Natascha

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»Schaffst du es zu laufen?«

»Ja, das geht. Ich kann nur auf der linken Seite noch nichts sehen.«

»Kein Problem, ich bleibe links von dir, dann wird es gehen.«

Wir liefen los, nebeneinander, immer den Spuren nach.

Wir rannten etliche Kilometer durch den Wald. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, liefen wir jetzt parallel zur Landstraße. Ich blieb ruckartig stehen, Justin konnte mich nicht so gut sehen, darum lief er noch ein paar Schritte weiter, bevor auch er anhielt.

Vor uns stand der schwarze Pritschenwagen, mitten auf dem Weg geparkt. Von meiner Position aus, konnte ich nicht genau erkennen, ob jemand drin saß oder nicht. Langsam ging ich auf den Jeep zu. Ich zog die Luft ein, es schien niemand von ihnen in der Nähe zu sein.

Ich sah Justin an, seine Kräfte hatten während des Laufens ihre Arbeit verrichtet. Sein Gesicht war wieder symmetrisch, die Wunden beinahe verheilt. Die leere Augenhöhle war mit einem milchig, weißen Etwas gefüllt. Er sah also bald wieder normal aus, das freute mich.

»He, du siehst bald wieder aus wie immer«, sagte ich.

Er fasste sich mit der Hand an die linke Gesichtsseite. »Aber sehen kann ich immer noch nichts.«

»Das kommt noch.« Ich grinste schief und zuckte mit den Schultern.

Ich sah mich um, ich kannte die Gegend, in der wir uns befanden. Wir waren nur ein paar Kilometer von meinem früheren Zuhause entfernt. Hier ging ich damals oft spazieren. In einer Zeit, wo ich Vampire nur aus Büchern und Filmen kannte.

Ich überlegte, ob Dennis den gleichen Weg eingeschlagen hätte, wenn ich nicht vor zehn Jahren ihn und den Rest meiner Familie verlassen hätte. Vielleicht wäre aus ihm ja ein guter Junge geworden, wenn ich nur geblieben wäre.

Ich verscheuchte die trüben Gedanken, jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Er hatte diesen Weg gewählt, den für ihn richtigen Weg, es war seine Entscheidung.

»Tascha, alles okay?«, flüsterte Justin neben mir. Mein Gesichtsausdruck hatte meine Gedanken wohl verraten. Ich warf ihm aus den Augenwinkeln einen raschen Blick zu.

»Ja, ist schon gut. Komm, lass uns weitergehen. Sie müssen hier irgendwo sein. Halt die Augen offen«, ich stockte, »verzeih.« Aber Justin grinste nur.

Plötzlich erschallte ein lauter Ruf durch den Wald.

»Tascha, hier sind wir.« Die Vögel flogen mit lautem Geschrei davon. Ich zuckte zusammen, und tauschte einen schnellen Blick mit Justin. Ich wusste, wo das herkam, ich kannte mich hier aus. Weiter vorne war eine kleine Lichtung, nur ein paar Meter im Durchmesser. Aus dieser Richtung kam Franks Ruf.

Justin und ich liefen los.

Wir wurden erst langsamer, als wir die Stelle erreichten. Am Rand der kleinen Lichtung stoppten wir. Mittendrin standen Frank und Dennis. Ich hatte nur Augen für meinen Sohn und ging ein paar Schritte auf ihn zu. Er wurde unsicher, tauschte einen raschen Blick mit Frank und stolperte ein paar Schritte zurück.

Ich geriet ins Stocken, hielt an und zog die Augenbrauen zusammen. Ich blickte vor mich ins Gras. Ich hatte einen kurzen Geruchsfetzen von Dennis aufgeschnappt, der das bisschen Blut in mir zu Eis gefrieren ließ.

»Nein, das hast du nicht gewagt.«

Meine Stimme war nur ein Hauch.

»Oh doch.« Frank lachte trocken auf.

»Das ist doch besser, als hätte ich ihn umgebracht. Viel besser.«

»Nein.« Erneut kam nur der Hauch einer Stimme aus meiner Kehle.

Dann rannte ich los, ohne Vorwarnung, aus dem Stand. Ich wollte Frank umbringen, ihn zerquetschen, mit meinen bloßen Händen seinen Kopf abreißen und damit Fußball spielen.

Er hatte mit meiner Reaktion gerechnet. Meine Augen verrieten mich, sie wurden, im Bruchteil von einer Sekunde, zu Raubtieraugen. Das hatte er bemerkt.

