das Feuer nochmals auf, um dann ganz zu verlöschen.



Ich blickte in sein Gesicht, ein Lächeln verzog seine Lippen. Die Augen verdrehten sich nach oben und sein Kopf kippte ein zur Seite. Er war ohnmächtig geworden.



Ich hob ihn hoch und trug ihn, wie ein kleines Kind auf dem Arm, zum Sofa. Dort legte ich ihn wieder ab, setzte mich zu ihm und bettete seinen Kopf auf meinen Schoß. Ich hatte nicht vor, ihn in diesem Zustand allein zu lassen, also würde ich hier warten, bis er wieder zu sich kam.



Die Sonne ging gerade auf, ich sah ihr durch das große Fenster zu, es war ein herrlicher Anblick.



Ein friedlicher Augenblick, in dem ich fast vergaß, Wer oder Was ich bin.




Als Justin unruhig wurde und seine Lider zu flattern begannen, war es schon später Nachmittag. Immer wieder hatte er im Schlaf, der die Ohnmacht irgendwann ablöste, gemurmelt, unverständliches vor sich hin gebrabbelt.



Er schlug die Augen auf und sofort war ich wie gebannt. Jetzt, da er dem Vampirdasein noch ein kleines Stück näher gerückt war, war sein Blick nur noch intensiver geworden, noch eindringlicher.



Ich musste lächeln.



»Na, wieder unter den Lebenden?«, fragte ich ihn und zog die Augenbrauen noch oben.



»Ja«, er fasste sich an die Stirn, »und mir geht es erstaunlich gut, ich fühle mich … ausgeruht und klar im Kopf.«



Er setzte sich auf und blickte mich an. Mit einer raschen Bewegung zuckte seine Hand zu seinem Hals und strich über die Seite.



»Nichts mehr«, sagte er leise, »ich glaube, du hast mir das Leben gerettet … oder wenigstens mein Halbes.«



Er lachte kurz auf, es klang bitter in meinen Ohren.



»Ich verstehe nicht, wie Frank es versäumen konnte, dir die Wunden wieder zu verschließen«, stellte ich fest.



»Ich schätze, er war ziemlich sauer auf mich«, Justin grinste flüchtig.



Ich zog die Stirn in Falten und blickte ihn an.



»Was hast du denn gesagt, oder getan. Hast du etwa Krach mit ihm angefangen im Bad?«



»Tja, Frank stand wohl schon etwas länger vor der Tür und … na ja, er gab mir die Schuld dafür, was da passiert war. Ich antwortete etwas Unpassendes und dann ist er über mich hergefallen. War wohl alles nicht so toll.« Er grinste leicht.



Ich schüttelte den Kopf, das alles verstand ich nicht und es ergab auch keinen Sinn.



»Was hast du gesagt?«, fragte ich leicht irritiert.



»Tascha, lass es uns doch einfach vergessen, ja.« Er stand auf und zog mich am Arm mit hoch. Er war wirklich stärker geworden. Jetzt könnte ich ihn mir nicht mehr so einfach vom Leib halten, wie heute Nacht.



Sollte er noch einmal versuchen mich zu verführen, hätte ich Mühe, mich zu verteidigen. Ein kleiner Teil in mir wollte sogar, dass er noch einen zweiten Versuch startete. Ich kämpfte verzweifelt meine zweideutigen, irritierenden Gefühle nieder.



Das alles war total verrückt.




Kurze Zeit später saßen wir in meinem Mustang, diesmal auf dem Weg zu meiner Wohnung.



Den braunen Umschlag mit unserem neuen Auftrag hatte ich achtlos auf den Rücksitz geworfen. Wir fuhren mit geschlossenem Verdeck, Der Himmel hatte sich verfinstert und in weiter Ferne hörte man schon das böse Grummeln und Knurren eines weiteren, herannahenden Gewitters. Es wird eine böse Nacht werden. So oder So.



In diesem engen Käfig zusammen mit Justin eingesperrt zu sein bereitete mir fürchterliche Plagen. Ich konnte mich mit Justin nicht unterhalten, ich musste meine ganze Willenskraft zusammen nehmen, damit ich bloß keinen Versuch unternahm, um seinen köstlichen Geruch und Geschmack in mich aufzusaugen. Ab und zu warf ich aus den Augenwinkeln einen Blick auf Justin. Er starrte aus der Seitenscheibe, auf die vorbei flitzende Umgebung. Sein Hals sah verlockend aus, seine Haut, seine schöne makellose Haut schrie förmlich nach meinen Zähnen. Sein Blut darunter pulsierte mir rhythmisch entgegen: »Beiß mich, beiß mich, beiß mich.« Ich schluckte und verdrehte die Augen zur Decke.



Langsam schüttelte ich den Kopf.



