Natascha

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Leben, Sterben, Tod

Langsam fiel ich auf die Knie vor Justins blutenden Körper. Er atmete noch, auch sein Blut hörte ich rauschen, wenn auch schon leiser. Sein Herz machte einige Stolpergeräusche, dann schlug es wieder regelmäßig, aber sehr schwach.

Ich strich vorsichtig eine Haarsträhne aus seiner Stirn. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich blickte ihn einfach nur an.

Thomas hatte ihn übel zugerichtet, am ganzen Oberkörper hatte er Bisswunden. Die schlimmste war an seinem Hals, unermüdlich trat Blut aus der Wunde. Es sah so aus, als hatte Thomas vor, ihn aufzufressen. Die Wunden waren alle zu tief, um von mir geheilt zu werden. Außerdem hatte er schon zu viel Blut verloren. Seine eigenen Selbstheilungskräfte werden erst voll entwickelt sein, wenn er ein Vampir war.

Erneut fragte ich mich, was ich machen konnte, wie es jetzt weiterging. Er murmelte etwas Unverständliches und öffnete endlich die Augen. Ich sah in seine tiefen Brunnen, die für mich keine mehr waren.

»Justin«, ich musste einfach lächeln, »na, wieder unter den Lebenden?«

Er lächelte flüchtig zurück, aber vor Schmerzen verzog er das Gesicht und schloss krampfhaft die Augen.

Als er sie wieder öffnete, lag bereits ein leichter Schleier über dem schönen Braun seiner Augen.

»Wie schlimm?«, fragte er gepresst, ich konnte sehen und riechen, wie ihn eine erneute Schmerzenswelle erfasste.

»Du siehst …« Was solle ich sagen? Dass er aussah wie durch den Fleischwolf gedreht? Dass er auf jeden Fall sterben würde? Dass er aber noch qualvollere Schmerzen ertragen musste, bis er endlich erlöst würde? Sollte ich ihm das wirklich sagen? Oder sollte ich ihn einfach anlügen und ihm beruhigend zureden bis … bis zu seinem Ende? Mein innerer Kampf dauerte an.

Seine blutverschmierte Hand schoss vor und ergriff meinen Unterarm. Ich war ein bisschen erschrocken, von der Bewegung und das sie so erstaunlich kraftvoll war.

»Tascha«, er suchte meinen Blick, versuchte mich mit seinen Augen fest zunageln.

»Werde ich das hier überleben?«, sein Blick war ohne Furcht, er kannte die Wahrheit bereits.

Mein Mund war ausgetrocknet und meine Stimme wie ein Reibeisen.

»Ich fürchte … nein.«

Ich blickte in seine Augen und erkannte in diesem Moment die Wahrheit.

Ich würde ihm nicht nur mein Leben anvertrauen, ich vertraute ihm mein ganzes Dasein an, alles was ich war, alles was ich ausmachte, würde ich in seine Hände legen.

Diese Erkenntnis riss mich fast um.

Ohne ihn würde ich nur noch eine Leere fühlen, ich wollte nicht, dass er stirbt, dass er mich verlässt.

»Justin«, fragte ich ihn ganz ruhig, mein Entschluss war gefasst.

»Möchtest du sterben?«

»Nein, Tascha, jetzt nicht mehr.« Seine blutige Hand griff nach meiner kalten. Er drückte sie kurz, dann lag sie schlaff da.

»Ich liebe dich«, hauchte er und hob seine Hand an, um mir über die Wange zu streichen. Auf halbem Weg verließ ihn die Kraft und er ließ den Arm einfach fallen. Kurz bevor ihm durch den Aufprall eine erneute Schmerzenswelle durchzucken konnte, fing ich den Arm auf und drückte seine Hand an meine Wange. Ich küsste seinen Handrücken und sah ihm erneut in die Augen.

»Ich will nicht, dass du mich verlässt«, wisperte ich.

Justin lächelte ein wenig und schloss die Augen.

»Auf Wiedersehen, Tascha«, murmelte er und war schon fast nicht mehr zu verstehen.

»Ich muss jetzt gehen, mein kleiner Liebling.«

»NEIN! Bleib bei mir!« Ich brüllte wie ein Tier, packte seine Schultern, schüttelte ihn durch und machte mir keine Gedanken über Schmerzen, die er haben könnte. Er musste sich unbedingt meine Überlegungen bis zum Schluss anhören. Außerdem wollte ich eine Antwort haben. Er riss seine Augen auf, sie flatterten, er wollte sie wieder schließen, aber das ließ ich nicht zu.

