Die Liebe in deinen Spuren

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Den Mann, dem noch immer jedes meiner Worte galt.

*

Die Handtücher schlugen wie feuchte Hände gegen meine Unterarme, während ich versuchte, sie an der Leine zu befestigen. Bereits zwei Wäscheklammern waren mir im Wind auf den Rasen gefallen, ein T-Shirt sogar so unglücklich im Dreck gelandet, dass ich es liegen ließ, um es später erneut in die Waschmaschine zu stecken.

Der Wind war auch der Grund, dass ich Celine erst hörte, als sie bereits direkt vor mir auf dem Wäscheplatz stand. Völlig aufgelöst wimmerte sie vor sich hin, murmelte zusammenhanglose Worte und starrte mich dabei an, als hätte ich ihr eine unliebsame Zukunft vorausgesagt.

„Was ist denn los?“ Irritiert ließ ich ein feuchtes Shirt in den Wäschekorb fallen.

„Udo. Er, er hat mich betrogen“, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme.

„Betrogen“, wiederholte ich ungläubig.

„Ja, verdammt. Betrogen!“ Unruhig ging sie neben der Leine auf und ab. „Ich habe es gerade erfahren.“

Noch bevor ich mich, geschweige denn sie, fragen konnte, warum sie es ausgerechnet mir erzählte, kam sie mir zuvor. „Woher wusstest du davon, Tina? Bitte sei ehrlich. Woher wusstest du es?“

Ihr Blick erweckte für einen Moment den Eindruck, dass sie sogar mich für verdächtig hielt, der Grund für seinen Betrug zu sein.

„Wie kommst du darauf, dass ich davon gewusst habe?“, fragte ich verunsichert.

„Warum sonst hast du neulich davon angefangen, über Treue und so zu reden? Das kann doch kein Zufall sein. Das ist doch ...“ Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist doch alles nicht möglich. Verdammt, warum ausgerechnet er?“

Ich schob den Korb zur Seite und legte meinen Arm um ihre Schulter. Langsam führte ich sie zur Bank, auf der sie ohne Gegenwehr Platz nahm.

„Am besten du erzählst jetzt erst einmal ganz in Ruhe, was passiert ist.“

Celine kramte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche. „Was gibt es da schon groß zu erzählen? Er hat mich betrogen. Mich! Seine Frau. Eiskalt betrogen.“

„Aber ist das denn überhaupt sicher?“

„Natürlich. Oder meinst du, ich würde sonst so ein Fass aufmachen?“

Ich erinnerte mich an die seltsamen Worte, die mich am selben Morgen heimgesucht hatten. Zwischen meiner anfänglichen Vermutung, dass Celine etwas damit zu tun hatte, und ihrem aufgelösten Erscheinen auf dem Wäscheplatz waren nur wenige Stunden vergangen. Könnte es tatsächlich einen Zusammenhang geben? Hatten mir meine Gedanken doch keinen Streich gespielt – oder handelte es sich einfach nur um einen traurigen Zufall?

Ich legte meine Hand auf ihre, die zitternd in ihrem Schoß lag. Für diesen einen Moment war aus der redseligen Nervensäge eine verzweifelte Frau geworden, die ein offenes Ohr brauchte. Ein offenes Ohr, das ich ihr gewissermaßen schuldig war, auch wenn ich noch nicht genau benennen konnte warum.

„Wie hast du es überhaupt herausgefunden?“, fragte ich.

„Na ja, du hast vorhin so seltsame Andeutungen gemacht, und irgendwie konnte ich das nicht vergessen.“

„Aber das hab ich doch nur so gesagt“, log ich. „Es hatte nichts zu bedeuten und absolut nichts mit dir zu tun.“

„Kann ja sein“, antwortete sie. „Letztendlich aber war nun mal das der Anlass, warum ich in sein Handy geschaut habe, als er für ein paar Minuten am Stand seiner Eltern war und ich eine Wasserflasche aus seinem Auto geholt habe.“

„Eine Wasserflasche?“, fragte ich ungeschickt.