Das Blut eines Menschen oder auch das von einem Halbblut zu begehren war eigentlich nichts Neues für mich, das ging mir ständig so.



Aber hier, war irgendetwas anders, ich konnte es noch nicht erfassen, aber es fühlte sich … falsch an.



Ich parkte mein Auto in der Tiefgarage. Die Familienkutsche von diesem Ralph stand noch neben meinem Parkplatz.



Zu meiner Wohnung ging ich die Treppen hoch, mit Justin zusammen in diesem kleinen Aufzug eingesperrt zu sein, würde ich jetzt nicht ertragen können.



Oben angekommen, begab ich mich in meine kleine Küche. Justin hatte es sich auf meinem Sofa gemütlich gemacht und verfolgte jeden meiner Schritte. Ich überlegte, ob ich mit ein bisschen Konservenblut, seinen Geruch besser aushalten und auch widerstehen könnte. Zum Glück hatte ich immer einen kleinen Vorrat in meinem Kühlschrank, damit er wenigstens etwas zu kühlen hatte. Ich riss mir eine Dose auf und schüttete die Hälfte in ein Glas, das ich der Mikrowelle anvertraute.



Meiner Unhöflichkeit bewusst, sah ich Justin fragend an und hob die Dose hoch. »Auch was?« Er winkte ab.



»Nein, Danke.«



Als das zarte

Pling

 ertönte merkte ich, wie gierig ich auf dieses rote Getränk war. Schnell stürzte ich das Blut herunter, das Glas war rasch wieder aufgefüllt, um erneut erwärmt zu werden. In meinem Körper breitete sich ein warmes Gefühl aus, ich glaubte, dass ich jetzt seinen Geruch besser ertragen konnte. Ich sah Justin an, der mich erneut mit diesen unergründlichen Augen musterte. Tiefe Brunnen, dachte ich.



»Was?«, fragte ich ihn gereizt. Er wusste doch

Was

 ich war, warum sah er mich so anklagend an?



»Schmeckt das?«, fragte er wie beiläufig. Ich wusste genau, dass er das nicht wirklich fragen wollte, es plagte ihn etwas anderes. Ich sah mir das zweite Glas an und schwenkte das Blut leicht.



»Ja«, antwortete ich kurz angebunden.



Er seufzte, dann wurde sein Blick wieder lebendiger.



»Wohin führt uns denn unser nächster Auftrag? Du hast ja noch gar nicht nachgesehen«, führte er tadelnd hinzu.



Ich lachte kurz auf, da hatte er recht. Irgendwie verspürte ich kein großes Verlangen, diesen Auftrag auszuführen. Ich hatte mir selbst versprochen, nur noch einen Auftrag auszuführen, also musste es jetzt dieser sein. Genauso gut konnte ich aber jetzt sofort Schluss machen, ich war hin und her gerissen.



Ich versuchte meine Gefühle zu verdrängen, nahm den Umschlag, den ich achtlos auf die Küchenanrichte geworfen hatte und riss ihn mit einem Ruck auf.



Den gesamten Inhalt schüttete ich auf die Arbeitsplatte vor mir. Heraus fiel ein Bild, ein maschinengeschriebenes Blatt Papier, eine handgeschriebene Notiz und ein Stück Jeansstoff.







Dennis



Es traf mich wie ein Blitzschlag. Dieser Geruch, der von dem kleinen Stückchen Stoff zu mir hoch zog, dieses Gesicht auf dem Foto, beides kannte ich, beides war mir sehr vertraut. Es gehörte zu mir, es war von mir. Das Glas, das ich noch in der Hand hielt, zersprang in meiner Faust. Das restliche Konservenblut lief über meine Hand und tropfte auf den Boden. Ich merkte es kaum. Mein Blick war fixiert auf dieses Foto, und auf dieses Gesicht auf dem Foto. Um mich herum nahm ich nichts mehr wahr, die Zeit schien still zustehen. Wäre ich ein Mensch, ich wäre augenblicklich in eine dankbare Ohnmacht gefallen. Nur um meinen Blick von diesen Augen auf dem Bild abzuwenden. Damit ich endlich nicht mehr dieses Gesicht anschauen musste. Nur um nicht daran zu denken, dass es mein Auftrag war, diesen Jungen zu töten.



Ich konnte nichts fühlen, ich konnte nicht mehr denken, in mir war nur noch Leere, eine furchtbare Leere, die meinen ganzen Körper einzunehmen schien.



Ich starrte immer noch auf das Bild vor mir, nahm den Geruch war, diesen vertrauten, menschlichen Duft. Wie aus weiter Ferne hörte ich Justin:



»Tascha?«, seine Stimme klang ein wenig ängstlich und verwirrt.



