The Butterfly Tales: Imogen

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3


Wie lange hatte er geschlafen? Blake wusste es nicht. Es konnte allerdings keine Stunde gewesen sein. Es war nach wie vor mitten in der Nacht; das Feuer nicht viel mehr heruntergebrannt. Und doch war er hochgeschreckt durch ein lautes Geräusch, das aus den Tiefen des Waldes zu ihnen gedrungen war. Nun war es jedoch still. Er saß aufrecht auf seiner Decke, mit der Hand an seinem Schwert, das er aus Erfahrung stets bei sich behielt ganz gleich, ob er schlief oder wachte. Blake vernahm lediglich den kräftigen Schlag seines eigenen Herzens, der in seinen Ohren dröhnte, und das aufgeregte Schnaufen Arrens.

„Was war das?“, fragte dieser, griff zu seinem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne, bereit ihn abzuschießen auf das, was womöglich auf sie zukam.

„Ein Tier?“, mutmaßte Blake. „Ein Mensch?“

„Ein Mensch, der uns Böses will, wäre darauf bedacht, sich geräuschlos zu bewegen“, erwiderte Arren.

„Einigen wir uns also auf ein Tier“, meinte Blake flüsternd.

„Von mir aus“, brummte sein Partner, hielt weiter Ausschau und lauschte. Die Aussicht auf einen Angreifer aus der Fauna ließ die beiden Männer sich beruhigen, bis abermals ein lautes Knacken die Stille des Waldes zerriss. Dieses Mal jedoch war es näher, was bedeutete, dass was auch immer weiter an sie herangekommen war. Die Geräusche von brechendem Holz nahmen zu, folgten in immer kürzeren Abständen und mischten sich mit einem Seufzen und Stöhnen.

Arren und Blake wechselten verwirrte Blicke. Welches Tier gab solche Laute von sich? Kein ihnen bekanntes jedenfalls. Die zwei Meuchelmörder brachten sich in Verteidigungsposition. Rücken an Rücken stehend, sich gemeinsam im Kreis drehend, suchten sie die blauen und schwarzen Schatten um sich herum ab. Schließlich machte Blake eine Bewegung in ihnen aus. Es war etwas Großes, noch Dunkleres, das da zwischen den Bäumen hervor getaumelt kam. Eine seltsame Gestalt, die Silhouette menschenähnlich und doch wieder nicht.

„Was ist das?“, hauchte er, kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt vor.

Arren wirbelte zu ihm herum, aufgeregt fragend: „Was? Wo denn?“ Die Spitze seines Pfeils auf der Bogensehne zeigte in schnellem Tempo hierhin und dorthin, bis seine Augen das erfassten, dem Blakes ganze Aufmerksamkeit galt. „Was ist das, zum Henker noch eins?“, fragte der Schütze und richtete seine Waffe auf es. Blake zuckte mit den Achseln, trat einen weiteren Schritt vor und reckte den Hals, als könnte er so mehr erkennen.

„Ein Tier ist es jedenfalls nicht“, merkte er an, obgleich er sich dessen nicht ganz sicher war. Denn welches Wesen gab es, das derart ungleich gebildet war: groß und schlank mit zwei Beinen und Armen, aber mit einem merkwürdigen Auswuchs, der vom Rumpf abstand? Einst hatte Blake in einer Gasse darauf gewartet, dass ein Auftrag vorbeikam, als er dem bunten Treiben auf dem Marktplatz lauschen musste, wo ein Puppenspieler für die Kinder Gruselgeschichten darstellte. Über missgebildete Menschen, Monstern aus der Hölle und geflügelten Dämonen hatte er erzählt, was die Kleinen vor Spannung zum Aufkeuchen gebracht, die Eltern jedoch entsetzt hatte. Sie ahnten bereits, welche Auswirkung die mittägliche Erzählstunde über solcherlei Kreaturen mit ihren Sprösslingen in der Nacht anrichten würde. Und nicht wenige zerrten ihre plärrenden Gören von dort fort in der Hoffnung, dass der Schaden noch nicht allzu groß war.

Blake hatte damals den Kopf darüber geschüttelt, sowohl über die Menschen als auch über die Hirngespinste, die sich der Puppenspieler ausgedacht hatte. Mit keinerlei Faser seines Herzens hatte er dessen Worten geglaubt. Monster und Dämonen mit grausigen Fratzen, Fabelwesen und Magie – er war viel gereist, hatte viel gesehen und erlebt, aber in keiner noch so unwirtlichen Gegend hatte er derlei je zu Gesicht bekommen. So etwas gab es schlicht und ergreifend nicht! Aber was war es dann, das da im Wald umher wankte?