»Justin, bleib bei mir, bitte«, nochmals schüttelte ich ihn durch. Jetzt zeigte es Wirkung. Er blickte mich fast klar an, nur noch der dünne Schleier lag über seinen Augen.

»Justin, ich kann dich … verwandeln, wenn du das willst.« Seine Augen wurden größer.

»Aber du sagtest doch, dass es …«, er leckte sich über die Lippen und suchte wahrscheinlich nach den richtigen Worten, »…dass es nicht sicher ist. Dass ich auch als Monster wiederkommen kann.« Sein Blick war eine einzige Frage.

»Justin, ich werde aufpassen, dir geschieht nichts. Außerdem könntest du nie böse sein, nicht so richtig.« Ich lächelte ihn an und strich erneut diese Haarsträhne aus seiner Stirn. Justin fielen die Augen zu.

Aber ich musste jetzt eine Antwort haben, ich konnte das nicht tun, ohne sein Einverständnis. Ich fasste ihn leicht an der Schulter und beugte mich ganz nah zu seinem Ohr.

»Justin. Möchtest du gerne für immer bei mir bleiben? Möchtest du …«, ich holte tief Luft, »willst du ein Vampir werden, ein Geschöpf der Nacht?«

Gespannt sah ich ihn an. Er musste mir einfach eine Antwort darauf geben. Er öffnete die Augen und sein Blick ging fieberhaft hin und her, als dachte er scharf nach, dann sah er mich an.

»Ja, das möchte ich.« Seine Stimme klang sehr fest und entschlossen, er war also bei klarem Verstand. Das machte es mir leichter, hinterher, wenn seine Vorwürfe kamen, Und sie werden kommen, dessen war ich mir sicher.

Ich nahm ihn hoch und hielt meine Wange an seine gedrückt. Ganz schlaff hing er in meinem Arm. Ich küsste ihn auf die Wange und ging langsam tiefer. Küssend näherte sich mein Mund seinem Hals. Der unversehrten Halsseite. Ich atmete seinen Geruch ein, strich mit der Nase über seine Halsseite, küsste ihn genau auf die Stelle, an der unter der weichen Haut seine Ader pulsierte. Ich merkte, wie er schluckte.

»Versuch mir zu verzeihen.«

Das war der letzte Satz, den Justin in seinem menschlichen Leben hörte. Meine Zähne schlugen sich durch seine zarte, fast durchscheinende Haut. Kurz bäumte er sich in meinen Armen auf und stöhnte. Ich trank sein Blut, saugte es schnell in mich hinein. Ich musste mich konzentrieren, genau darauf achten, wann ich aufzuhören hatte. Es musste alles schnell gehen. Sehr schnell, sonst war Justin verloren und das für immer. Wenn ich einen Fehler machte und er sich in ein blutrünstiges, mordendes Monster verwandelte, würde er noch heute als dritte Fackel auf dieser schönen Lichtung enden.

Ich spürte genau, wie er in meinen Armen starb, wie der letzte Rest Leben aus ihm herauslief. Gleich war nichts mehr in ihm. Keine Seele, keine Persönlichkeit, kein Lachen … kein Leben.

All das hatte ich ihm weggenommen, hatte es in mich aufgesaugt.

Ich war bereit, ihm alles zurückzugeben. Gemischt mit meiner Persönlichkeit, meinem Lachen, meiner Seele.

Ich war fertig und legte Justin auf den weichen Boden. Sein Gesicht war schneeweiß, kein Atemzug bewegte seinen Brustkorb.

Er war tot, wirklich tot.

Ich hob meinen Unterarm an die Zähne, betrachtete Justins Gesicht, er sah so friedlich aus, so glücklich.

Ich zögerte kurz, sollte ich hier Schluss machen, sollte ich ihm seinen Frieden lassen?

Nein, auch er hatte sich für diesen Weg entschieden, darum wollte ich auch so dringend eine Antwort von ihm. Damit ich es ruhigen Gewissens verantworten konnte. Vor allem vor mir, dass ich ihn zu ewiger Verdammnis zwang. Ihn in ein Geschöpf der Nacht verwandelte.

Kräftig biss ich in mein Handgelenk, direkt über den Pulsadern. Sofort sprudelte mir Blut entgegen. Ich hielt die offene Wunde an seinen Mund, drückte seine Lippen und Zähne auseinander und zwang ihm so mein Blut auf.