„Ja, verdammt, eine Wasserflasche!“

„Tut mir leid.“ Schlichtend legte ich auch meine zweite Hand auf ihre. „Eine blöde Frage. Ich ... ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.“

Celine löste sich aus meinem Griff und tupfte sich über die verheulten Augen. „Da gibt es auch nichts zu sagen.“

„Was war es denn? Eine SMS?“

„Nein, nur ein Name, der mehrmals täglich auf seiner Anrufliste auftauchte.“

„Ein Name?“

„Ulrike“, sagte sie. „Zuerst habe ich ihn gefragt, wer das sei, und er murmelte was von einer Kundin. Als ich dann aber nicht lockerließ, fing er an, sich immer mehr in Widersprüche zu verwickeln und herumzustammeln – und da wusste ich, dass meine Vermutung stimmt.“

„Aber das muss doch nicht zwangsläufig bedeuten, dass er dich betrogen hat.“

„Was soll es sonst bedeuten?“ Der Blick, mit dem sie mich musterte, war verzweifelt und wütend zugleich.

„Entschuldige. Aber ich meine ja nur, dass es möglich ist, dass sie nur jemand ist, der ... ich weiß auch nicht. Eine alte Freundin vielleicht, oder tatsächlich eine Kundin, die ihn eben sehr in Anspruch nimmt. Ich meine, er muss doch irgendwas dazu gesagt haben.“

„Was auch immer er dazu zu sagen hat, ich will es nicht mehr hören.“

„Was soll das heißen?“

„Dass ich abgehauen bin. Einfach weg vom Flohmarkt, weg von den verfluchten Schuhen. Weg von ihm!“

Die Art, wie sie sich aufregte, ließ mich für einen Augenblick vergessen, wie unterschiedlich wir waren. In diesem Moment konnte ich ihren Schmerz nachempfinden, als wäre es mein eigener.

Wieder kam mir die fremde Männerstimme in den Sinn. Ich liebe Celine. Ich verstehe nicht, wie ich sie derart hintergehen konnte. Unter anderen Umständen hätte ich versucht, ihr die Vermutung auszureden, dass ihr Mann sie betrog. Instinktiv ahnte ich jedoch, dass sie recht hatte. Diese Begebenheit konnte kein Zufall sein, ganz gleich, wie sie sich auch erklären ließ.

„Wo ist Udo jetzt?“, fragte ich.

„Keine Ahnung“, antwortete sie. „Bei seinen Eltern, zu Hause, unterwegs. Was weiß ich? Zumindest ist er nicht hier, und das ist auch gut so – für ihn!“

„Weiß er denn, dass du zu mir wolltest?“

„Nein. Ich bin einfach ins Auto gesprungen und abgehauen. Dass ich zu dir fahre, habe ich selbst erst entschieden, nachdem ich fast eine Stunde ziellos umhergefahren war. Ich musste an das denken, was du heute Morgen gesagt hast. Außerdem wusste ich nicht, zu wem ich sonst soll.“

„Ist schon in Ordnung.“

„Ich verstehe nicht, wie er das tun konnte. Ich meine, wie lange hat er mich denn schon hintergangen? Ist sie die Erste, mit der er mich betrügt? Liebt er mich nicht mehr? Ist ihm unsere Ehe denn vollkommen egal?“

„Sie ist ihm ganz bestimmt nicht egal. Ich bin mir sicher, dass es ihm leid tut. Was auch immer er getan hat.“

„Was auch immer er getan hat“, wiederholte sie leise, während sie erneut mit dem Taschentuch über ihre feuchten Augen tupfte.

Eine Weile schwieg sie, dann ließ sie ihren Blick über den Rasen und das umliegende Grundstück wandern, bis er an der Parkfläche neben dem Haus haften blieb.

„Hast du Besuch?“, fragte sie, auf Piets Auto deutend.

„Keine Sorge, der wird uns nicht stören“, antwortete ich. „Das ist nur ein alter Freund.“

Kapitel 5

Nur ein alter Freund. War das wirklich die Bezeichnung, die Piets Position in meinem Leben am treffendsten umschrieb? Ich war dankbar, dass Celine sich nach meinen Überredungsversuchen dazu entschieden hatte, doch noch mal mit Udo zu reden, und nach einer Stunde endlich wieder ins Auto gestiegen war. Gleichzeitig bedeutete es aber auch, dass ich nach dem Aufhängen der Wäsche und dem Gespräch mit ihr keinen plausiblen Grund mehr hatte, Piet aus dem Weg zu gehen.

Wartete er noch immer im Haus auf mich? Oder spielte er bereits mit dem Gedanken, wieder nach Hamburg zurückzufahren?

Als ich mich endlich dazu durchrang, zurück ins Haus zu gehen, und die Tür ins Schloss fallen ließ, kam er augenblicklich aus dem Wohnzimmer ins Foyer.