Er trat nur einen großen Schritt zur Seite und ich lief ins Leere. Ich schlug einen kleinen Bogen und stürzte mich erneut, mit einem Bärengebrüll, auf ihn.

Kurz bevor ich ihn erreichte, packte Dennis meine Arme und hielt mich eisern fest.

Mein eigener Sohn hielt mich fest, hinderte mich daran denjenigen auszuschalten, der ihm das antat. Der ihn zum Vampir machte. Mein eigener Sohn. Ich war fassungslos.

Ich sah mich um und suchte nach Justin. Der stand immer noch am Rande der kleinen Lichtung, die Arme leicht vom Körper abgespreizt, den Kopf in den Nacken gelegt. Bis hierhin hörte ich das drohende Knurren, das aus seinem Inneren kam.

Plötzlich schoss sein Kopf nach vorne. Ich blickte in gelbe Augen – das linke war wieder vollständig hergestellt – und sah seine Zähne, lang und spitz.

»Justin«, schrie ich ihn an, er hörte mich scheinbar nicht. Knurrend stand er da und fixierte mich.

»Er kann dich nicht mehr hören«, sagte Frank sanft zu mir, dabei kam er ein paar Schritte auf mich zu.

»Es ist aber auch zu schade, dass du ihn nicht getötet hast. Wo du doch so scharf auf sein Blut warst.« Er grinste hämisch.

»Dann wäre ich dich bequemer losgeworden. Dann hätte dich der hohe Rat töten können. Nein, töten müssen. Du hast einfach zu oft die Regeln missachtet, zu oft Unschuldige getötet. Der hohe Rat hatte meinen Clan schon unter Beobachtung. Früher oder später hätten sie mir die Macht entzogen. Hörst du MIR!« Frank brüllte mich an, dann lachte er kurz und vollkommen humorlos auf.

»Ich lebe schon seit über vierhundert Jahren in dieser Welt und lasse mir nicht von einem Vampirneuling, wie dir, meinen Clan wegnehmen. Ich habe dich mehr als einmal gewarnt, Tascha.« Frank umrundete mich und Dennis, der immer noch eisern meine Arme festhielt.

»Dann kam Dennis dazwischen, ich dachte mir schon, dass du ihn nicht töten wirst, darum schickte ich Tom und Elisabeth. Ich habe sie zwar auf Dennis angesetzt, konnte mir aber vorstellen, dass sie dich auch erwischen wollten. Schließlich habe ich ihnen erzählt, dass deine unkontrollierten Taten für die Zerschlagung des Clans verantwortlich sind. Wie du weißt, waren beide mir sehr ergeben. Wie du es allerdings geschafft hast zusammen sechshundert Jahr Vampirdasein zu töten, ist mir bis heute ein Rätsel« Er schüttelte den Kopf, ich nutzte die kleine Redepause.

»Darf ich auch mal was fragen?« Frank hob eine Augenbraue und blickte mich an.

»Bitte.«

»Warum hast du mich nicht einfach aus dem Clan geschmissen? Mich aus der ganzen Stadt verbannt, von mir aus auch aus diesem Land. Warum willst du mich töten?«

»Weil du schlecht bist«, brüllte er, kaum dass ich meine Frage zu Ende gestellt hatte.

»Weil du niemals den Kodex einhalten wirst, egal wo du bist. Weil du schlechtes Blut hast … und … weil du böse bist!« Verachtung war in seiner Stimme zu hören. Meine Gedanken kreisten wie Bienen um den Honig.

Ich bin schlecht?

Ich habe schlechtes Blut in mir?

Aber es war doch sein Blut, was mich letztendlich zu dem gemacht hat, was ich bin. Also ist sein Blut schlecht.

In meinem Kopf klickte es kurz, als wenn ein Schalter einrastete.

Es war nicht, dass er Angst hat, seinen Clan zu verlieren, oder seine Macht. Es hatte auch nichts damit zu tun, das ich Unschuldige aussaugte. Oder den Kodex mit Füßen trat.

Es war einzig und alleine seine Angst ER könnte schlechtes Blut haben. Er könnte ein Träger des bösen Blutes sein.

Seit es Vampir gab, existierte die Angst, einer von ihnen könnte der sogenannte Träger des bösen Blutes sein. Das waren Vampire, die böses Blut in sich trugen, keiner wusste, wo es her stammte, sie müssten es noch nicht einmal selber spüren, aber bei einer Verwandlung gaben sie es weiter. Der Vampirneuling mutierte zum mordenden Monster, das nur zwei Dinge kannte, töten, und den Hass auf seinen Erzeuger.