Es wird sich in seinem Mund sammeln und in seinen Magen laufen. Dort wird es seine Arbeit verrichten, oder auch nicht, wenn ich zu lange zögerte und den richtigen Zeitpunkt verpasste.

Es lag nun nicht mehr in meiner Macht. Alles, was ich konnte, habe ich getan. Nun konnte ich nur noch abwarten.

Ich zog meine Hand zurück, verschloss die Wunde und hob Justin hoch, trug ihn wie ein kleines Kind. Er hing schlaff in meinen Armen.

Ich trug ihn in den Wald hinein.

Unter einem Baum ins trockene Moos legte ich ihn ab, lief zurück zu der Lichtung, nahm das Richtschwert und meine Machete an mich. Ohne einen Blick auf die noch glimmenden Vampire zu werfen, ging ich wieder zu Justin, setzte mich zu ihm unter den Baum und bettete seinen Kopf auf meinen Schoß.

Jetzt begann das Warten.

Das Warten auf die Verwandlung und welches Ende sie nehmen würde.

Ich war erschöpft, völlig erledigt. Was stand mir heute Nacht noch bevor? Wie wird diese Nacht enden? Ich lehnte mich an den rauen Stamm des Baumes und wartete.

Es war bereits Nachmittag, als Justins Körper anfing zu zucken. In regelmäßigen Abständen durchlief ihn eine neue Schmerzenswelle. Ganz langsam verschlossen sich die Wunden, die seinen Körper überdeckten. Ab und zu stöhnte er leise. Gespannt beobachtete ich sein Gesicht.

Immerhin schien die Verwandlung funktioniert zu haben, ich habe ihn aus dem Reich der Toten geholt, wohin ich ihn zuerst schickte. Jetzt kam es nur noch darauf an, wie er zurückkehrte. Wie würde er sein, was für ein Vampir würde er werden?

Kurz vor Sonnenuntergang, die Schatten waren schon sehr lang geworden, öffnete er plötzlich seine Augen. Sie waren immer noch braun.

Ich war erstaunt, ich hatte mit gelben, raubtierartigen Augen gerechnet. Er starrte an mir vorbei in die Baumkrone hoch. Langsam glitt sein Blick den Stamm herunter, bis er in meinem Gesicht anhielt. Unwillkürlich musste ich schlucken, so durchdringend hatte er mich noch nie angesehen. Sein Gesicht war angespannt. Unverwandt starrte er mich an. Ich musste irgendetwas zu ihm sagen, ich musste diese Stille, diese gespannte, gefährliche Stille durchbrechen. Krampfhaft suchte ich nach einem sinnvollen Satz in meinem Kopf.

 

»Na, wieder unter den Lebenden?«

Was anderes fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Meine Stimme sollte fröhlich klingen, aber sie klang ängstlich. Sein Blick war nachdenklich auf mich gerichtet, als wenn er überlegen musste, wer ich war und ob er mich schon einmal gesehen hatte.

Dann, endlich schien er mich zu erkennen und sein Gesicht entspannte sich, sein Mund verzog sich zu einem Lächeln und, was das Schönste war, seine Augen lachten mit.

»Ja, mir geht’s ganz gut.« Er richtete sich auf und sein Oberkörper schwankte noch ein bisschen. Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, mit dem Erfolg, das sie nach allen Richtungen abstanden. Dann blickte er mich an.

»Und wie geht es dir?«

»Jetzt gut.« Ich grinste ihn an, ich konnte einfach nicht anders, »jetzt geht es mir richtig gut.« Ich fing an zu lachen, lachte aus vollem Hals. Ich hielt mir den Bauch vor lauter Gelächter, so erleichtert war ich. Die ganze Anspannung der letzten paar Stunden, als ich über seinen, in der Verwandlung befundenen Körper, wachte, war wie weggeblasen.

Es schien geklappt zu haben, er war kein … böser Junge geworden, kein Monster, er roch sogar fast noch genau wie vorher.

Ich konnte einfach nicht anders, ich umarmte ihn und hielt ihn leise lachend fest. Er erwiderte meine Umarmung, wenn sich auch auf seinem Gesicht Erstaunen über meinen Ausbruch breit machte.

Justin seufzte. »Du bist das Beste, das ich je erlebt habe«, er blickte mich an, seine Augen strahlten. »Es hat sich gelohnt, dafür zu sterben.«

»Justin«, flüsterte ich und lehnte mich an ihn. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht.« Ich strich mit meiner Wange über seine Halsseite, atmete seinen Duft ein.