»Tascha, was ist denn?«, er kam zu mir und legte den Arm um mich, ich bemerkte es kaum. Ich lauschte nur in diese Leere in mir, hörte tief unten aus meinem Innersten leise ein Wort. Es wiederholt sich immer wieder:

NEIN. NEIN. NEIN

.



Justin neben mir schüttelte mich an der Schulter.



»Tascha, was ist denn mit dir?«, er sah auch auf die verstreut liegenden Unterlagen.



»Kennst du den Jungen?«



Ob ich den kenne

, dachte ich in diese Leere hinein, die mich komplett auszufüllen schien.



Es war so, als wenn Justins Worte ein Echo in mir erzeugten. Immer wieder hörte ich die Worte: »

Kennst du den Jungen

« und meine Antwort darauf: »

Ob ich den Jungen kenne

?« Die Worte wurden immer lauter. Immer schneller hörte ich die Sätze, bis sie ein gemischtes Wortchaos waren, bis die Worte nur noch Unsinn ergaben.



Erst dann konnte ich mich wieder bewegen. Langsam drehte ich meinen Kopf in Justins Richtung. Meine Muskeln und Sehnen am Hals schienen zu knarren und zu ächzen. Ich fühlte mich wie ferngesteuert.



»Ob ich ihn kenne?«, wiederholte ich nun laut und meine Stimme klang krächzend.



Ich blickte erneut auf das Bild.



»Das ist mein Sohn, mein richtiger Sohn«, ich holte tief Luft. »Das ist Dennis.«



Dennis, Dennis, Dennis,

 in meinem Kopf hallte sein Name wie ein Echo nach, und löste damit die unsinnigen Wortfetzen ab.



Ich fühlte noch diese hohle Leere in mir, aber ich spürte schon, wie sie langsam von einem anderen Gefühl verdrängt wurde: Hass! Blinder, wütender, alles vernichtender Hass.



Das wird sich besser anfühlen, dachte ich, damit konnte ich umgehen. Besser als diese tote Leere, deren Grenzen ich nicht einschätzen konnte. Ich wartete auf das Hassgefühl, erwartete es sehnsüchtig, um mich damit einzuhüllen, um darin zu versinken und vielleicht auch zu ertrinken.




Ich war noch nicht sehr lange ein Vampir erst zehn Jahre. Seltsam, wenn man sonst mit Vampiren sprach, oder von welchen hörte, waren alle immer mindestens über fünfzig Jahre schon verwandelt, die meisten noch viel, viel länger. Aber irgendwann haben alle mal angefangen, angefangen ein Vampir zu sein.



Mein Entschluss stand damals sehr schnell fest, in das Reich der Verdammten zu wechseln.



Ich hatte bei Frank als Sekretärin gearbeitet und war gut mit ihm ausgekommen. Irgendwann erzählte er mir von seinem wahren Wesen und ich war fasziniert.



Wochenlang erklärte er mir die Vorteile ein Vampir zu sein. Die wenigen Nachteile wollte ich erst gar nicht hören. Ich freute mich schon auf mein neues Leben.



Die Verwandlung selbst, zog sich über etliche Monate hin. Immer weiter veränderte ich mich, aber so langsam, dass es kaum einem auffiel.



Kurz vor der Vollendung meiner Umwandlung entschloss sich Frank aber, mich sterben zu lassen.



Ich musste sterben für meine Mitmenschen. Ich konnte nicht als fertiger Vampir weiter mit meiner Familie leben, als sei nichts geschehen. Er meinte, irgendwann würde ich mich nicht mehr beherrschen können und meine Kinder oder sonst jemanden in meinem nahen Umfeld beißen.



Wie gut er mich damals schon kannte. Es wäre bestimmt so geschehen. Mit meiner Beherrschung war es heute auch noch nicht weit her.



Ich hatte damals einen

tödlichen

 Autounfall. Alles wurde perfekt arrangiert und der Unfallort hergerichtet. Meine Leiche wurde gespielt von einer Frau aus der Stadt, die keiner vermissen würde. Sie wurde von Frank ausgesucht, da sie eine gewisse Ähnlichkeit mit mir aufwies.



Alles lief einfach perfekt, die Identifizierung, die Beerdigung, die Trauerfeier, alles hatte ich aus sicherer Entfernung beobachtet. Wer möchte nicht gerne sehen, wer alles zur eigenen Beerdigung erschien und wie sich die Hinterbliebenen ums Erbe stritten, es war das reinste Vergnügen für mich.

 



Der einzige Wermutstropfen war, das ich zwei kleine Kinder von fünf und sechs Jahren hinterließ, die mein Mann zu versorgen hatte.



Auch als ich schon für den Rest der Welt als tot galt, bin ich bei Frank geblieben, um in weitere Einzelheiten eingeweiht zu werden. Er erzählte mir von dem Kodex und dem Clan der Vampire. Er lud mich ein, einer von ihnen zu werden. Ich hätte auch ablehnen können, ich fragte mich nur, was Frank dann mit mir gemacht hätte. Er duldete keine Vampire um sich, die nicht dem Clan angehörten.