Träger des bösen Blutes zu sein, war mit einem Todesurteil gleichzusetzen.

Wenn der neugeborene Vampir den Träger nicht erwischte, sprach es sich irgendwie herum und der hohe Rat machte Jagd auf ihn. Träger des bösen Blutes zu sein war eine Schande.

Frank hatte mir, bei der endgültigen Verwandlung, ein paar Tropfen seines Blutes zu trinken gegeben, so wurde das gemacht, damit die Verwandlung vollständig war.

Und jetzt hatte er Angst, ja Panik, sein Blut könnte verunreinigt sein.

Ich musste grinsen, das war der totale Schwachsinn. Der größte Blödsinn, den ich je hörte.

Ich fing an zu kichern, ich konnte nichts dafür, es überkam mich einfach. Frank starrte mich entsetzt an. Das fand ich noch viel witziger und lachte lauthals.

Ich blickte in Franks hasserfüllte Augen und musste nur noch mehr lachen.

»Ein uralter Vampir hat eine hysterische Angst, dass sein Blut, das er einem Grünschnabel verpasst hat, schlecht geworden ist.« Ich prustete vor mich hin, dann kam der nächste Lachanfall.

»Ha, ha, ha«, ich konnte nicht mehr, gleich konnte ich mich vor Lachen nicht mehr auf den Beinen halten.

Plötzlich sah ich, im hellen Licht der Sonne, etwas glitzern. Zwei Stimmen schrien gleichzeitig: »Vorsicht!«

Ich hatte eine von den Stimmen erkannt, es war Justin, er schien wieder normal zu sein. Die andere kam abermals aus meinem Inneren.

Von den Stimmen kurz abgelenkt, konnte ich nicht mehr reagieren. Das Glitzern zischte durch die Luft und traf mich am Hals. Ich spürte einen Druck, dann sah ich Blut spritzen. Mein Blut.

Frank stand lächelnd vor mir und hielt ein zweischneidiges Messer in seiner Hand. Ein Blutstropfen rann langsam die Schneide herunter, hinterließ eine kleine Blutspur und wurde dabei immer kleiner.

Fasziniert starrte ich auf das Sterben des Tropfens.

 

Dann kam der Schmerz. Es war ein Gefühl, als hätte er mir den Kopf abgeschnitten. Es brannte wie Feuer, es war unerträglich. Dennis ließ mich los und ich fiel nach vorne auf meine Knie. Stützte mich mit den Händen auf den weichen Waldboden ab. Blut schoss in einem Sturzbach aus der offenen Wunde an meinem Hals. Blut hatte sich auch in meinem Mund gesammelt, ich öffnete ihn und ließ es abfließen.

Mein eigenes Blut schmeckte scheußlich.

»Tascha.« Es war Justin, er kam auf uns zugelaufen. Abermals erfüllte Dennis seine Pflicht als Leibwächter und packte ihn, bevor er uns erreichte. Aber Justin war stärker, als ich, er wehrte sich, er windete sich in Dennis’ Umklammerung. Frank kam Dennis zu Hilfe, gemeinsam hielten sie ihn in Schach. Dennis beugte sich zu Justin und flüsterte leise in sein Ohr.

Ich war in meinem Entsetzen und in meinem Schmerz gefangen, viel zu sehr, als das ich etwas von Dennis’ Worten verstand. Ich sah nur, wie Justin sich langsam entspannte. Dennis führte ihn, immer noch am Arm haltend und unablässig auf ihn einredend, von der Lichtung fort.

Ich wollte ihnen hinterher rufen, aber meine Stimmbänder versagten mir noch ihren Dienst. So wurde daraus nur ein krächzender Laut, Justin drehte sich nicht mal um.

Frank hockte sich vor mich. »Wir nehmen ihn mit, dein Liebchen, er kann sich noch als nützlich erweisen.«

Abermals kam aus mir nur ein helles Krächzen. Ich konnte noch nichts machen, war nur ausgefüllt mit Schmerz.

In ein paar Minuten, sollte Frank dann immer noch vor mir hocken, wäre ich wieder soweit hergestellt, das ich ihn angreifen könnte. Aber jetzt war ich noch die Geisel meines Schmerzes.

Frank stand auf und lief Justin und Dennis nach.

Es würde noch ein wenig dauern, bis ich die Verfolgung wieder aufnehmen könnte.