Er griff mit seiner Hand in meine Haare. Dann legte er seine kühlen Hände rechts und links an mein Gesicht, augenblicklich hatte ich das Gefühl, als stünde ich in Flammen, er blickte mir tief in die Augen.

»Tascha, Liebes, du hast Großartiges vollbracht. Du hast mich gerettet. Ich liebe dich.«

Er näherte sich meinem Gesicht und unsere kalten Lippen berührten sich.

Es war ein ganz anderes Gefühl als das letzte Mal, da floss noch Blut durch seine Adern, er war noch menschlich, lebendig.

Ich näherte mich ihm heftig und erwiderte den Kuss.

Wir ließen uns gemeinsam auf das weiche Moos sinken. Er zog mich auf sich drauf. Ich ließ es nur zu gerne zu.

Irgendwann trennten sich unsere Lippen. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und lauschte seinem Atem darin. Nur das Atmen, sonst hörte ich nichts. Es hörte sich gut an, kein verlockendes, rauschendes Blut, kein Herzschlag mehr. Nur noch sein Geruch, der mich einhüllte und mich verführte.

Wir lagen eine Zeitlang einfach so da und hingen unseren Gedanken nach. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und eine tröstliche Dunkelheit hüllte uns beide ein.

Mit einem Schlag wurde mir wieder bewusst, warum ich eigentlich hier war und was ich noch zu erledigen hatte. Schnell erhob ich mich und klopfte mir den Staub aus der Hose.

Justin lag noch auf dem Boden und blickte mich von unten her an. Ich hielt ihm meine ausgestreckte Hand hin, um ihm aufzuhelfen.

Die Dunkelheit hüllte uns ein wie ein Mantel, verbarg uns. Wir hatten über zwölf Stunden Zeit verloren, ich hoffte dass es noch nicht zu spät war, um meinen Sohn zu retten.

»Komm jetzt«, murmelte Justin und nahm meine Hand

Wir lächelten uns an, in dieser ungewöhnlich schwarzen Nacht. Ich schloss kurz meine Augen und atmete tief den Geruch ein. Die satte, köstliche Sommernacht, der Wald, und Justin. Meine Augen strahlten bestimmt, als ich sie wieder öffnete.

»Los jetzt«, sagte ich und wir rannten los.

Es war herrlich, wir liefen durch die Nacht, waren gleich schnell und lachten uns immer wieder zu.

Rasch ließen wir den Wald hinter uns, vorbei an meinem einsam geparkten Mustang und rannten auf mein altes Haus zu.

Kurz davor hielt ich an, Justin neben mir auch. Es war merkwürdig, das Haus, die Umgebung, alles war mir so vertraut und doch auf eine eigenartige Weise völlig fremd. Ich versuchte den Geruch von Dennis aufzunehmen, er war nur in kleinen Spuren vorhanden. Geruchsfetzen, die immer wieder an meiner Nase vorbei wehten.

Ich befürchtete, dass Dennis nicht zu Hause war. Aber wo konnte er nur sein, dieser kleine Verbrecher, wo trieb er sich herum? Ich sah Justin an und zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube, er ist nicht mehr hier«, flüsterte ich ihm zu. Er legte seine glatte Stirn in Falten.

»Was meinst du, wo er jetzt ist? Wo können wir nach ihm suchen?« In seiner Stimme schwang Ratlosigkeit mit.

Ich überlegte blitzschnell, in meinem Kopf tauchten Bilder auf, von vor zwei Jahren, als ich mir Dennis zur Brust nahm. Eine Kneipe, ein Hinterhof, ein Gesicht, sein Freund, eine Straße, eine Adresse in der Stadt.

»Ich weiß, wo ein Freund von ihm wohnt, vielleicht sind die beiden ja immer noch befreundet und er ist jetzt bei ihm?« Zweifelnd sah ich Justin an, ich wusste im Moment nicht weiter.

»Ja, okay wir werden sehen.« Abrupt drehte er sich um und rannte schon zurück zu meinem Wagen. Ich war erstaunt, gewöhnte mich erst langsam an den veränderten Justin.

Kurz vor dem Mustang hatte ich ihn eingeholt.