Es war eine interessante, berauschende Zeit. In der wir fast jedes Wochenende wilde Feste feierten, mit appetitlichen Jungs und Mädchen als Partyhäppchen. Ich wusste bis heute nicht, wo dieser ständige Nachschub an Jugendlichen herkam.



Einmal fragte ich Frank nach unserem Kodex und er antwortete mir mit einem Schulterzucken, das es alles Ausreißer, Dummköpfe und Kleinkriminelle sind. Die würde keiner vermissen.



Wehret den Anfängen. Sozusagen.



Meine Kinder sind jetzt Jugendliche, ich hatte meinen Mann und meine Tochter seit meinem Tod und der anschließenden Beerdigung, nicht mehr gesehen.



Nur meinen Sohn musste ich vor zwei Jahren kurz wieder auf den rechten Weg geleiten. Zufällig hatte ich erfahren, dass er mit ein paar seiner Freunde einen Einbruch plante. Kurz vor ihrem Treffen habe ich ihm den Kopf ein wenig gerade gerückt. Er hatte mich nicht erkannt, da ich mich mittlerweile stark veränderte und er noch ein kleines Kind war, als ich …

starb

. Ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass er auf die schiefe Bahn geriet.



Wer weiß, vielleicht hätte ich ihn sonst als

Partyhäppchen

 bei Franks Wochenend-Ausschweifungen wieder getroffen. Bis heute habe ich keinerlei Schandtaten von ihm gehört. Frank hatte ich nie von meinem kurzen Ausflug in die Menschenwelt erzählt.



Er hätte es nicht gutgeheißen, er vertrat die Meinung, dass man in die Welt der Blutsäcke nicht einzugreifen hatte. Sie müssten ihr Leben ohne Beeinflussung durch uns meistern. Auch ihre Entscheidungen dürften nicht durch einen von uns durchkreuzt oder verändert werden. Nur wenn wir den Abschaum jagten, sollen wir mit der Menschenwelt in Berührung kommen.




Ich zwinkerte kurz und schlug meine Augen auf. Dunkelheit hüllte mich ein. Ich lag auf meinem Sofa. Ich überlegte, wie ich dort hinkam.



Wurde ich vielleicht doch ohnmächtig? Nein, das kann nicht sein, Vampire können nicht ohnmächtig werden. Ich horchte in mich hinein und hörte immer noch das leise Echo: »Dennis, Dennis, Dennis«



Wie bin ich bloß auf dieses verflixte Sofa gekommen.



»Na, wieder unter den Lebenden?«



Ich zuckte zusammen, ich hatte Justin überhaupt nicht bemerkt Er stand direkt neben mir und grinste mich von oben herab an. Aber seine Augen machten diese Bewegung nicht mit. Seine unergründlichen, tiefen Brunnen sahen mich forschend an.



Schnell setzte ich mich auf, mit einem Mal überkam es mich, schwappte die Erinnerung wie eine Welle über mich hinweg und riss mich mit. Ich krallte mich mit beiden Händen an dem Polster des Sofas fest, um nicht fort gespült zu werden.



Ich schüttelte den Kopf um ihn frei zu bekommen und horchte erneut in mich hinein. Die Leere war weg, zum Glück. Der Hass war noch da. Aber im Moment war er ein weit entferntes, dumpfes Pochen. Damit konnte ich leben.



Ich erhob mich und ging zur Küche.



Der Inhalt des Umschlages lag verstreut auf der Arbeitsplatte.



Ich überflog den Anfang der Information, die persönlichen Daten kannte ich schon und ging direkt zu den aufgeführten Taten:



Angefangen mit kleineren Ladendiebstählen und Vandalismus. Dann wurde die versuchte Tat vor zwei Jahren erwähnt, also wusste man doch die ganze Zeit davon, dass ich Dennis damals von dem Einbruch abhielt, wie konnte ich nur so naiv, so dumm sein.



Fast ein Jahr herrschte Ruhe um ihn, dann ging es wohl Schlag auf Schlag mit Raubüberfall, Erpressung, schwerer Körperverletzung, wieder Raubüberfall, Totschlag und sogar einem Mord weiter. Mein Söhnchen war in einem Jahr wirklich sehr fleißig, das musste man ihm lassen.



Er war genau der Kandidat, den Frank früher auf unsere wilden Wochenendpartys eingeladen hätte. Eine kleine Tankstelle für Vampire, ein Taugenichts und Dummkopf, den keiner vermissen würde.



Ich warf einen raschen Blick auf die handgeschriebene Notiz. Wie immer stand da Datum, Uhrzeit un