Noch ein bisschen Zeit.

Ich mochte schlafen, ich war so müde, so tot. Der starke Blutverlust schwächte mich zusätzlich. Er machte mich nicht bewegungsunfähig, aber er ließ meine Kräfte schwinden. Ich musste ganz schnell etwas Blut trinken, sonst brauchte ich den Beiden gar nicht erst gegenüber zu treten.

Auf der Lichtung war es ruhig geworden, die Vögel schienen mich nicht als Bedrohung zu empfinden, sie zwitscherten weiter ihre fröhlichen Lieder.

Wie aus einem Disney Film entsprungen hoppelte plötzlich eine Hasenfamilie über die Lichtung. Sie schienen meine Anwesenheit nicht zu spüren. Gab’s denn so was? Frisches, warmes Blut hoppelte einfach so an meinen Reißzähnen vorbei. Ich war begeistert.

Jetzt nur keine falsche Bewegung, verfolgen könnte ich die Langohren nicht mehr, sie müssten schon zu mir kommen.

Ich beobachtete aus den Augenwinkeln die gesellige Bande. Sie mümmelten das Gras und den Klee, genossen ihr Abendessen und kamen weiter hoppelnd in meine Richtung.

Ich konnte es vor Gier kaum noch aushalten, aber ich musste regungslos verharren, ich durfte nicht riskieren, dass sie die Flucht ergriffen.

Ich schloss meine Augen und versuchte mein inneres Monster zu beruhigen. Tatsächlich wurde ich ruhiger, konnte wieder klar denken. Als ich die Augen öffnete, sah ich einen Prachtburschen von Hasen keine zwei Meter neben mir. Er drehte mir seinen Rücken zu und suchte mümmelnd im Gras. Ich spannte meinen Körper und schnellte vorwärts. Seine langen Ohren wurden ihm zum Verhängnis, ich packte ihn daran, er strampelte wie wild. Die anderen Hasen ergriffen die Flucht, wie schnell sie waren, ich hätte niemals einen von ihnen erwischen können. Nicht in meinem Zustand.

Ich ging mit meiner zappelnden Beute in Richtung Bäume. Dann packte ich den Hasen an seinen Hinterläufen und schlug ihn einmal kurz mit seinem Kopf gegen den Baum, das betäubte ihn.

Ich setzte mich mit meinem Mahl unter den Baum, eigentlich fiel ich mehr hin, soviel Kraft hatten mich der Fang und der Gang hierhin gekostet. Dann schlug ich dem Häschen meine Reißzähne in den Bauch und trank sein Blut.

Es schmeckte gar nicht mal so schlecht, ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Leider war er ziemlich schnell leer, aber es war doch ausreichend. Genug um meine Wunde schneller verheilen zu lassen, genug, damit ich auf die Jagd gehen konnte, nach Frank, Dennis … und Justin.

Ich stand auf und ging in die Richtung, in der die Vampire die Lichtung verlassen hatten.

Langsam ging ich durch den Wald, zuerst waren meine Schritte schleppend, dann kam ich aber immer besser vorwärts. Ich wollte es nicht riskieren, schnell zu laufen, das wär Energieverschwendung.

Krampfhaft versuchte ich mich zu orientieren, versuchte mich zu erinnern, wohin der Weg führte. Ich wusste noch, dass weiter vorne ein alter Friedhof lag. Nicht sehr weit davon entfernt fingen die ersten Häuser wieder an.

Langsam dämmerte es, die Strahlen der Sonne trafen schon sehr schräg auf die Erde.

Immer wieder versuchte ich eine Geruchsspur von den Flüchtenden aufzunehmen. Es war aber sehr schwierig für mich, da ich noch nicht vollständig wieder hergestellt war.

Meine Gedanken kreisten, summten und brummten in meinem Kopf. Immer wieder hörte ich den Satz, dein Blut ist schlecht, du bist schlecht.

Als Frank mir damals den letzten Rest Blut nahm, als meine Verwandlung vollständig war, gab er mir ein bisschen Blut von sich zu trinken. Nicht viel, das war auch nicht nötig.

Es war wichtig, um die Verwandlung zu vollenden, um den Blutdurst anzuregen und um das Monster zu wecken. Erst dann erwachte der Vampir, alle wichtigen Sinne waren vollständig vorhanden, einschließlich der Gier und dem Verlangen nach Blut.

Ein bisschen stimmte mich das traurig, du bist schlecht, es war doch nicht meine Schuld, ich hatte ihm vertraut. Wenn er mich mit schlechtem Blut erweckte, konnte ich nichts dafür.

Wenn aber mein Blut nun wirklich schlecht war, mal angenommen, Frank hatte recht, was bedeutete das denn für mich.

Hieß das, auch wenn ich mich noch so sehr anstrengte, würde ich nie den Kodex befolgen und immer die Regeln brechen? Würde immer wieder Unschuldige töten müssen und mich nie beherrschen können?

Was bedeutete das Ganze für Justin? War das der Grund, warum er solche Aussetzer hatte? Immerhin hatte ich ihn verwandelt, er hatte mein Blut getrunken, mein schlechtes Blut, mein verunreinigtes, böses Blut.

War es so, dass Justin niemals eine Chance hatte gut zu werden? Das auch sein Blut jetzt kein gutes Blut mehr war, dass es sich mit meinem schlechten vermischte und er jetzt … böse, ein Monster würde, werden musste?

Auch wenn Vampire Gefühle haben, fehlen uns doch die Eigenschaften um Mitleid, tiefe Trauer, Taktgefühl, Dankbarkeit oder Schuldgefühle zu empfinden.

Die Gefühle, die wir entwickelten, standen meist in direktem Zusammenhang mit Blut und Tod. Manchmal auch mit Liebe und Vertrauen, aber sehr selten.

Es gibt kein egoistischeres Wesen als einen Vampir.

Trotzdem empfand ich so etwas wie Schuldgefühle, ich war schuld, das Justin keine Zukunft hatte, auch keine Zukunft mehr mit mir.

Tief in mir drin spürte ich einen scharfen Stich bei dem Gedanken. Wie ein dünnes Messer, das mir in den kalten Körper gestoßen wurde, ungefähr an der Stelle, wo früher mein Herz schlug.

Ich durfte mich von diesen Gefühlen und Gedanken nicht irritieren lassen, ich musste einen klaren Kopf bewahren. Plötzlich fiel mir Dennis ein. Er hatte eine Menge von Franks Blut für seine Verwandlung getrunken. Wenn ich schon über ein unkontrolliertes Verhalten verfügte, wie mochte dann erst Dennis’ Reaktion auf das schlechte Blut sein?

Da mein eigener Sohn leider schon vor seiner Verwandlung ein Mistkerl war, wird es jetzt nicht besser geworden sein, eher ganz im Gegenteil.

Er war wahrscheinlich zum Obermonster mutiert. Schlimmer als Frank in seinen besten Zeiten je war. Schlimmer als die schlimmsten Vampire.

Völlig unerwartet hörte ich eine Stimme, sie kam aus meinem Inneren, sie klang nach mir und auch wieder nicht. Eher wie alle meine Stimmen zusammen, die gute, die böse, die liebevolle und die gierige, grausame Stimme.

Alle übereinander gelegt.

Wie kannst du es nur wagen so etwas zuzulassen. Wie kannst du es nur wagen ihn frei herumlaufen zu lassen. In keinem deiner blutrünstigen Todesgedanken, hast du je mit eingeschlossen, dass Dennis sterben muss. Nie hast du das auch nur im Entferntesten in Erwägung gezogen, Wie kannst du es wagen.

»Aber, er ist doch …mein Sohn«, sagte ich leise in die mich umgebende Dämmerung und blieb stehen.

Na und, erwidert die Stimme, willst du mir jetzt mit mein eigen Fleisch und Blut kommen? Das wird wohl kaum der Wahrheit entsprechen. Vielleicht dein Fleisch, aber dein Blut … ? Die Zeiten sind vorbei. Er muss sterben und er wird auch sterben, genauso wie Frank.

Es war wieder still in mir und um mich herum. Ich blinzelte ein paar Mal, hatte ich etwa schon Halluzinationen? Das kam bestimmt vom Blutverlust und meinem großen Durst. Der Hoppler eben war wirklich nur die Vorspeise.

Das Hauptgericht durfte aber nicht zu lange auf sich warten lassen, sonst erlebte ich den Nachtisch nicht mehr.

Ich ging weiter, die Nacht brach gleich an.

Vor mir tauchte plötzlich die Friedhofsmauer auf, die Bäume hörten einfach auf und ich stand vor der verwitterten Mauer. Efeu rankte sich an ihr empor, Waldclematis ergoss sich wie ein Wasserfall über den Rand. Es war ein großer Friedhof, früher wurden hier alle Leute aus der umliegenden Gegend bestattet. Heute wurde er nicht mehr benutzt. Ich kannte den Friedhof, ich war früher oft hier, da es auch viele Grüfte gabt und sogar schöne alte Mausoleen. Das jüngste Grab, das ich damals auf meinen Streifzügen fand, stammte aus dem Jahre 1901. Den man dort zur ewigen Ruhe bettete, war der hiesige Pfarrer. Vielleicht ging mit ihm, auch die Tradition, diesen Friedhof weiter zu führen.

Mit einem Mal war mein Geruchssinn wieder da, ich konnte die Drei riechen, sie waren ganz in der Nähe. Schnell duckte ich mich und presste meinen Körper näher an die Mauer. Wenn ich meine Ohren sehr anstrengte, konnte ich auch leise Gesprächsfetzen hören. Und ein Knurren. Ich nahm an, dass dieses Knurren zu Justin gehörte. Sein Monster war erwacht. Die Stimmen wurden nicht lauter, also würde er nicht versuchen sie anzugreifen.

Jetzt musste ich nur noch ihre genaue Position herausfinden und mir einen Angriffsplan zurechtlegen. Und … alles weitere würde sich zeigen.

Ich schlich, wie ein Indianer, an der Außenmauer entlang und erinnerte mich plötzlich, dass hier irgendwo ein kleiner Nebeneingang war, ich musste ihn nur finden. Über die Mauer zu springen, kam nicht in Frage, ich wusste nicht, wo Frank und der Rest sich befanden, sie könnten mich entdecken. Mein Geruch würde mich noch früh genug verraten, meine Gestalt sollte es nicht.

Da vorne war es, ein schmiedeeisernes Tor. Seit meinem letzten Besuch vor elf oder zwölf Jahren war es irgendwann aus den Angeln gesprungen, schief lehnte es an der Mauer, dazwischen war ein Durchgang frei. Ich pirschte mich langsam und vorsichtig näher an das Tor und linste um die Ecke.

Das Knurren hatte inzwischen aufgehört. Meine Augen bewegten sich sehr schnell, um die gesamte Umgebung in mich aufzunehmen. Ich drückte meinen Rücken zurück an die Mauer und überlegte. Ich hatte Frank gefunden, er stand ziemlich in der Mitte, bei einem der Gräber, eines mit einem steinernen, hohen Kreuz als Grabstein. Er blickte in die andere Richtung und hatte mich nicht gesehen. Von Dennis hatte ich nichts entdecken können.

Plötzlich hörte ich das Knurren von Justin wieder, es schwoll an, wurde bedrohlich, drohend, ging fast in einen Schrei über. Dann ebbte es langsam ab, wurde leiser, verstummte ganz. Dazwischen immer wieder Gesprächsfetzen, beruhigend und beschwörend. Leider konnte ich keine genauen Worte verstehen nur den Tonfall heraushören. Dennis redete energisch auf Justin ein, was hatte er ihm nur so Wichtiges mitzuteilen, fragte ich mich.

Ich lehnte meinen Kopf gegen die bröckelige Mauer und schloss die Augen, ich horchte in mich hinein, wollte feststellen wie viel Energie noch in mir steckte, wie weit ich gehen konnte, bevor sozusagen meine Akkus aufgebraucht waren. Bevor ich aufgeben musste … und sterben würde.

Es wird gehen, dachte ich. Ich öffnete meine Augen wieder, und nahm an, dass sie sich zu Raubtieraugen verändert hatten, da meine Zähne gerade lang und dolchartig wurden.

Meine Energie würde ausreichen.

Es war mir auch egal, wenn ich nur auf Sparflamme fuhr, ich hatte einen Auftrag zu erledigen, meinen ganz persönlichen Auftrag. Ich war erst fertig, wenn Frank zerstört war, dann konnte ich immer noch ans Sterben denken.

 

Vorsichtig linste ich wieder um die Ecke, Frank stand noch an der gleichen Stelle, von Dennis und Justin immer noch keine Spur. Ich rannte geduckt durch den schmalen Durchgang und versteckte mich hinter einem großen, grob behauenen Grabstein.

Es war nur eine Frage von Sekunden, bis entweder sein Geruchssinn mich roch, oder seine scharfen Augen mich erspäht hatten. Aber bis dahin musste ich nah genug an ihm dran sein.

Da sah ich es plötzlich, des Schicksals Fügung, wenn man so wollte. Einem Geschenk gleich, lehnte es einsam und verlassen an einem Stein. Der Holzgriff durch die viele Arbeit glatt und dunkel geworden, das Blatt blank gerieben von der Erde, die scharfe Kante gezeichnet von Steinen, auf die es traf.

Da stand es, mein persönliches Geschenk direkt aus der Hölle, von wo auch sonst.

Ein Spaten.

Nichts eignet sich besser, mal abgesehen von einem Schwert, um einem blutrünstigen Vampir damit den Kopf abzuschlagen. Eine hervorragende Waffe, leicht und handlich und die Einzige, die ich hatte.

Schnell rannte ich zu dem großen Stein, an dem der Spaten unschuldig lehnte. Frank hatte meine Anwesenheit erstaunlicherweise noch nicht bemerkt. Vorsichtig nahm ich das Grabwerkzeug an mich, wiegte ihn probehalber in meiner Hand. Ja, der war erstklassig.

Er gehörte vermutlich dem Friedhofswächter, damals kam ich mit ihm ins Gespräch. Er pflegte wohl immer noch die Gräber. Allerdings war er bereits früher schon uralt und gebrechlich. Wunderte mich, dass er die Arbeit noch verrichten konnte.

Jetzt fühlte ich mich besser, ich war bewaffnet.

Erneut spähte ich vorsichtig um den Stein, aber diesmal war es ein Fehler. Franks Kopf ruckte herum und seine Raubtieraugen hatten mich entdeckt.

»Tascha, du hast es tatsächlich geschafft. Du bist stärker als ich dachte.« Er grinste leicht und schüttelte den Kopf.

»Wo ist Justin?«, rief ich zurück.

»Dein Liebling ist zu einem Monster geworden. Dennis redet ihm gerade gut zu. Aus irgendeinem Grund hat Justin einen unerklärlichen Hass auf dich. Er will dich lieber tot als lebendig sehen. Was hast du wieder angestellt?«

Ja, das fragte ich mich auch. Ich hatte ihm nichts getan. Ob er immer noch ein bisschen wütend auf mich war, wegen Josh?

»Gar nichts«, rief ich laut zurück.

»Dann muss dein mieses, verseuchtes Blut daran schuld sein.« In Franks Stimme schwang Wut mit.

Inzwischen war ich derselben Meinung, leider konnte ich Frank nicht widersprechen.

Er stand noch an der gleichen Stelle. Ich versteckte den Spaten hinter meinem Rücken, stand auf und kam langsam auf ihn zu.

»Da wirst du recht haben, Frank«, sagte ich leise zu ihm.

»Aber bitte bedenke, von wem ich dieses verseuchte, dreckige Blut bekommen habe«, ich grinste frech, »der Spender muss wohl auch ein böser, verseuchter Dreckskerl sein, meinst du nicht?«

Während ich näher kam, zog sich Franks Gesicht immer düsterer zusammen, als ich endlich vor ihm stand, hatte er eine Mordswut auf mich.

Seine Augen sprühten vor Zorn, seine Hände waren zu Fäusten geballt, ein leises, warnendes Knurren kam aus den Tiefen seines Körpers.

»Pass auf, was du sagst«, knurrte er mich an.

Ich fasste den Spaten, hinter meinem Rücken, fester, blitzschnell beugte ich meinen Kopf vor, nahe an sein Gesicht.

»Ich passe immer auf, vor allem darauf, was ich tue.«

Das war wohl zu viel für ihn, seine Hand schnellte vor und er versetzte mir einen Schlag gegen die Brust, dass es mich von den Füßen hob und ein paar Meter zurück schleuderte.

Ich zerbrach beim Aufprall einen Grabstein und blieb keuchend darauf liegen. Den Spaten hatte ich verloren, da ich während des Fluges wild mit meinen Armen ruderte. Ich hob meinen Kopf und sah zwei Dinge fast gleichzeitig: Frank, der mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten langsam auf mich zukam und meinen geliebten Spaten, der nur zwei Meter entfernt, etwas seitlich von mir auf dem geharkten Friedhofsboden lag. Ich spannte meinen Körper an, in einem ungeheuren Tempo, das ich selbst nie für möglich hielt, schnellte ich aus meiner liegenden Position auf den Spaten zu. Packte ihn mit beiden Händen und schlug damit in Franks Richtung. Er hatte nicht mit meiner schnellen Gegenwehr gerechnet. Er war wirklich vollkommen überrascht.

Der Spaten traf nicht seinen Hals, er traf ihn seitlich am Kopf, in der Eile hatte ich zu hoch gezielt. Auch hatte ich das Blatt nicht gerade gehalten, sondern hochkant. Ich erreichte nur, dass der Spaten Franks Kopf bis fast zur Mitte hin eindrückte. Seine linke Gesichtshälfte war verschwunden, zerquetscht, als hätte ihn sein eigener Jeep gerammt. Blut floss, aber nur wenig. Ich hob den Spaten an und schlug nochmals zu, auf die gleiche Seite. Es riss ihn herum, er taumelte. Ein erneuter Schlag von mir, diesmal zu seinem Hals schleuderte ihn zu Boden.

Da lag er nun vor mir, mein Erzeuger. Ich hatte ihm vertraut, mein Dasein anvertraut, wie konnte ich nur.

Ich stürzte auf ihn zu und stellte die Kante des Spatens genau auf seinen Adamsapfel. Frank war schwer angeschlagen. Seine linke Gesichtsseite war einfach weg. Sein rechtes Auge fixierte mich, aber es lag keine Drohung in seinem Blick.

»Du bist böse«, krächzte er.

»Ich weiß«, antwortete ich ihm und lächelte süffisant.

Sein Blick ging kurz zu meinem Spaten, auf dem ich gestützt lehnte.

»Tu es!«, er fixierte mich.

»Das habe ich auch vor. Du hast zu viel Schlechtes verbreitet, du hast jegliches Recht auf Gnade verwirkt. Du hast es verdient zu sterben.«

»Du traust dich ja doch nicht«, sein Lächeln war voller Arroganz.

Etwas in meinem Gesicht verriet meine Entschlossenheit, sein Auge wurde größer vor Erkenntnis, er zog die Luft scharf ein.

»Oh doch.« Damit stieß ich den Spaten herunter. Es gab ein knackendes und knirschendes Geräusch, als das Spatenblatt seinen Hals durchtrennte. Ich musste ihn wieder aus der Wunde ziehen und nochmals zustoßen, diesmal mit mehr Schwung. Dann war Frank seinen Kopf los.

Ich kickte ihn ein paar Meter weiter, man konnte ja nie wissen, wenn die beiden Körperteile nah genug beieinander waren, vielleicht wuchsen sie ja wieder zusammen.

Der Geruch von Franks Blut schwebte über mir, mein Monster, das bis dahin geschlafen hatte, war blitzartig wieder wach. Es kreischte und jaulte.

Es hatte recht, warum auch nicht.

Ich musste mich beeilen, sonst war nichts mehr da.

Ich nahm Franks schlaffen Arm und biss ihm kräftig in die Pulsadern. Sein Blut strömte mir entgegen, ich trank es gierig und schnell. Beinahe schnell genug, sodass ich kaum bemerkte, wie schlecht es schmeckte, wie scheußlich es sich in meinem Mund anfühlte.

Als es meine Kehle herunter floss breitete sich in meinem Körper ein warmes, wohliges Gefühl aus.

Ich hatte meine Beute gejagt und besiegt. Das war mein Lohn. Mein süßer Lohn. Ich hatte es mir verdient.

Plötzlich fühlte ich Feuer in der Hand und im Mund. Der unerwartete Feuerstoß versengte mir die feinen Haare im Gesicht. Ich verschloss rasch die Augen und ließ mich nach hinten fallen. Franks Körper brannte, sein Kopf ein paar Meter weiter hatte auch Feuer gefangen.

Ich starrte in die Flammen, sie zeichneten ein bizarres Muster auf die umliegenden Grabsteine und wahrscheinlich auch auf mein Gesicht.

Es war vollbracht, ich hatte ihn wirklich getötet. Über vierhundert Jahre Vampirdasein, getötet.

Meinen Erzeuger, getötet. Meinen ehemals Vertrauten, meinen Mentor, ermordet. Ich ließ mich rückwärts auf einen Grabstein fallen und blickte in den dunklen Himmel. Ich war erschöpft, total ausgelaugt. Todmüde aber glücklich. Ich hatte es geschafft.

Jetzt war ich nur noch gespannt darauf, was das Blut in mir anstellen würde.

Es war so ziemlich das Erste, was man als Vampirneuling lernte. Beiße niemals einen anderen Vampir und trinke sein Blut, egal wie durstig du bist. Dass es einfach scheußlich schmeckte, hatte ich gerade erfahren, was es aber noch mit mir machen konnte, das wusste ich nicht. Das wurde mir nie erzählt.