Zweifel stieg in mir auf, was hatte ich eigentlich genau vor, wenn wir Dennis finden würden? Ihn entführen? Ihn verstecken? Vor wem denn genau? Wen wird Frank zu Dennis’, und wahrscheinlich unserer, Hinrichtung schicken? Oder kam er wohlmöglich selber? Fragte ich mich grimmig.

Justin blickte mich besorgt an.

»Was ist los?«

Ich seufzte, dann fragte ich ihn all die Dinge, die ich mir gerade selbst gestellt hatte.

Während wir einstiegen, sah ich, wie Justin ins Grübeln kam. Ich fragte mich, ob er sich vorher keine Gedanken darüber gemacht hatte. Oder hatte er etwa so ein Urvertrauen in mich gesetzt, dass er meinte, ich wüsste schon, was zu tun sei, ich wüsste bereits einen Ausweg? Da musste er sich aber auf eine Endtäuschung vorbereiten.

Im Moment kam ich mir eher hilflos, unorganisiert, schwach und … ja richtig menschlich vor. Ein ekelhaftes Gefühl! Das wollte ich nicht! Dieses Gefühl hasste ich!

Wir saßen schweigend nebeneinander, als ich wieder zurück in Richtung Stadt raste.

Es war noch nicht sehr lange her, obwohl es mir wie Jahre vorkam, da fuhren wir in die entgegengesetzte Richtung. Doch da waren wir nicht dieselben wie jetzt.

Er war noch ein Mensch, wenn auch nur ein halber, aber ein Mensch, ein atmender Kerl mit Herzschlag. Jetzt war er ein Vampir, so schnell änderten sich die Zeiten.

Und ich? Ich war auch nicht mehr dieselbe wie vor, ist es wirklich nicht schon viel länger her, zwölf Stunden.

Die Aussprache mit Justin, Thomas und Elisabeth, der Kampf, Justin, wie er in seinem Blut lag, wie er schließlich starb und dann seine Verwandlung.

All das hatte mich verändert, ich wusste genau, dass ich nicht mehr zurück wollte, oder konnte, zu dem Clan der Vampire. Ich wollte keine Verbrecher mehr jagen. Es war endgültig vorbei, ich hatte meine Lektion gelernt.

Zu leicht konnte man den Oberen des Clans verärgern … zu leicht konnte man dabei sterben.

Josh hatte Recht, alles ist besser als der Clan. Ein freies Dasein, ohne Regeln, ohne Hintertüren, das war eindeutig mehr wert. Wenn ich Dennis in Sicherheit wusste, werde ich zu Josh gehen und mich ihm anschließen.

Leichthin fragte ich Justin in die Stille hinein, die uns umgab:

»Sag mal, was hast du eigentlich vor, wenn …« Ich suchte nach Worten, »wenn das hier vorbei ist.« Ich glaubte er wusste genau wie ich das meinte.

Er schaute mich an und nahm meine Hand, die locker auf dem Schalthebel lag. Statt einer Antwort küsste er mir auf den Handrücken, mehrmals. Dann ging er über, zu der Innenseite am Handgelenk, immer weiter streichelten seine Lippen über meine Haut. Dann hielt er inne und blickte mich von unten her an.

Was für Augen, dachte ich bei mir, die tiefsten Brunnen, die es gab. Aber ich blieb an der Oberfläche, die Brunnen konnten mich nicht mehr mit in ihre unergründliche Tiefe ziehen.

»Ich möchte gerne dort sein, wo du bist«, flüsterte er mir zu und küsste mich erneut, diesmal in die Armbeuge.

Er nahm seinen Blick nicht von mir. »Wenn du das möchtest.«

Ob ich das möchte, fragte er. Ich starrte durch die Frontscheibe auf die dunkle Straße vor uns. Ich überlegte, ob ich das wirklich wollte. Bei all der Liebe, dem gegenseitigen Vertrauen, der Gleichheit unser beider Daseins, dem wilden, verrückten Feuer, …wollte ich wirklich mein einsames Leben aufgeben?

Ihn zum Gefährten haben, hieß nicht nur, zusammen jagen und wildern, sondern auch die Beute teilen.

Wollte ich das wirklich?

Justin hatte noch keine Vampirerfahrungen sammeln können. Er wusste noch nicht, was auf ihn zukam. Was war, wenn wir in Streit gerieten, vielleicht über ein nettes, schmackhaftes Blondinchen. War ich wirklich bereit zu teilen? Wird er in ein paar Monaten auch noch bereit sein, zu teilen? Oder versuchen wir dann schon uns gegenseitig die Köpfe abzureißen?