Blake schüttelte den Kopf. Es musste eine völlig normale Erklärung dafür geben, und er würde sie schon sehr bald erhalten, denn die Gestalt taumelte immer weiter in seine und Arrens Richtung. Je näher sie kam, desto mehr enthüllte der Schein des brennenden Lagerfeuers an ihr, und nur zwei Wimpernschläge später hockte Blakes Antwort zu seinen Füßen. Mit weit aufgerissenen Augen und dem Ausdruck der Überraschung und des Unglaubens im Gesicht starrte er nach unten, unfähig sich zu bewegen oder zu reden. Doch er wusste mit Sicherheit eins: Es war an der Zeit, dass er seine Meinung über Märchenfiguren änderte. Denn vor ihm kniete ein menschlicher Schmetterling.

~

Prinz Anrai hielt sich lachend den Bauch. „Ich kann mir sein Gesicht so gut vorstellen“, japste er.

Prinzessin Laoghaire kicherte. „Es tut ihm gut, eines Besseren belehrt zu werden. Es gibt nun einmal mehr, als unsere Augen sehen können“, sagte sie, selbst überzeugt davon, dass es in ihrer Heimat Kobolde, Trolle und Feen gab. Ihr Bruder winkte nur ab. Die altkluge Art seiner Schwester war ihm nur allzu sehr vertraut.

„Machst du weiter?“, fragte er, und die Prinzessin nickte.

~

Ein verdammter Schmetterling saß da vor ihm! Nun gut, ihm fehlte ein Flügel, aber es war ein Schmetterling. Wie konnte das sein? Sicher halluziniere ich, dachte er.

„Arren, sag mir, dass ich das träume“, sagte er, das Wesen zu seinen Füßen nicht aus den Augen lassend.

„Ich wünschte, ich könnte. Aber ich sehe es auch. Das bedeutet also, entweder träumen wir beide dasselbe oder es ist tatsächlich real“, entgegnete Arren, der den Pfeil samt Bogen gesenkt hatte.

„Aber das ist nicht möglich“, flüsterte Blake, ging in die Knie und streckte die Hand nach dem sonderbaren Geschöpf aus. Seine Fingerspitzen berührten sachte die Haut des Gesichts und zogen sich umgehend zurück. Es war also keine Einbildung. Es – sie war echt, so wie er und Arren echt waren, wenn auch nicht so hübsch wie sie, denn das war sie zweifellos: ein zauberhafter Schmetterling in Menschengestalt, eine wunderschöne Frau mit allem Drum und Dran, wie Blake mit einem forschenden Blick erkannte, plus Flügeln. Obwohl, einer fehlte ihr. Die Erkenntnis hatte kaum angefangen sich zu setzen, da packte sie seine Hand und hielt sie fest umschlossen. Im allerletzten Moment gelang es ihm, sich abzufangen, bevor er mit ihr zusammenstoßen konnte.

„Bitte, helft mir“, flehte sie, ihre Stimme so lieblich und wohlklingend, als wäre sie wie auch ihre einzigartige Gestalt einem Kinderbuch entstiegen. „Sie sind hinter mir her.“ Das klang jedoch nicht sehr märchenhaft.

„Wer?“, wollte Blake wissen. Neben ihm schickte sich Arren an, nach ihren Verfolgern Ausschau zu halten.

„Sie haben mir das angetan“, gab der Schmetterling als Antwort, mittlerweile Blakes Hand so fest umschließend, dass er das Gefühl in ihr verloren hatte. Mit Mühe lockerte er ihre Finger um sie, packte sie an den Schultern und hob sie hoch, damit sie auf ihren zwei Beinen stand. Er war erstaunt darüber, wie leicht sie war, aber wenn ein Schmetterling fliegen wollte, musste er auch leicht sein, nicht wahr?

Er schüttelte den Kopf. Wie war es möglich, dass er sich über derlei Dinge Gedanken machte?

„Wer sind sie?“, hakte er nach. Die Ungeduld fing langsam an, von ihm Besitz zu ergreifen, auch die Besorgnis, dass wer auch immer hinter ihr her war, schon bald zu ihnen stoßen würde.

„Es waren andere meinesgleichen“, antwortete sie.

„Es gibt noch mehr von deiner Art?“, fragte Blake. Geschöpfe dieser Größe und Anmut waren nicht einfach zu übersehen. Wieso war er ihnen noch nie zuvor begegnet, hatte noch nie auch nur ein Flüstern über ihre Existenz vernommen?

„Viele, sehr viele gibt es von uns. Helle und dunkle, gute und böse, loyale und untreue, Beschützer und Rebellen“, erklärte sie ihm.

„Schon gut, schon gut. Ich habe verstanden“, würgte er sie ab, bevor sie weitere Gegenüberstellungen hervorbringen konnte. „Ich nehme an, du bist eine von der guten Sorte?“

Sie nickte. „Du erkennst es an meiner Farbe.“ Blake betrachtete sie von oben bis unten, wie sie sich an seinen Arm klammerte, um nicht umzufallen. Ihr musste Schreckliches widerfahren sein. Nicht nur, dass ihre eigene Art ihr einen ihrer Flügel genommen hatte. Sie musste auch schon lange auf der Flucht sein, so kraftlos wie sie war. „Die Farbe meiner Flügel oder besser gesagt meines Flügels -“, Tränen erstickten ihre Stimme und es dauerte einen Moment, bis sie weitersprechen konnte, „ist Gelb. Sie steht für Freude, Glück, Hoffnung und für bevorstehendes Gutes. Normalerweise gilt all dies dem, der einen gelben Schmetterling sieht. Aber ich hoffe, dieses eine Mal gilt dies mir, nun da ich euch gefunden habe.“

Blake sah ihr einen Moment lang schweigend in die Augen, die golden leuchteten. So viel Angst stand in ihnen. Der gehetzte Ausdruck in ihnen, das Flehen um Hilfe und Schutz, das aus ihnen sprach – all das berührte etwas in ihm, sodass er einwilligte, ihr zu helfen.

„Weißt du, ob sie immer noch hinter dir her sind?“, wollte er wissen.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete sie. „Manchmal dachte ich, sie wären fort, und dann habe ich doch wieder etwas gehört oder habe das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden.“

Blake rieb sich sein bärtiges Kinn. „In deinen Worten stecken mir zu viele Eventualitäten, um bis zum Morgengrauen hierzubleiben. Der Weg wäre sicherlich einfacher, aber bei vielen Fragezeichen in einer Situation habe ich gelernt, weiterzuziehen“, sagte er und wies Arren an, zusammenzupacken.

 

„Hast du schon eine Idee, wohin es gehen soll, mein Freund?“, fragte dieser. Blake nickte ohne eine genaue Erklärung zu geben. Arren akzeptierte dies. Er vertraute auf die Fähigkeiten und die Erfahrung seines Partners, um ihm auch ohne das Wissen um ihr Ziel zu folgen. „Hast du eigentlich auch einen Namen, du schönes Geschöpf?“, wandte sich Arren an ihre neue Gesellschaft.

„Imogen“, antwortete sie.

Arren seufzte. „Ein schöner Name für ein schönes Wesen, das den Anbruch eines neuen Lebens einläutet“, sagte er und fügte mit Blick auf Blake hinzu, „oder das auch für eine neue Beziehung steht.“

Blake sah finster über die Flammen des Lagerfeuers hinweg zu ihm. Er konnte nicht glauben und es ärgerte ihn auch, dass sein notwendiges Übel selbst jetzt noch um sein Liebesleben, sein Wohlergehen, sein Seelenheil, oder wie auch immer er es verdammt nochmal nennen wollte, besorgt war und Zeichen sah, wo er Zeichen sehen wollte. Blake ließ den Unsinn unkommentiert und machte sich daran, das Feuer mit Erde zu ersticken.

~

Prinz Anrai würgte. „Irgh! Ich hätte es wissen müssen, dass du den Gefühlsaspekt einbringen würdest, kleine Träumerin“, meinte er zu seiner Schwester, die sich mittlerweile ebenso wie er die Stiefel von den Füßen gestreift hatte.

Prinzessin Laoghaire streckte die Beine aus und lockerte die Muskeln in ihnen. „Du magst dir Blake als abgestumpften Grobian vorstellen, der keinen Wert auf Emotionen legt. Aber das ist nicht richtig. Für niemanden. Was auch immer ihn angetrieben hat, den Weg zu gehen und die Dinge zu tun, die er getan hat. Es steckt auch in ihm etwas, das liebenswert ist“, verteidigte sie ihren ersten Beitrag zu ihrer gemeinsamen Geschichte.

Ihr Bruder verdrehte die Augen. Mädchen, dachte er und besonders dieses Exemplar steckte mit seinem Kopf hoch oben in den Wolken und glaubte stets an das Gute in einem Menschen. Selbst dann noch, wenn dieser eigenhändig seine Gräueltaten gestanden hatte. „Ich denke, es ist Zeit, dass ich wieder übernehme“, meinte der Prinz und betrachtete grüblerisch die Tapete.

~

4


Sie liefen und liefen, geführt von Blake, der trotz der um sie herrschenden Finsternis zu wissen schien, wo es für sie entlangging. Stunden mochten vorübergegangen sein, so dachte Arren. Zumindest fühlten sich seine Beine danach an und Imogen, die weit mehr Strapazen in dieser Nacht durchlebt hatte, zeigte noch viel größere Erschöpfung. Doch egal wie oft sie stöhnte, strauchelte und fiel, Blake gönnte ihr keine Rast. Im Gegenteil, er zerrte sie wieder auf die Beine und zog sie mit sich. Manchmal hob er sie auf und trug sie ein Stück des Weges, aber nie für sehr lange, und wenn sie dachte, sie könnte auf seinen Armen ruhen, belehrte er sie eines Besseren. Mit unzähligen Fragen überhäufte er sie, wollte alles in Erfahrung bringen, das es für ihn und Arren zu wissen gab über Imogens Verfolger.

„Du hast unsere Hilfe gewollt. Wenn du sie weiterhin willst, wirst du uns Informationen geben müssen, damit wir uns vorbereiten können auf das, was uns im schlimmsten Fall erwartet“, hatte er ihr bereits am Anfang ihrer nächtlichen Wanderung erklärt. Somit hatten die beiden Männer von Imogens Volk, den Dealan-Dè, erfahren. Arren und mehr noch Blake konnten kaum begreifen, dass es die Welt gab, von der sie erzählte. Doch sie brachte die Worte so glaubhaft hervor, beschrieb so detailreich, dass dieses unbekannte, verborgene Land namens Beathan existieren musste.

„Beathan und das Reich Rohat, meine Heimat, sind unsichtbar für eure Augen. Nur ein Zauberspruch vermag den Schleier, der über ihnen liegt, zu lüften. Dort leben wir, beschützen wir, heilen wir je nach dem, welche Fähigkeiten und Talente ein jeder von uns hat. Angeführt werden die Kriegerinnen, Magierinnen, Wächterinnen, Handwerkerinnen, Heilerinnen und alle übrigen von unserer Königin Enid, die die Dealan-Dè aus ihren Tränen gebiert. Sie ist eine strenge Herrscherin, die von ihren Untertanen viel erwartet, aber sie ist auch gütig, wenn dies angebracht ist. Bei aller Strenge ist sie gerecht. Sie wird sehr verehrt von ihrem Volk, so auch von mir. Ich könnte mir keine Bessere vorstellen, die die Aufgabe übernimmt. Obgleich es uns allen sehr gut geht und es niemand an etwas mangelt, kam vor einiger Zeit Unmut in einigen aus unseren Reihen auf. Erst war es nur eine, die ihre Aufgaben nur ungenügend erfüllte und Befehle verweigerte. Bald darauf schlossen sich ihr weitere an. Aus einer wurden fünf und aus fünf wurden zehn. Mittlerweile sind es etwas mehr als fünfzig Dealan-Dè, die sich zusammengetan haben und rebellieren. Sie gehen gegen anders Denkende vor, unterdrücken, bedrängen, intrigieren und reden auf andere ein, um sie zum Überlaufen zu bewegen. Wer sich ihnen nicht anschließt, ist ein Verräter. Unsere Königin befürchtet, dass sich diese Krankheit, oder was auch immer es ist, das ihre Töchter und meine Schwestern befallen hat, weiter ausbreitet und bald nur noch Dunkelheit herrscht.“

„Hat eure Königin denn nicht versucht, gegen die Aufrührer vorzugehen? Hat sie sie nicht festnehmen und einsperren lassen?“, fragte Arren. Er packte Imogens Arm gerade noch rechtzeitig, bevor sie auf die Nase fallen konnte, da ihr Fuß sich in einer Wurzel verfangen hatte.

„Natürlich hat sie das getan!“, antwortete sie scharf, erbost darüber, dass er hatte annehmen können, ihre Königin sei unfähig, mit dieser Situation umzugehen. „Sie hat sie einkerkern lassen, aber das Gift, das in den Gefangenen wütete, hatte bereits andere außerhalb der Zellen angesteckt. Jenen gelang es, die Festgenommenen zu befreien, und zusammen flohen sie. Lange haben wir nicht verstanden, wieso all das passiert und warum unsere Freunde zu unseren Feinden wurden. Eines Tages kehrte eine Rebellin reumütig in unser Reich zurück, beugte ergeben das Knie und gab uns dringend benötigte Antworten. Sie erzählte davon, dass die Abtrünnigen es auf unseren größten Schatz abgesehen hätten, der verborgen in einer für Menschenaugen unsichtbaren Höhle auf die Zeit wartet, in der er ans Tageslicht treten wird. Die Aufgabe der Wächterinnen unter uns, und ich bin eine von ihnen, ist es, diesen Schatz zu behüten nicht nur bis zu jenem Moment, sondern auch darüber hinaus, denn eine Prophezeiung besagt, dass der Schatz dafür sorgen wird, dass das Chaos in der Welt und das Leid der Menschen beendet und sie den Dealan-Dè ähnlicher werden, die weder Hunger kennen noch Kälte und keine Krankheiten erfahren, wie es die Menschen tun. Die Rebellen wollen, dass immer Chaos herrscht. Sie können die Menschen nicht ausstehen, in denen sie nur niedere Kreaturen sehen und denen sie sich überlegen fühlen. In ihren Augen sind sie schwach, der Magie nicht fähig und in ihrer Entwicklung unterlegen. Sie ergötzen sich daran, wie sie sich gegenseitig bekriegen und zerfleischen, ob nun mit Worten oder Waffen. Die Abtrünnigen haben sogar selbst Zwietracht gesät, um dies zu fördern. Doch um gänzlich zu verhindern, dass sich die Prophezeiung erfüllt, wollen sie den Schatz zerstören, und dafür gehen sie über Leichen“, erklärte Imogen weiter.

Zittrig lehnte sie sich gegen einen Baum, hoffend auf einen Moment der Erholung, nur einen winzig kleinen. Der hätte ihr schon gereicht. Doch ganz gleich, wie sehr sie vor Erschöpfung stöhnte, Blake ignorierte all diese Zeichen und nahm sie lieber Huckepack, als länger an einem Ort zu verweilen.

„Wir müssen in Bewegung bleiben“, brummte er und rutschte sich Imogen auf seinem Rücken zurecht. „Diese Höhle, die du erwähnt hast, liegt also nicht in eurer Welt. Wieso nicht? Warum habt ihr eure ach so große Kostbarkeit nicht in eurem Reich versteckt und dort beschützt?“, wollte er wissen.

Imogen seufzte. „Darüber müsstest du mit unserer Königin sprechen. Es war ihre Entscheidung. Es stand mir nicht zu, diese zu hinterfragen. Nach allem, was ich jedoch weiß, vermute ich, dass es zu den Vorkommnissen ebenfalls eine Vorhersage gibt, die nur sie kennt. Als Anführerin unseres Volkes obliegt es allein ihr, Wissen zu teilen oder für sich zu behalten.“

Das Privileg der Oberhäupter nannte Blake es. Darin unterschieden sich ihre Welten allem Anschein nach so gar nicht. Er konnte darüber nur die Nase rümpfen.

„Wenn die Aufstände bereits geschrieben standen“, fuhr Imogen fort, „wäre der Schatz auch nicht in unserem Reich sicher gewesen. Ich frage mich, ob eine der Wächterinnen die Initiatorin für den Raub war? Denn nur diese wissen, wo das Versteck liegt.“

Blake schnaubte. Er war sich absolut sicher, auch ohne die einzelnen Beteiligten zu kennen, dass jemand aus den Reihen der Wächterinnen tief mit drin steckte. Imogen mochte sich darüber noch den Kopf zerbrechen, doch er versuchte ganz anderes zu begreifen. „Du sagst, dein Volk hat das Leid der Menschen nie erfahren. Es kennt keinen Hunger, keine Kälte, keine Krankheiten. Wozu habt ihr dann Heilerinnen?“, fragte er somit.

„Die Dealan-Dè brauchen zum Leben nicht viel. Wir ernähren uns von Blütennektar und –staub“, antwortete sie ihm.

„Aha, und was ist im Winter?“, hakte Blake nach.

„In unserem Reich gibt es keinen Winter, kein Eis, keinen Schnee. Dort blühen die Blumen das ganze Jahr über, und wenn wir unsere Heimat verlassen, gibt es genug Proviant, den wir mitnehmen können.“ Sie löste ihren Arm, den sie um Blakes Hals gelegt hatte, um sich festzuhalten, und klopfte mit ihrer Hand auf ihre Hüfte, wo ein kleiner lederner Beutel an einem Gürtel befestigt war, in dem sie ihre Wegzehrung aufbewahrte. „Was die Heilerinnen angeht: Ja, wir bekommen keine eurer Krankheiten wie Erkältungen. Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht verletzen können. Wir stolpern, fallen und brechen uns den Fuß. Wir stoßen uns den Kopf und bluten. Unsere Heilerinnen versorgen uns mit ihrer Magie, sodass nach wenigen Minuten nichts mehr von einem gebrochenen Knochen zu spüren und von einer Platzwunde nichts zu sehen ist.“

„Wie überaus praktisch“, merkte Blake unter ihr an. „Wieso kommt ihr dann nicht in unsere Welt und helft den Menschen mit euren Künsten, statt auf irgendeinen Zeitpunkt zu warten, der in ferner Zukunft liegt? Wenn das überhaupt alles stimmt.“ Prophezeiungen und schwammige Aussagen – pah! In Blakes Augen war das bloßer Humbug. „Und was zum Henker ist dieser verdammte Schatz, von dem du ständig redest?“, fuhr er sie an. Geduld war noch nie eine seiner Stärken gewesen. Er wollte stets alles und das am besten sofort. So ging es ihm auch mit Imogens Erklärungen.

„Unsere Welt existiert im Verborgenen. Die Begegnungen, die mit euch beiden im Übrigen eingeschlossen, von unseres- und euresgleichen sind abzählbar an einer Hand, geschweige denn, dass euresgleichen von uns gehört hätte“, murmelte Imogen. „Wenn das Schicksal es aber nun so wollte, dass unsere Völker aufeinandertreffen, dann ist das so“, fügte sie achselzuckend hinzu, während Blake schnaubte.

„Schicksal – was für ein Irrsinn“, nuschelte er so leise, dass Imogen es nicht hörte und sie weitersprach.

„Es ist uns strengstens untersagt, den Menschen zu helfen, indem wir ihre Gebrechen heilen, oder uns in ihre anderweitigen Belange einzumischen. Es heißt, ihr müsst all das Elend durchmachen, durch es wachsen, aus ihm lernen.“

„So ein Blödsinn!“, entfuhr es Blake heftig. „Was sollen wir lernen? Dass es egal ist, wie viel Gutes man tut, wie gut man sich benimmt, denn am Ende leidet man trotzdem? Das ist es nämlich, was ein Menschenleben bedeutet: Leiden, das von kleinen Momenten der Freude unterbrochen wird. Wenn man Glück hat.“

„Wenn wir euch vor der vom Schicksal festgelegten Zeit helfen, dann droht uns das Entfernen unserer Flügel. Ein Schmetterling ohne Flügel: das Zeichen dafür, dass man versagt hat. Es ist ein Zeichen der Schande“, sagte sie, ihre Stimme zuletzt auf ein Flüstern gesenkt.

Blake schnalzte missbilligend mit der Zunge. Er sah in ihren Worten nur eines: Die Dealan-Dè, so wundersam sie auch sein mochten, standen den Menschen in ihrer Arroganz in nichts nach und dachten zuallererst an sich selbst. Allerdings hätte er noch ewig so weiter mit ihr diskutieren können und wäre doch nicht auf einen Nenner mit ihr gekommen. Als er es hinter sich schniefen hörte, runzelte er die Stirn. Es war Imogen, die anfing zu weinen. Aufgrund der Vorwürfe, die er vorgebracht hatte? Großartig, dachte er, eine flennende Frau, ein heulender Schmetterling hockt auf meinem Rücken. Was sollte er jetzt tun? Er konnte mit so etwas nicht umgehen. Ein Beweis dafür war seine nächste Frage. „Ist das der Grund, wieso dir ein Flügel fehlt?“

 

Imogen schluchzte herzzerreißend und presste ein Ja hervor. Sie weinte bitterlich und Blake ließ sie, bis sie sich soweit gefangen hatte, dass sie reden konnte. „Ich kann, ich darf nicht sagen, was der Schatz genau ist. Nur so viel, dass ich ihn beschützen sollte und gescheitert bin. Ich hatte schon sehr lange Wache gehalten, bin nur für einen kurzen Moment eingenickt. Das nächste, das ich weiß, ist, dass ich von mehreren Händen gepackt durch den Dreck gezerrt wurde, man mich festband und mir meinen Flügel abschnitt. Sie haben dabei gelacht, über mein Schreien und mein Flehen, haben Scherze gemacht und sich darüber ausgelassen, welch erbärmlichen Anblick ich bieten werde mit einem Flügel.“

Imogens Verzweiflung wuchs stetig und ließ sie mehr und mehr zittern, sodass es selbst Blakes Herz erweichte. Kurzerhand setzte er sie ab und wies sie an, auf einem Baumstumpf Platz zu nehmen.

„Können eure Heilerinnen, na ja, das nicht reparieren?“, fragte er vor ihr kniend.

Zu Boden blickend schüttelte sie den Kopf. „Dazu sind nicht einmal sie fähig“, presste sie hervor. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen und vergoss bittere Tränen. Es schien, als würden all ihre Gefühle, die sie seit dem Überfall auf sie zurückgehalten hatte, um einfach nur zu funktionieren und fliehen zu können, nun mit einem Mal aus ihr herausbrechen.

Hilfesuchend sah Blake zu Arren auf. Dieser hatte eine Frau sowie zwei Kinder. Er musste wissen, was zu tun war. Allerdings war auch er ratlos im Angesicht dieser Situation. Wann sah man schon einen menschengroßen Schmetterling mit nur einem Flügel, der sich wegen der Schande grämte, die dies bedeutete, und tiefe Reue empfand für sein vermeintliches Versagen? Immer wieder murmelte Imogen Vorwürfe vor sich hin und schalt sich selbst für ihre Schwäche. Blake kannte derlei Gefühle sehr gut. Wie oft hatte er Bedauern empfunden für seine Entscheidungen? Wie oft hatte ihn sein Gewissen gequält aufgrund seiner verwerflichen Taten? Er konnte die Male nicht mehr zählen. Was er hingegen zählen konnte, war die Menge der Personen, die ebenso empfunden und ihn verstanden hatten: Es war genau eine gewesen, und diese saß direkt vor ihm.

Behutsam zog Blake Imogen die Hände vom Gesicht, strich ihr einige lange braune, golden schimmernde Haarsträhnen zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst und ihr ein zusätzliches, willkommenes Versteck geboten hatten, und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Eine für ihn wenig vertraute Geste, die sie beide überraschte. Noch mehr verwunderte es ihn, wie er mit einem Mal eine Verbindung zwischen sich und dem wundersamen Geschöpf spürte. Mochte es zuvor Imogens hübsches Gesicht gewesen sein, das ihn anzog, war nun etwas anderes da, was ihn gefangen nahm.

„Du hast gesagt, wenn das Schicksal es wollte, dass wir uns begegnen“, begann er zu sagen, hielt kurz inne, als sie aufkeuchte, „dann ist das eben so. Wenn das Schicksal es wollte, dass dir dein Flügel genommen und der Schatz gestohlen wird, dann ist auch das so. Was geschehen ist, nach wessen Willen auch immer, ist geschehen. Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Es ist unnütz über die Fehler, die in ihr liegen, nachzugrübeln und sich zu fragen, was gewesen wäre, wenn.“ Ihn selbst verwunderten seine Worte, und doch wusste er, dass sie aufrichtig gemeint waren. Er hätte sich gewünscht, dass jemand so mit ihm gesprochen hätte in seinen dunkelsten Momenten. Es hätte ihm so manches Elend erspart. So wie es Imogen in dem Augenblick anscheinend half. Ihr Schluchzen hatte aufgehört; die feuchten Spuren ihrer Tränen auf ihren Wangen begannen zu trocknen.

„Du hast Recht. Ich muss nach vorne schauen und versuchen, Wiedergutmachung zu leisten“, sagte sie mit neuer Kraft, stand von dem Baumstumpf auf und zog Blake an seinem Ärmel mit sich.

„Moment mal, kleiner Schmetterling“, rief Blake, packte ihr Handgelenk und stemmte sich gegen ihr Ziehen. „Du siehst aus, als würdest du einen Plan haben, wie diese Wiedergutmachung aussehen soll, und mir ist, als bestünde diese aus mehr als nur deiner Flucht vor deinen Verfolgern und unserem moralischen Beistand“, meinte er und deutete auf Arren, der gemütlich angetrottet kam und seltsamerweise erheitert wirkte. „Wieso grinst du so?“, fuhr Blake ihn an.

Arren verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen einen Findling, der wie ein Tisch im Wald lag. „Ich genieße es nur, euch zuzusehen, wie ihr miteinander umgeht. Das ist wirklich sehr interessant und aufschlussreich“, antwortete er und ließ seine Blicke zwischen den beiden hin und her wandern.

Blake ließ von Imogen ab und trat auf seinen Partner zu. „Wenn du nicht mehr beizutragen hast, dann sei lieber still! Halt!“, rief er aus, machte einen Satz in Richtung Imogen, die er aus dem Augenwinkel dabei beobachtet hatte, wie sie ihren Weg fortsetzen wollte. Er bekam sie zu greifen und wirbelte sie zu sich herum. „Du wartest gefälligst und rennst nicht einfach los, ohne zu sagen, was in deinem hübschen Kopf vor sich geht. Wohin willst du? Was willst du tun?“, verlangte er zu erfahren. Er hatte sich bereits über einen Ort Gedanken gemacht, wo Imogen wenigstens vorübergehend in Sicherheit sein würde, und sie war gerade dabei, all das über den Haufen zu werfen.

„Ich allein kann nicht retten, was es noch zu retten gibt. Es braucht mehr von uns. Ich muss in meine Heimat zurückkehren, berichten, was geschehen ist, und um Unterstützung bitten, wenn man mir diese nach allem, was passiert ist, noch gewähren möchte. Doch anders kann ich nicht gegen die Rebellen kämpfen und den Schatz zurückbringen“, erklärte Imogen und entriss ihm ihren Arm. Sie wusste zwar nicht, wie sie all das angefangen bei dem Lüften des Schleiers, der über ihrer Welt lag, bewerkstelligen sollte, wenn ihr ihre Magie fehlte. Doch darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn es so weit war.

„Und wie sieht unsere Rolle dabei aus?“, fragte Blake.

„Ihr wäret meine Leibwächter, die mich sicher dorthin bringen, wo ich hin muss. Sollten wir auf die Abtrünnigen stoßen, bin ich im Kampf gegen sie allein machtlos. Meine Magie, die in meinen Flügeln saß und die nur wirksam durch ein Paar Flügel ist, ist ebenfalls zerstört“, antwortete sie, langte über ihre Schulter und berührte wehmütig die verstümmelten, kurzen Reste auf ihrem Rücken. „Mit euch zusammen habe ich jedoch vielleicht eine Chance, wenn auch nur eine kleine, solch eine Begegnung zu überleben und an mein Ziel zu gelangen“, beendete sie ihre Erklärung.

„Diese Waffe, von der du gesprochen hast, wo ist sie? Du musst sie gut versteckt haben, denn ich kann sie nicht sehen“, meinte Blake und beäugte Imogen von oben bis unten. Seine Blicke wanderten von ihren nackten Füßen und Beinen über den Rock ihres Kleides hinauf zu ihren schlanken, aber muskulösen Armen, bis er ihr schließlich wieder in die goldenen Augen sah, in denen ein schelmisches Funkeln lag.

„Du meinst die hier?“, fragte sie und zog zwischen den Falten ihres Kleides einen silbernen, etwa zwei Finger breiten Stab hervor, der ungefähr so lang war wie ihr Unterarm.

Blake schnaubte. „Ich habe gehört, in manchen Ländern isst man mit so etwas“, kommentierte er den Anblick, was Imogen dazu brachte, missbilligend mit der Zunge zu schnalzen.

„Mit so etwas isst man nicht. Mit so etwas kämpft man“, sagte sie, trat einen Schritt zurück, hob den Arm und schwang ihn zur Seite, als wollte sie den Stab wegwerfen, ließ ihn jedoch nicht los. Und mit einem leisen Klicken verwandelte sich der Stab in ein Schwert, das wie der Mond kalt und silbern schimmerte. „Ihr braucht aber keine Angst zu haben“, redete Imogen beruhigend auf die beiden Männer ein, denn ihr war ihr erschrockenes Zurückweichen nicht entgangen, „die Klinge ist unwirksam ohne meine Magie. Ich könnte sie genauso gut wegwerfen, aber ich bringe es nicht über das Herz. Ich habe schon so viel von mir verloren.“ Sie betätigte den Mechanismus, der die Klinge zurückfahren ließ, und drehte den Stab gedankenverloren zwischen ihren Fingern.