„Ich dachte schon, du kommst gar nicht wieder.“

„Ich habe spontanen Besuch bekommen.“

„Das habe ich gemerkt, ich habe euch vom Fenster aus gesehen. Erst wollte ich Hallo sagen, aber dann ist mir aufgefallen, dass deine Freundin ziemlich aufgewühlt war. Da wollte ich besser nicht stören.“

„Sie ist nicht meine Freundin.“

Zweifelnd schaute er mich an. Meine Antwort schien nicht besonders glaubwürdig zu sein.

„Zumindest keine besonders gute“, ergänzte ich. „Sie hat Probleme mit ihrem Mann, und weil wir uns heute Vormittag zufällig getroffen haben, hat sie zuerst an mich gedacht, als sie jemanden zum Reden brauchte.“

„Verstehe.“ Er schob die Hände in die Taschen. „Kommt sie denn noch mal wieder?“

„Ich denke nicht.“

„Gut.“

Gut? Bedeutete das, dass er mit mir allein sein wollte? Dass er vorhatte, länger zu bleiben?

„Ich weiß, dass du große Erwartungen an das Album hast“, sagte ich bei dem Versuch, seine Absichten zu deuten. „Aber falls du gehofft hast, dass ich dir noch mehr Texte zeigen kann, muss ich dich leider enttäuschen. Der gestrige Text ist alles, was ich bisher geschrieben habe. Wenn du also nur bleiben möchtest, um Ergebnisse zu sehen ...“

„Tina.“ Mit der gewohnten Beharrlichkeit fiel er mir ins Wort. „Darum geht es doch gar nicht.“

„Nein?“

„Ich will dich nicht unter Druck setzen. Ich will einfach nur ein bisschen bei dir sein, ein paar Ideen sammeln, vielleicht den ein oder anderen Eindruck hinterlassen, den du als Anhaltspunkt für die nächsten Tracks verwenden kannst.“

„Musst du denn nicht zurück?“

„Ich habe eben bei Jessica angerufen. Sie weiß, dass ich hier bin. Alles in Ordnung.“

Alles in Ordnung? Das konnte nur bedeuten, dass sie keine Ahnung von dem Wochenende hatte, dass Piet und ich damals miteinander verbracht hatten. Hätte sie unter anderen Umständen bei der Erwähnung meines Namens nicht heftiger reagiert? Oder war sie sich ihrer Sache trotz allem einfach nur sehr sicher?

 

„Und was heißt das?“ Ich setzte mich auf die erste Stufe der Treppe, die ins Obergeschoss führte. „Hast du ihr gesagt, dass du länger bleibst?“

„Ich habe ihr gesagt, dass ich versuchen werde, mir für diese Nacht ein Zimmer zu nehmen, und morgen zurück nach Hamburg komme.“

„Und das hat sie dir geglaubt?“

„Warum sollte sie es nicht glauben?“ Er lächelte. „Immerhin ist es die Wahrheit.“

„Tatsächlich. Und wo soll dieses Zimmer sein?“

„Keine Ahnung. Darüber wollte ich nachdenken, sobald ich mit dir gesprochen habe.“

„Falls du denkst, dass du hier übernachten kannst ...“

„Ich denke gar nichts, Tina. Ich dachte nur, dass wir die Zeit nutzen sollten, um über einige Ideen zu sprechen. Ich meine, wenn ich schon mal hier bin.“

„Was ist mit den anderen Jungs?“

„Der Einzige, der sich halbwegs für die Lyrics interessiert, ist Zacharias. Und die anderen ... na ja, du kennst sie ja.“

„Ja, ich kenne sie.“ Unweigerlich schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Und ich kenne dich.“

Wortlos erwiderte er mein Lächeln, das alles und nichts bedeuten konnte.

Der Gedanke, dass er über Nacht bleiben würde, wenn auch nur in einem Hotel in der Nähe, weckte ein unerwartetes Gefühl der Vorfreude in mir. Auch wenn ich nicht bereit war, es mir einzugestehen – geschweige denn ihm gegenüber –, erfüllte es mich mit einem geheimen Glücksgefühl, während die Versuche, seiner Nähe auszuweichen, langsam an Priorität verloren. Was auch immer sein Argument war, über Nacht zu bleiben – immerhin schien es wichtig genug zu sein, um einem Abend mit der Mutter seines Kindes vorgezogen zu werden.

Sein Kind. Der kleine Fabian. Fast ein Jahr alt war er inzwischen. Er hatte mir ein Foto in seiner Brieftasche gezeigt, als wir uns zur Absprache für das Album im Café getroffen hatten.