Neben mir wurde Justin ungeduldig, er ließ meinen Arm sinken, und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Auch ich blickte jetzt zu ihm und musste unwillkürlich lachen. Mit einer Hand strich ich ihm über die Wange, bis zu meiner Lieblingsstelle, seinem Hals. Justin schloss genüsslich die Augen.

»Ja, natürlich möchte ich, dass du bei mir bist.« Ich grinste immer noch, »solange wir das beide wollen.«

»Das ist schön.«

Ich wusste nicht genau, ob er meine Antwort, oder meine kalten Finger auf seiner Haut meinte.

Ich wollte wirklich, dass er bei mir blieb, wurde mir plötzlich schlagartig klar. Nicht nur weil er mir Vertrauen und Liebe entgegenbrachte. Nicht nur weil wir beide die gleichen Wesen waren, mit denselben, fast unkontrollierbaren Gelüsten.

Nein!

Weil ich einfach wollte, dass er in meiner Nähe war. Seinen Geruch, seine Nähe, ich wollte alles an ihm bei mir haben.

Über meine Motive war ich mir nicht ganz im Klaren, liebte ich diesen Kerl etwa? Fragte ich mich erstaunt. Wusste aber bereits in derselben Sekunde, dass das nicht so war. Ich dachte nicht, dass ich überhaupt fähig war jemanden zu lieben. Ich mochte Justin einfach nur bei mir haben, solange, bis es nicht mehr ging.

Vielleicht auch nur, weil ich es zurzeit nicht mehr ertrug, alleine zu sein.

Langsam lenkte ich meinen Wagen durch die dunklen Straßen der Stadt. In Richtung der Adresse, die ich von damals her noch im Kopf hatte. Hoffentlich fanden wir Dennis dort, oder wenigstens einen Anhaltspunkt, wo er sein könnte.

Justin neben mir schien in Gedanken versunken, ab und zu bemerkte ich, wie er angestrengt die Stirn runzelte. Ich fragte mich, über was er so intensiv nachdachte.

Vielleicht hatte er aber auch Durst, möglich, dass sich zum ersten Mal das Monster in ihm meldete. Damit musste er erst noch lernen umzugehen, das ging mir auch nicht anders.

Den Durst eine Weile zu bekämpfen, das Verlangen in sich zu zügeln, das Monster nur für kurze Zeit zu beherrschen, dazu gehört schon eine große Portion Mut und Willenskraft.

Justin krümmte sich plötzlich in seinem Sitz, die zu Fäusten geballten Hände an die Schläfen gepresst. Ein gequältes Stöhnen erklang aus seinem Mund. Seine ganze Haltung ließ den Schmerz erahnen, den er zu bewältigen hatte.

»Justin, ist alles klar, bei dir?«, fragte ich ihn vorsichtig. Er nahm die Hände runter und blickte mich an. Seine Augen hatten jegliches Braun verloren, nur noch das raubtierartige Gelb war zu erkennen. In seinem Inneren tobte ein Kampf, ein heftiger Kampf. Sein Mund verzog sich, ich sah die spitzen Zähne. Er schien wirklich Durst zu haben.

»Nein, mir geht’s gar nicht gut. Ich …weiß auch nicht.« Er klang verzweifelt.

»Justin, wir müssen dir was zu trinken besorgen. So kommen wir nicht weit.« Ich hob meine Hand und wollte ihm über die Wange streichen. Er wich blitzartig zurück und stieß ein kurzes Geräusch, beinahe wie ein Fauchen, aus. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Ich ließ meine Hand sinken und blickte aus der Frontscheibe auf die Straße.

 

»Entschuldige«, murmelte Justin, »ich glaube nicht, dass ich deine Berührung jetzt ertragen könnte.«

Ich überlegte fieberhaft, wo ich jetzt etwas Nahrhaftes für ihn auftreiben konnte.

Ich werde ihn mit zu mir nach Hause nehmen, da war mein kleiner Konservenvorrat noch. Das würde ihm erst einmal über das Schlimmste hinweghelfen.

»Justin, wir fahren schnell zu mir, da hab ich noch was im Kühlschrank.«

Er krümmte sich in seinem Sitz. Ich presste die Lippen zusammen und gab Gas. Der Mustang gehorchte und brüllte unter mir auf. Kurz darauf lenkte ich den Wagen auch schon in die Tiefgarage. Ich parkte auf meinem Parkplatz, der Van meines Nachbarn stand noch daneben.

»Willst du im Auto bleiben? Ich kann schnell hoch laufen, das Zeug holen und wir können dann weiter.«

Ich sah Justin fragend an. Er schüttelte den Kopf.

»Nein, … will …mit«, stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Wir stiegen beide aus und gingen schweigend nebeneinander her in Richtung Treppenhaus.

Den Griff der Tür, die zum Treppenhaus führte, hatte ich schon in der Hand. Ich sah Justin flüchtig an, blickte in seine Raubtieraugen, seine Zähne waren lang und spitz, die Lippen darüber zurückgezogen. Ich beobachtete seine angespannte, gekrümmte Haltung, beinahe spürte ich seinen Schmerz. Ich überlegte, ob das damals bei mir auch so war, hatte ich auch diese Schmerzen, dieses Verlangen, diesen Durst?

Ich wusste es nicht mehr.

Leider.

Sonst wäre ich besser vorbereitet gewesen, ich hätte Bescheid gewusst, vielleicht sogar erahnen können, was da auf mich zukam.

Ich zog die Tür zum Treppenhaus auf und zwei Dinge geschahen annähernd gleichzeitig.

Ein Mensch stand im Türrahmen, ich erkannte ihn als den Mieter unter mir - Ralph.

Er sah mich kurz erstaunt an und wollte gerade die Hand zu einem Gruß erheben.

Das war die letzte Bewegung, die er in seinem Leben ausführte. Justin stürzte sich auf ihn, noch ehe Ralph seine Hand richtig anhob. Das Ganze dauerte noch nicht mal ein Blinzeln, ich war vollkommen erstarrt und hielt immer noch die Tür auf, ganz so, als hielte ich mich an ihr fest.

Justin warf Ralph um und stürzte sich sofort auf seinen Hals. Gierig saugte er das Menschenblut in sich hinein.

Dabei hielt er Ralph eisern fest.

Fasziniert starrte ich auf die Beiden, die im Treppenhaus vor mir auf dem Boden lagen.

Wie schnell der Bursche ist, dachte ich bei mir.

Wie idiotisch, sich auf den Ersten zu stürzen.

Ralph trommelte mit seinen Füßen einen letzten, rhythmischen Takt. Die Luft war erfüllt mit den Gerüchen der Tiefgarage, dem süßen Blut von Ralph und, ich schloss meine Augen und atmete tief ein, ich roch sogar Justins Gier und Verlangen.

Oder war es nur ein Gefühl? Konnte ich fühlen, was er jetzt spürte? Ich öffnete meine Augen wieder und sah gerade noch, wie Justin von Ralph abließ. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.

Ich konnte meine Wut und auch mein Entsetzen nicht mehr zügeln.

»Du Vollidiot«, brüllte ich. Meine Stimme prallte von den Wänden ab und verdoppelte, verdreifachte sich. Ich zuckte zusammen.

Leiser sagte ich: »Verdammt, was hast du dir nur dabei gedacht? Du kannst doch nicht über jeden herfallen, der dir gerade mal vor die Zähne spaziert.«

Wütend hielt ich inne. Justin drehte den Kopf in meine Richtung und lächelte mich an. Seine Augen erstrahlen wieder in diesem wunderschönen warmen Braun.

»Ich weiß, Tascha«, er schluckte kurz, »es tut mir leid. Aber wenigstens brauchen wir jetzt nicht mehr hoch zu dir in deine Wohnung. So haben wir Zeit gespart.« Abermals ein Lächeln von ihm, diesmal ein unwiderstehliches. Ich verdrehte die Augen zur Decke.

»Komm, hilf mir, wir schaffen Ralph in den Kofferraum und entsorgen ihn unterwegs.« Justin rappelte sich hoch, gemeinsam trugen wir den Toten zu meinem Wagen.

Ich knallte den Deckel von meinem Kofferraum zu, Ralph war vorerst verstaut, wir werden später sehen, was wir mit ihm machten.

Wir stiegen wieder in den Mustang und ich raste durch die Straßen.

Am Rand der Stadt ist ein Viertel, das von den weniger geachteten Bürgern dieser Stadt bewohnt wurde. Hier kamen die meisten unserer Opfer her. Ich parkte den Wagen vor dem Haus, das ich aus meiner Erinnerung noch kannte. Es war still hier. Viele Gerüche lagen in der Luft, auch bedrohliche und Blutgeruch.