Er sah ihm ähnlich. Sehr viel ähnlicher als seiner Mutter.

„Und der Kleine?“, fragte ich. „Vermisst er seinen Vater nicht?“

Da war sie wieder, meine Vernunft, die es immer wieder schaffte, jede meiner Hoffnungen zunichte zu machen. Gemeinsam mit meiner Enttäuschung war sie der ideale Feind für meine Zuversicht.

„Ich bin Musiker“, antwortete er. „Es ist nicht der erste Abend, an dem ich nicht zu Hause bin.“

„Vermutlich hast du recht. Ich finde den Gedanken, dass du hier bleibst, nur etwas befremdlich.“

„Befremdlich im negativen Sinne?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Ich zog mein Handy aus der Tasche meiner Strickjacke. „Vielleicht sollten wir gleich mal nachschauen, wo in der Nähe für heute Nacht noch was frei ist.“

„Jetzt gleich?“ Er schien enttäuscht. Hatte er sich etwa doch Hoffnungen auf das zweite Schlafzimmer des Hauses gemacht?

„Du hast recht.“ Ich steckte das Handy zurück. „Das wäre wohl übereilt. Vielleicht fährst du ja doch nach Hause zurück. So weit ist es ja nicht.“

„Ja, vielleicht.“

Diese Äußerung schien ihn noch mehr zu enttäuschen.

„Vielleicht denken wir aber auch einfach nicht weiter darüber nach“, sagte ich schließlich. „Immerhin ist es erst halb drei.“

„Gute Idee.“ Unvermittelt setzte er sich neben mich auf die Treppenstufe. „Lass uns stattdessen lieber über die Tracks reden.“

„Die Tracks“, murmelte ich verwirrt.

„Wenn du mich fragst, hat besonders die siebte Nummer großes Potenzial für eine Auskopplung. Da sollten wir ein Thema wählen, das so richtig knallt. Eins, das besonders viele Leute anspricht. Vielleicht wieder so ‘ne Sehnsuchtsnummer, oder irgendwas mit der Erfüllung von Träumen. Du weißt schon: Herz, Seele, sich selbst wiederfinden und so.“

Er saß so dicht neben mir, dass sich unsere Schultern berührten. Eine Gänsehaut überkam mich. Ob meine Wangen rot anliefen?

Instinktiv sprang ich auf. „Vergiss deinen roten Faden nicht. Ich muss nur mal eben nach oben, mir ‘nen Schwung kaltes Wasser ins Gesicht werfen und eine Kopfschmerztablette nehmen.“

„Geht’s dir nicht gut?“

„Ach, nur der Wetterumschwung. Da bin ich immer besonders anfällig. Wenn ich nicht rechtzeitig eine Tablette nehme, kannst du mich für den Rest des Tages vergessen. Ich bin in zwei Minuten wieder da.“

Im Badezimmer angekommen, drehte ich den Wasserhahn auf und spritzte mir eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht. Allerdings waren es keine Kopfschmerzen, die ich vertreiben wollte. Vielmehr galt es, einen kühlen Kopf zu bekommen. Wann hatte ich das letzte Mal so dicht neben ihm gesessen? So vertraulich mit ihm gesprochen?

In Dublin. Ja, natürlich.

Bilder einer vergangenen Zeit wurden wach. Einer Zeit, die mit Piets Auftauchen plötzlich nur noch einen Wimpernschlag entfernt schien.

Ich presste das Handtuch gegen mein feuchtes Gesicht und musterte mich skeptisch im Spiegel. Wie sollte ich den Rest des Tages in seiner Nähe verbringen, ohne den Kopf zu verlieren? Und vor allem: Was würde geschehen, wenn ich den Kopf verlor?

Gerade als ich darüber nachdachte, wieder nach unten zu gehen, suchten mich unbekannte Worte heim.

Eine Stimme. Diesmal war es jedoch keine fremde.

Abstand. Immer dieser verfluchte Abstand. Warum muss sie es uns so schwer machen? Hat sie denn noch immer nicht begriffen, dass sie die Einzige ist, die ich will? Warum versteht sie nicht, dass meine Entscheidung von damals nicht das Geringste mit meinen Gefühlen für sie zu tun hat?

Wie erstarrt ließ ich das Handtuch fallen. Piet. Kein Zweifel, es war seine Stimme.

Die mittlerweile dritte Stimme, die sich seit dem ersten Betreten des Hauses in mein Unterbewusstsein geschlichen hatte. Oder war es bereits die vierte?

Langsam überkam mich eine Ahnung.

Mella. Die Frau, von der Celine erzählt hatte, und deren Eintrag ich auch im Gästebuch gefunden hatte. Der Mann, der über ebendiese Mella nachgedacht hatte. Möglicherweise der Ehemann, von dem sie sich nach dem Urlaub getrennt hatte? Dann die männliche Stimme, die den Betrug an Celine bereute und zweifellos Udo gehörte. Hatte Celine nicht erzählt, dass sie hin und wieder ein romantisches Wochenende in dem Haus verbrachten?

Und jetzt Piet.

Jede der Verbindungen, egal ob über die fremden Worte in meinem Text oder durch das Hören der Stimmen, schien auf einen Menschen zurückzuführen zu sein, der das Haus in naher oder ferner Vergangenheit betreten hatte.

Ich ließ mich auf den kleinen Hocker neben der Waschmaschine fallen. Nicht nur, dass die Worte zu Menschen gehörten, die etwas mit dem Haus zu tun hatten, alle Gedanken schienen auch sehr emotional zu sein. Emotionen, die vor allem um eines kreisten: das Objekt ihrer Begierde.

Piet. Wenn ich das richtig gedeutet hatte, kreisten seine Emotionen ebenfalls um das Objekt seiner Begierde. Noch unglaublicher als die Erkenntnis, dass es eine Bindung zwischen mir und den Bewohnern des Hauses zu geben schien, war jedoch die Tatsache, dass ich selbst das Objekt seiner Begierde war.

Konnte das wirklich wahr sein?

Ich presste meine Handflächen auf das Gesicht. Wo war ich da nur hineingeraten? Warum passierte das ausgerechnet hier, in diesem kleinen unscheinbaren Häuschen am Meer?

Wie hatte Mella es genannt?

Das Luftblumenhaus.

Ich seufzte. Was hatte das alles für einen Sinn?

Von der Treppe aus hörte ich ein Geräusch, das wie ein Husten klang. Piet. Vermutlich saß er noch immer auf der Stufe und wartete darauf, dass ich zurückkam. Wie lange brauchte man, um eine Kopfschmerztablette zu nehmen?

Sicher hatte er meine Ausrede längst durchschaut.

Ich stand auf und schaute erneut in den Spiegel.

Was auch immer das alles zu bedeuten hatte, wie verrückt auch immer es war – im Grunde zählte nur eines: Er liebte mich. Noch immer. Und daran hatte scheinbar keiner meiner verzweifelten Versuche, ihn auf Abstand zu halten, etwas geändert.

*

Die Sekunden, die zwischen meinem Verlassen des Badezimmers und dem Erreichen der untersten Stufe verstrichen, schienen durch einen einzigen Atemzug miteinander verbunden. Fast kam es mir vor, als hielt ich die Luft an, um meinen Gedanken den Zugang zu meinem Herzen zu versperren.

Am Ende der Treppe sah ich ihn sitzen. In den Händen sein Handy, in das er irgendetwas eintippte und das er jedoch sofort wegsteckte, als er mich bemerkte.

Instinktiv stand er auf.

In seinen Augen lag eine Erwartung, die sich mit Vernunft nicht erklären ließ. Es schien, als spürte er, dass während meiner Abwesenheit etwas mit mir geschehen war.

Hat sie denn noch immer nicht begriffen, dass sie die Einzige ist, die ich will? Die Worte hatten sich wie ein Feuerzeichen in meinen Verstand gebrannt. Wie in Trance ließ ich die Stufen hinter mir. Unten angekommen, blieb ich schließlich regungslos vor ihm stehen.

Schweigend schauten wir uns an. Wusste er, was ich wusste? Ahnte er, dass ich verstand, was in ihm vorging?

Vielleicht war es gar nicht nötig, einen Einblick in sein Innerstes zu bekommen, denn in diesem kurzen Moment des Schweigens offenbarte er mir alles, was es zu wissen galt. Jede Frage wurde innerhalb von Sekunden überflüssig. Jeder Blick aufschlussreicher als alle Worte der Welt.

Er kam einen Schritt näher, hob die Hand, um auf halber Strecke mit fragendem Blick zu verharren. Intuitiv griff ich danach und führte sie an meine Wange. Eine Geste, die unmissverständlich klarmachte, dass es kein Zurück gab. Jede Angst, jeder Anflug von Vernunft und falschem Stolz verblasste augenblicklich.

„Tina“, sagte er so leise, dass ich nicht sicher war, ob er meinen Namen nur mit den Lippen geformt oder tatsächlich ausgesprochen hatte.

Ich lächelte. Das war er, der Moment, auf den ich gewartet hatte. Der Moment, den ich die ganze Zeit über hinausgezögert und doch mehr als alles andere herbeigesehnt hatte.

Nun hob er auch seine zweite Hand, schob sie an meine andere Wange, sodass er mein Gesicht fest mit seinen Fingern umschloss, und berührte meine Nase mit seinen Lippen. Lautlos küsste er meine Stirn und meine Wangen, bis er schließlich meinen Mund erreichte.

Meine Hände wanderten auf seinen Rücken. Mit der Kraft von drei verzweifelten Jahren zog ich ihn an mich. Alles um mich herum verschwamm in farbloser Gleichgültigkeit. In diesem Moment gab es nichts außer dem Verlangen, sich vollkommen zu verlieren. An ihn. Und gewissermaßen auch an mich selbst.

„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Es tut mir so leid.“

„Ich hoffe, du meinst damit nicht diesen Moment.“

Der Ansatz eines Lächelns schlich sich in sein Gesicht. Ohne ein weiteres Wort zog ich ihn erneut an mich, während wir uns langsam auf die kleine Rattanbank neben der Treppe fallen ließen. Unbeirrt fuhr ich mit den Händen unter sein Shirt. Er schob die Strickjacke von meinen Schultern.

Es wurde egal, was richtig oder falsch war. Viel wichtiger schien der Instinkt, dem Drang nachzugeben. Nichts war größer als der Wunsch, ganz und gar bei ihm zu sein. Mit allem, was ich war. Mit allem, was er war.

In diesem Moment. Und am besten für immer.

*

„Und, Herr Meistergitarrist?“ Ich stellte die Wassergläser auf den Wohnzimmertisch und ließ mich neben ihn aufs Sofa fallen. „Welche Akkorde passen zu dem Song, den du über das hier schreiben würdest?“

„Ich würde sagen, das ist ein klarer A7.“

„Ist das der Einzige, der dir dazu einfällt?“ Lächelnd kroch ich zurück unter die Fleecedecke.

„Die Frage müsste wohl eher lauten, welcher Akkord nicht zu dir passt.“ Er legte den Arm um mich. „Da blieben nämlich nicht mehr allzu viele übrig.“

Mein Blick wanderte zur Uhr über der Tür. Viertel nach sieben. Wo waren die Stunden geblieben? Wie lange hatten wir die Welt vergessen?

Wir waren nach dem ersehnten und doch unerwarteten Erlebnis im Foyer ins Wohnzimmer gegangen, um dem etwas unbequemen Ort des Geschehens den Rücken zuzukehren, aber auch in der Behaglichkeit des Wohnzimmers war es uns schwer gefallen, die Finger voneinander zu lassen.

Wie viel Zeit war seitdem vergangen? Waren wir wirklich in der Lage gewesen, den Rest der Welt völlig auszublenden?

Piet schien ähnlich zu denken, als er zur Uhr hinüberschaute.

„Ich schlage vor, dass wir die Zeit anhalten“, sagte er, während er eine Strähne aus meinem Gesicht strich.

„Ich habe eher den Eindruck, dass sie schneller vergeht, wenn wir zusammen sind.“

„Vielleicht ändert sich das Verhältnis von Zeit und Raum, wenn bestimmte Menschen aufeinandertreffen?“

 

„Das Verhältnis von Zeit und Raum?“ Ich lachte. „An dir ist scheinbar doch ein Songtexter verloren gegangen.“

„Das überlasse ich dann doch lieber den Profis.“ Er zog mich ein kleines Stück näher an sich heran. „Wie praktisch, dass ich die Beste bereits hier habe.“

„Du weißt, dass ich weit davon entfernt bin, die Beste zu sein.“

„Zum Glück beurteilen das andere.“

„Ach ja? Wer denn zum Beispiel?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls nicht die Texter selbst. Die wären voreingenommen.“

„Ach, und du bist nicht voreingenommen?“

„Du hast recht.“ Er ließ seine Finger über meinen Arm wandern. „Deine unverschämt weiche Haut könnte mich tatsächlich in meiner Einschätzung beeinflusst haben.“

Selbst jetzt hatte er noch die Macht, mich verlegen zu machen.

„Vielleicht auch dein Haar“, fuhr er fort, während er eine Strähne um seinen Finger wickelte. „Oder deine beeindruckende Intelligenz.“

„Beeindruckende Intelligenz? Jetzt ist es amtlich. Hiermit ernenne ich dich offiziell zum Schleimer.“

„Ein Schleimer? Das will ich aber überhört haben.“

„Dann will ich die beeindruckende Intelligenz überhört haben.“

„Stört es dich etwa, intelligent zu sein?“

„Vielleicht stört es mich nur, dass du mir eine Intelligenz zuschreibst, die womöglich gar nicht vorhanden ist.“

Er küsste meinen Nacken. „Wenn ich offiziell zum Schleimer ernannt werde, ernenne ich dich zur Bescheidenheit in Person.“

„Wenn ich so intelligent wäre, wie du sagst, hätte ich in meinem Leben einiges anders gemacht.“

„Ist es nicht das, was uns ausmacht?“ Seine Lippen arbeiteten sich bis zu meiner Schulter vor. „Zu erkennen, was wir heute anders machen würden?“

Behutsam berührte ich seinen Halsansatz. Noch immer schien die Situation unwirklich.

Das Läuten seines Handys katapultierte uns jedoch in Bruchteilen von Sekunden wieder in die Wirklichkeit zurück. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass es in den vergangenen Stunden mehrfach geklingelt hatte. Ein Geräusch, das wir einfach ignoriert hatten.

Piet setzte sich aufrecht. Das Klingeln kam aus dem Foyer, in dem noch immer unsere Klamotten lagen.

„Vielleicht solltest du rangehen, bevor uns die permanenten Anrufe noch den ganzen Abend ruinieren.“

„Vielleicht“, sagte er. „Noch besser ist es, wenn ich es einfach ausmache.“

Lächelnd schaute ich ihm nach, während er das Wohnzimmer verließ und sich auf die Suche nach seinem Telefon machte.

Ich lehnte mich zurück. Vielleicht brauchte es einen kurzen Moment ohne ihn, um zu begreifen, was geschehen war. Piet und ich. Eine hoffnungslose Sehnsucht, die sich endlich erfüllt hatte?

Unweigerlich fiel mir unsere erste Begegnung ein und das Treffen mit Walter Mazur, der uns damals einander vorgestellt hatte, als die Band auf der Suche nach einem Texter war.

Lächerlich hatte ich ihn gefunden, wie er dasaß in seinen verschlissenen Jeans und dem ausgewaschenen „Rolling Stones“-T-Shirt, krampfhaft darum bemüht, besonders cool zu wirken. Aufgeblasen und selbstverliebt. Das war zumindest der erste Eindruck, den ich meiner damaligen Mitbewohnerin Ella am Abend nach dem Treffen aufgetischt hatte und den ich lange Zeit aufrechterhielt, wenn auch später nur noch, um mir selbst nicht eingestehen zu müssen, dass ich weit mehr für ihn empfand als den Wunsch, durch den Erfolg der Band selbst einige Stufen auf der Karriereleiter zu überspringen.

Nein, er war weder selbstverliebt noch aufgeblasen. Ein bisschen egozentrisch vielleicht, möglicherweise auch besessen, was die Musik anging. Letztendlich war es aber genau das, was mich am meisten an ihm beeindruckte: Seine Begeisterungsfähigkeit. Seine Leidenschaft. Wenn er etwas tat, dann mit Leib und Seele. Keine halben Sachen. Keine Songs, die ihn nicht komplett überzeugten. Umso größer war das Kompliment, dass ihn meine Texte überzeugten. Vom ersten Tag an.

Ich bemerkte nicht sofort, dass er ins Wohnzimmer zurückgekehrt war. Erst als er näher kam, spürte ich, dass etwas nicht stimmte.

„Ist was passiert?“

„Ich habe gerade meine Mailbox abgehört. Viermal hat sie mir rauf gesprochen.“

Jessica. Mein Magen schnürte sich zusammen. Warum hatte er nicht gelogen und mir stattdessen erzählt, dass ihn jemand aus der Band angerufen hatte? Warum gönnte er mir nicht die Illusion, dass sie in diesem Moment nicht existierte?

„Hast du sie zurückgerufen?“

„Ja.“ Er setzte sich auf den Sessel. Erst jetzt bemerkte ich, dass er bereits komplett angezogen war. Die Tatsache, dass ich noch immer nackt unter der Decke lag, gab der Situation etwas seltsam Entwürdigendes.

„Was ist los?“ Instinktiv griff ich nach meinem Shirt, dem einzigen Kleidungsstück, das in Griffweite auf der Sofalehne lag.

„Ich muss zurück, Tina.“ Beinahe ängstlich suchte er meinen Blick. „Jetzt gleich.“

Unfähig, ihm zu antworten, bleib ich eine Weile schweigend sitzen, bis ich schließlich energisch die Decke zur Seite warf und das Wohnzimmer verließ. Er folgte mir ins Foyer, wo ich nach und nach in meine Socken und die Jeans schlüpfte.

„Es ist nicht so, wie du denkst, Tina. Bitte lass es mich erklären.“

„So? Was denke ich denn?“ Ich suchte nach meiner Strickjacke, die ich unter der Rattanbank wieder fand. „Vielleicht kannst du mir ja etwas über meine Gedanken verraten, das ich selbst noch nicht weiß.“

„Es gibt keinen Grund, so bissig zu sein. Ich fahre nicht wegen ihr zurück, sondern wegen Fabian.“

„Wegen Fabian“, wiederholte ich, während ich die Arme vor der Brust verschränkte.

„Er ist im Krankenhaus. Er hat heute Nachmittag plötzlich hohes Fieber bekommen.“

„Das tut mir leid“, antwortete ich, während ich mich insgeheim dafür schämte, nur wenig Mitgefühl zu empfinden. Er war immerhin sein Sohn und nicht mal ein Jahr alt. Was, wenn er ernsthaft in Gefahr war?

„Die Ärzte können noch nicht sagen, woran es liegt, und wer weiß, vielleicht geht es ihm ja morgen schon wieder besser.“

Ich nickte wortlos.

„Aber jetzt muss ich erst einmal zu ihm.“ Er griff nach seinem Autoschlüssel auf der Kommode. „Er ist immerhin mein Sohn.“

„Du musst mir nicht erklären, warum du zu ihm musst.“

„Es tut mir leid.“

„Tu mir einen Gefallen und hör bitte auf, dich ständig zu entschuldigen, Piet.“

Er senkte den Blick. „Es ist nur so schwer, jetzt schon wieder zu gehen.“

Ich versuchte, die aufkeimende Enttäuschung zu unterdrücken. „Sehen wir uns bald wieder?“

„Ich weiß es nicht. Alles hängt davon ab, wie es mit Fabian weitergeht.“

„Ich verstehe.“ Die Angst, erneut auf falsche Versprechungen hereinzufallen, meldete sich zurück wie ein unliebsamer Bekannter. Abrupt wandte ich mich von ihm ab und verschwand in die Küche.

„Ich rufe dich an“, versprach er. „So bald wie möglich.“

„Tu dir keinen Zwang an. Ich komme schon zurecht.“

„Ich verstehe nicht, warum du plötzlich so abweisend bist. Es geht um meinen Sohn, Tina. Verstehst du nicht, dass ich zu ihm muss?“

„Kapierst du denn nicht, dass das absolut nichts mit ihm zu tun hat?“, fuhr ich ihn an. „Natürlich weiß ich, dass du für ihn da bist. Natürlich kann ich verstehen, wie wichtig er dir ist. Kennst du mich so schlecht, dass du annimmst, ich würde meinen Stellenwert mit seinem vergleichen?“

„Aber warum bist du dann von einem Moment auf den anderen so kühl?“

„Weil ich weiß, wohin es führen wird“, antwortete ich. „Weil ich weiß, wie schnell die Dinge wie vorher sein werden, wenn du erst wieder bei ihr bist.“

„Aber ich bin nicht bei ihr, sondern bei ihm. Das ist etwas völlig anderes.“

„Nein, Piet. Es ist eben nichts anderes. Das alles hast du mir damals auch schon gepredigt. Dass du sie nicht im Stich lassen darfst. Dass du ihr beistehen musst. Dass du eine Verantwortung trägst, aber das alles nichts an der Sache zwischen uns ändert.“

„Und ich habe jedes Wort so gemeint.“

„Und warum kann ich mich dann nicht daran erinnern, dass du jemals bei mir warst? Dass du dich bewusst für mich entschieden hast? Warum musste es gleich das ganze Familienpaket sein? Du hättest sie auch unterstützen können, ohne bei ihr einzuziehen.“

„Fabian braucht beide Eltern, und das weißt du. Er braucht eine Familie.“

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