Ich atmete tief ein und bekam den leichten Duft von Dennis in meine Nase.

»Er war hier«, ich blickte zu Justin, der sich verwundert umsah.

»Jetzt ist er wieder weg, aber vielleicht kriegen wir aus seinem Kumpel etwas raus.« Ich ging zu der Haustür und studierte die Klingeln. In meinem Gedächtnis grub ich nach dem Namen, er fiel mir nicht mehr ein. Justin stand neben mir und grinste mich frech an.

»Guck mal, es ist offen.« Dabei gab er der Tür einen Stoß und sie flog auf. Ein langer dunkler Flur lag vor uns. Es stank nach Verwesung, Exkrementen und über all dem lag ein beißender Brandgeruch.

Justin und ich liefen die Treppen hoch, an jeder Wohnungstür stoppten wir kurz um den Geruch der Wohnung einzuatmen. Im obersten Stockwerk stand die Tür offen und hier drang auch dieser scheußliche Brandgeruch heraus.

Vorsichtig betraten wir die schäbige dreckige Wohnung. Dennis’ Duft war hier sehr stark vorhanden, obwohl der Geruch nach verbranntem Fleisch ihn versuchte zu überdecken.

Mich überkam ein eigenartiges Gefühl, mein ganzer Körper kribbelte und vibrierte. Irgendetwas war hier passiert und ich wusste genau, dass mir das nicht gefiel. Wir gingen in das kleine Wohnzimmer und da lagen sie.

Vier längliche, verbrannte Haufen, die aussahen, wie ein altes Lagerfeuer. Umgeben, von Asche und einem Wall aus Sand, damit sich das Feuer nicht ausbreitete. Nur mit Mühe konnte man in den Brandhaufen menschliche Gestalten erkennen. Die Umrisse waren noch da, wenn auch nur schwach vorhanden. Ich schloss die Augen und zog die verbrannte Luft in mich ein. Keiner von denen war Dennis, zum Glück. Aber ein bekannter Geruch zog mir in die Nase, ich glaubte den Freund gefunden zu haben, nach dem wir suchten. Er würde uns jetzt nichts mehr verraten können.

»Das war Frank, eindeutig«, sagte Justin neben mir gepresst. Ich runzelte die Stirn und schnupperte nochmals. Ja, er hat recht, unter dem ganzen Gestank bemerkte ich den feinen Vampirgeruch kaum.

»Du hast Recht. Wo könnte er jetzt nur sein? Hat er Dennis mitgenommen? Hat er ihn getötet?«

Wieder roch ich intensiv die Umgebung ab. Den Brandgeruch musste ich ausblenden, denn nur die darunter verborgenen Gerüche interessierten mich.

Justin stellte sich dicht neben mich. Ich spürte, wie er mir Kraft gab, wie er mir Halt gab.

Nach einer Weile konnte ich ruhiger atmen, mich besser konzentrieren. Ein letztes Mal atmete ich tief ein und hielt den Geruch fest.

»Frank hat ihn mitgenommen. Ich glaube, ich weiß wo ich beide finden kann.« Justin wirbelte mich an den Schultern herum, bis ich ihm gegenüber stand. Er blickte mir fest in die Augen.

»Wo wir die Beiden finden, meinst du wohl.« Sein Mund war nur ein Strich.

»Ich erledige das alleine«, sagte ich kalt, »das hier geht dich nichts an, Justin. Das ist meine Angelegenheit. Du hast damit nichts zu tun.«

»Tascha, ich dachte, wir gehören zusammen.« Sein Blick war voller Verzweiflung und Angst.

»Ich dachte«, fuhr er leise fort, »wir beschützen einander, sind Gefährten. Mit allem, was dazugehört.« Er legte seine Stirn in Falten. »Ich dachte … du liebst mich«

Ich schluckte, und überlegte wie ich ihm sagen sollte, dass ich ihn nicht dabei haben wollte, dass ich es für zu gefährlich hielt. Ich würde Frank auf jeden Fall umbringen. Er, der auch mal Justins Herr war. Würde er dabei mitmachen, es verkraften, mich verstehen?

Als könnte er meine Gedanken lesen, umarmte er mich und flüsterte: »Ich will Frank auch tot sehen. Er hat mir … uns zu viel Schlimmes angetan. Dafür soll er in der Hölle brennen.«

Ich hielt Justin auf Armeslänge fest und fragte mit zusammengekniffenen Augen: