Ein stiller Gruß von Dir...

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Das hört sich total verworren an, ist es auch. Ich habe nicht verstanden, was mit Dir passierte und ich weiß nicht, ob Du es verstanden hast. Aber ich war bereit zu kämpfen, um Dich zu kämpfen, um uns zu kämpfen und um unsere Träume. Von der Größe meines Gegners ahnte ich nichts. Ich griff zu der Waffe, von der ich glaubte, dass sie alles lösen würde - unserer Liebe.



In Deinem Heimatort angekommen, vereinbarte ich sofort Arzttermine und meldete Dich im Job krank. Glücklicherweise waren zwei Deiner Kollegen an einem Magen-Darm-Virus erkrankt, so dass Deine Krankmeldung mit eben dieser Diagnose dem Verlag plausibel erschien. Die Sekretärin wollte mich gar nicht mehr vom Telefon lassen. Im Verlag waren alle so begeistert von Dir und Deiner Arbeit und das nach nur einem Tag. Das erzählte sie mir wieder und wieder und ich konnte nur ahnen, dass sie von Dir sprach, der Du völlig am Ende warst und auf dem Sofa lagst. Und da war er wieder, der äußere Eindruck der Menschen von Dir, der so gegensätzlich zu Deiner eigenen Meinung und Deiner Versagensangst war. Sie passten nicht zusammen. Ich wusste, dass Du gut, intelligent und sympathisch warst und der Verlag und so viele andere wussten es auch. Nur Du wusstest es leider nicht oder wolltest es nicht glauben.



Bis zu Deiner Einweisung in eine psychiatrisch-psychosomatische Klinik nach Bad Bevensen vergingen viereinhalb Wochen. Du wolltest unter keinen Umständen in eine Psychiatrie und ich erfuhr erst später, dass Du diese Erfahrung bereits gemacht hattest und nicht wieder machen wolltest. Ich respektierte Deinen Wunsch, bestand aber auf eine klinische Einweisung, der Du auch zustimmtest. Dein Therapeut nahm sich kaum Zeit für Dich, auch nicht, nachdem wir ihn wiederholt darum baten. Er hatte keine Termine frei. Dein Arzt bestätigte uns, dass Du einen schweren Zusammenbruch hattest und Du bekamst erneut Spritzen und Medikamente.



Ich kämpfte währenddessen mit ihm zusammen um eine zügige Klinikeinweisung. Mit Hilfe des Chefarztes der Klinik, der auch mal mein Arzt gewesen war, gelang es mir, wenn auch nicht sofort. Ich machte alles alleine. Dein Therapeut sagte mir nur, dass ich es schon schaffen würde. Ich habe mich selten so einsam und verlassen gefühlt.



Wieder und wieder habe ich mich später gefragt, ob ich Dich nicht gegen Deinen Willen in eine Psychiatrie hätte bringen müssen, ob mehr Einsatz von Seiten Deines Therapeuten Dich gerettet hätte, ob das alles nicht passiert wäre, wenn Du weiterhin Deine Medikamente genommen hättest. Es ist wie ein Rad in meinem Kopf, das ich oftmals zum Anhalten zwingen muss, denn wir werden das alles nicht mehr erfahren.



Ich nahm Dich mit zu mir nach Hamburg und ließ Dich nicht aus den Augen. Nicht weil ich aktiv gewusst habe, in welcher Gefahr Du warst, sondern weil mir klar geworden war, dass Du schwer krank bist.



Du verbrachtest die meiste Zeit im Bett und agiertest nur noch auf Anweisung. „Geh´ bitte duschen, rasier´ Dich, unterschreibe hier usw.“ Du warst auf dem Stand eines kleinen Jungen und obwohl ich das fühlte, war mir nicht klar, wie wahr es war. Dein Essen mischte ich in einer Schüssel zusammen, Du warst nicht mehr in der Lage, Dir die einzelnen Bestandteile selber zu nehmen. Du aßt, wenn ich es Dir sagte und wenn ich nichts sagte, dann tatest Du es nicht. Ich bemühte mich hochkalorisch zu kochen und Dich immer wieder zum Essen zu bewegen, aber ich konnte nicht verhindern, dass Du mehr und mehr abnahmst.



Die wenigen Male, die ich Dich alleine lassen musste, um unsere Wohnung in Soltau wieder zu räumen - Dein Vater hatte mittlerweile Deinen Job nach Absprache wieder gekündigt - passte meine Mutter auf Dich auf. Ja, sie passte auf Dich auf, wie jemand auf ein Kleinkind aufpasste. Du verhieltest Dich auch wie ein solches. Du weintest viel, konntest Dein Leben nicht mehr selber in die Hand nehmen und bedurftest durchgehender Hilfe. Und so sehr ich darunter litt, so kann ich nur ahnen, wie Du darunter gelitten haben musst.



Immer wieder flehtest Du mich an, Dich nicht zu verlassen, aber so sehr ich Dir auch versicherte, dass ich Dich niemals verlassen würde und dass wir es schaffen würden, so wenig glaubtest Du mir. Du weintest viel, ließt weder unseren Kater noch mich wirklich an Dich heran. Wenn Du mich in den Arm nahmst, dann war es so, als würde eine Hülle mich umarmen. Du warst schon lange gegangen.



Ich weiß nicht, wie viel Du von dem, was ich gesagt habe noch gehört hast und ob irgendetwas zu Dir durchgedrungen ist. Du warst so nah und doch so unendlich weit weg. Vielleicht wolltest Du es hören, aber Du konntest nicht, ich weiß es nicht. Auch Freunde, Deine Familie, meine Mutter, niemand erreichte Dich mehr. Du hast immer nur gesagt, Du wärest müde und Du würdest es nicht schaffen, wieder gesund zu werden. Deine Welt war nur noch grau. Viele irrationale Gedanken spukten durch Deinen Kopf. Angefangen bei unserer Trennung, bis hin zu Deiner Angst völlig zu verarmen, war es schwierig Dir zu folgen, denn für alle diese Gedanken gab es keinen Anlass.



In meiner puren Verzweiflung habe ich oftmals auch geschimpft, Dir vorgeworfen, Du würdest nicht genug kämpfen, um dann wieder mit Dir zu weinen und Dich anzuflehen, wieder aufzustehen. Ich bitte Dich um Verzeihung, für die Momente, in denen Wut und Verzweiflung mich übermannten. Heute weiß ich, dass der Gegner Depression zu stark war. Du hast gekämpft und Du hast versucht durchzuhalten, aber es ging nicht.



Es mag komisch erscheinen, wenn ich heute sage, dass mir zu keiner Zeit das Wort Suizid in den Kopf gekommen ist, ich zu keiner Zeit bewusst darüber nachgedacht habe, dass Du Dir etwas antun könntest und ich es dennoch wohl indirekt angesprochen habe, ohne die Gefahr zu sehen. Ich habe Dich gefragt, was in Deinem Kopf vor sich geht, wollte wissen, ob Du „Dummheiten“ machen könntest. Was habe ich damit gemeint? Hat ein Teil von mir geahnt, dass Du dem Tod näher warst als dem Leben? Ich danke Dir heute dafür, dass Du die einzigen beiden Male, die ich Dich für kurze Zeit ohne Aufsicht alleine gelassen habe, nicht dafür genutzt hast, Dir in unserer Wohnung das Leben zu nehmen.



Einmal hast Du mir erzählt, dass Du Dich fallen, aber nicht springen siehst. Eine Einweisung in die Psychiatrie hast Du weiterhin auch an diesem Tag abgelehnt. Du wusstest sehr wohl, was Du auf keinen Fall wolltest und das setztest Du vehement und mit viel Bitten und Flehen durch. Da Du nicht unmündig warst, akzeptierte ich Deinen Willen.



Und ich klammerte mich an einen Satz, den Du immer wiederholtest „Ich will nicht so enden wie Ulla“. Deine Tante war tot und so war Deine Aussage für mich ein eindeutiger Beweis, dass Du leben wolltest. Wie sehr habe ich mich geirrt. Auch Ulla war depressiv gewesen und hatte durch vehementes Rauchen und Essensverweigerung ihren Tod herbeigeführt. Ich denke heute, Du wolltest nicht so leiden wie sie.



Du hast mich nicht belogen, aber Du hast mir auch nicht die volle Wahrheit gesagt. Immer noch hallt der Satz in meinem Kopf herum, den Du mir so oft erklärt hast: „Ich werde Dich nie alleine lassen“. Vielleicht hast Du nur nicht vom Leben gesprochen, so wie ich, vielleicht bist Du in irgendeiner Art noch heute an meiner Seite. Vor allem aber weiß ich heute, dass Du diesen Satz zum Zeitpunkt seiner Aussage in Deiner Auslegung sehr ernst gemeint hast. Du wolltest mich nicht verletzen, aber Du warst am Ende Deiner Kraft.



Unzählige Nächte habe ich wach neben Dir gelegen, unzählige Nächte habe ich gebetet und geweint. Ich fühlte mich so alleine. Von Dir war nicht mehr viel da und das was noch da war, versuchte irgendwie zu überleben. Leider war mir das damals nicht klar.





Ich stehe auf, um mir die Beine zu vertreten. Es ist bitterkalt, kein Wunder mitten im Monat Oktober und mitten in der Nacht auf dem Balkon. Aber ich will nicht schlafen gehen. Ich will weiterhin in die klare Sternennacht sehen und meinen Gedanken und Erinnerungen freien Lauf lassen. In der Ruhe, die trotz des unbeschreiblichen Schmerzes in mir ist, fühle ich mich Dir unendlich nahe. Ich gieße mir ein weiteres Glas Wein ein und versinke wieder in meinen Erinnerungen.





Am 29. Juli hattest Du es geschafft. Wir hatten Deine Koffer gepackt und Deine Klinikeinweisung stand bevor. Meine Mutter wollte uns begleiten und ich war ihr dafür sehr dankbar. Ein eigenartiges Gefühl beschlich mich, als wir die Wohnung verließen. Würdest Du je wiederkommen? Ich schob dieses Gefühl auf die Tatsache, dass es ja möglich war, dass Du Dich in der Klinik zu einem Leben ohne mich entscheiden könntest, dass Du zurück in Deine Heimatstadt gehen könntest, ohne jede Verantwortung. Das war meine größte Befürchtung. Diese Angst hatte mich voll im Griff. Die Angst, dass Du eine Entscheidung gegen uns treffen würdest. Das Unterbewusstsein ist schon erstaunlich, denn auch wenn es völlig anders gekommen ist, hatte es doch teilweise recht. Ich wollte, dass Du gesund wirst, mit aller Kraft wollte ich, dass Du zurück kommst, aber meine größte Angst war, dass Du mich verlassen könntest oder Dich nach Deiner Gesundung einer anderen Frau zuwenden könntest. Ich wusste, dass wir uns lieben, aber ich konnte Deine Liebe nicht mehr spüren.



Auf der Fahrt in die Klinik versuchte ich Dir und wahrscheinlich auch mir, Mut zu machen. Ich regelte dort angekommen die Formalitäten und brachte Dich auf Dein Zimmer. Nie werde ich vergessen, dass ich mich freute, dass Du ein schönes Einzelzimmer hattest. Später habe ich mir gewünscht, Du hättest Dein Zimmer mit jemandem teilen müssen und wärst einer strengeren Kontrolle unterlegen. Aber dann hättest Du wahrscheinlich einen anderen Weg gefunden.



Wir richteten Dir Dein Zimmer behaglich her. Unser Foto wolltest Du nur mit dem Bild zur Wand aufstellen. Das tat mir sehr weh, aber ich respektierte es. Du sagtest mir, dass es für Dich schwierig sei, die guten Zeiten vor Augen zu haben. Ich nehme heute an, dass Du schon versucht hast, Dich emotional von mir zu lösen, um Deinen letzten Schritt gehen zu können. Ich glaube nicht, dass Dir das bewusst war, aber so wie ich vieles in meinem Unterbewusstsein geahnt haben muss, so wird es auch Dir ergangen sein.

 



Du wolltest mich nicht gehen lassen, aber ich musste gehen, ich konnte ja nicht bei Dir in der Klinik bleiben. Ich versuchte den Abschied kurz zu machen, sagte Dir, dass ich Dich schon am kommenden Wochenende besuchen würde und sprach Dir Mut zu. Du konntest mich zu jeder Zeit anrufen, das wusstest Du. Ich war bei Dir, wenn auch nicht körperlich. Als Du meine Mutter und mich auf dem Parkplatz verließt, um in die Klinik zu gehen, dachten sie und ich dasselbe. Du wirktest wie ein gebeugter, alter Mann ohne Leben. Es war furchtbar.



In den kommenden Tagen musste ich lernen, ohne Deinen Halt und Deine Liebe auszukommen. Zum ersten Mal in der ganzen Zeit unserer Beziehung riefst Du nicht jeden Abend an. Ich wusste, dass Du Dich auf Dich konzentrieren musstest, aber ich schaffte es nur schwerlich diese Logik auch meinem Gefühl, dass ich Dich vermisste, entgegen zu setzen. Die Sekretärin des Chefarztes hatte mir versprochen, dass ich Dich heil zurück bekommen würde und ich versuchte, mich darauf zu verlassen. Auch sie sollte sich sehr irren.



Wenn Du anriefst, dann weintest Du, sagtest mir, dass Du Angst hättest und nicht wüsstest wie es weitergehen soll. Egal, was ich Dir versprach oder sagte, ich glaube nicht, dass Du es noch hören konntest oder wolltest.



Ich will nicht leugnen, dass ich immer mehr an Kraft verlor. Auch ich war aufgrund meiner Vergangenheit angeschlagen und es zeigten sich wieder deutliche Symptome meiner Geschichte. Aber ich kämpfte, auch wenn ich manchmal nicht mehr wusste, wie ich noch aufstehen sollte. Am Samstag nach Deiner Einweisung in die Klinik fuhr ich zu Dir, ausgerüstet mit einem großen Picknickkorb, in dem sich nahezu alles befand, was Du gerne mochtest. Dazu eine Decke und ein Backgammon-Spiel, das wir so gerne spielten.



Es war sonnig und warm, als ich ankam. Du hattest mich schon erwartet. Ich erschrak, als ich Dich sah. Du warst blass und weintest und hattest noch mehr abgenommen. Ich nahm Dich fest in den Arm und ging mit Dir auf Dein Zimmer. Wir legten uns auf Dein Bett in Löffelchenstellung wie früher, außer, dass ich Dich kaum spüren konnte hinter mir. Mir ist heute klar, dass ich Schutz gesucht habe, aber dass Du mich nicht mehr schützen konntest, sondern selber allen Schutz brauchtest. Ich überredete Dich, mit mir in den Kurpark zu gehen, um dort zu picknicken.



Wir legten uns auf eine flauschige, rosa Decke und sahen in den Himmel. Manchmal frage ich mich heute, ob Du diesem da schon näher warst als mir. Wir sprachen und aßen und ich war glücklich zu sehen, dass ich Dich zu ein paar Leckereien verführen konnte. Das war ein Anfang. Wir spielten Backgammon und bis heute erstaunt mich, dass Dir Dein logisches Denken während Deiner Krankheit nicht abhanden gekommen ist. Du konntest spielen und vor allem gewinnen. Es stimmte so gar nicht mit dem Bild überein, das Du mir sonst geboten hast.



Als wir vorsichtig darüber sprachen, wie es Dir ginge, drehtest Du Dich mit einem Mal um, zogst die Knie an und stütztest Dich auf Deine Ellenbogen. Mit dem Kopf in der Decke hörte ich Dich sagen: „Ich habe in den Therapien nie die Wahrheit gesagt“. Ich war schockiert, wenn auch nicht verwundert. Ich bat Dich, es jetzt zu tun, aber ich erhielt darauf nie eine Antwort und ich werde wohl nie erfahren, was denn die Wahrheit war.



Als ich ging, hast Du geweint und mich gebeten, am nächsten Tag wieder zu kommen. Auch wenn meine Kraft am Ende war, sicherte ich Dir das zu. Zu Hause angekommen, telefonierte ich mit meiner Mutter und weinte bitterlich. Ich sah mich kaum in der Lage, am nächsten Tag wieder in die Klinik zu fahren, die mit dem Auto fast zwei Stunden entfernt war. Außerdem war mein Kontrollzwang wieder ausgebrochen und ich bildete mir ein, dass in meiner Abwesenheit auch noch unserem Kater etwas passieren würde. Meine Mutter bot mir an, am nächsten Tag zu kommen und den ganzen Tag auf den Kater aufzupassen. Das war eine gute und für mich sehr entlastende Lösung.



Also fuhr ich am nächsten Tag wieder nach Bad Bevensen. Dort angekommen, warst Du auf Deinem Zimmer und als ich am Schwesternzimmer vorbei ging, riefen diese mir zu: „Gehen Sie ruhig durch, er wartet schon auf Sie“. Du warst in Deinem Zimmer und weintest nicht. Ich war freudig überrascht, dass Du sogar vorschlugst, spazieren zu gehen und Minigolf zu spielen.



Gesagt, getan. Wir gingen spazieren, aßen ein Eis, spielten Minigolf und Backgammon und Du aßt alle Blaubeeren auf, die ich mitgebracht hatte. Ab und an flossen Deine Tränen, aber alles in allem, war ich überglücklich und optimistisch, als ich Dich an diesem Abend verließ. Wir waren noch kurz auf Dein Zimmer gegangen und hatten besprochen, dass ich Dich zum Abendbrot bringen würde. Du hattest mir versprochen zu essen. Wir wollten uns kurz und schmerzlos verabschieden, da ich am nächsten Wochenende wiederkommen sollte. Und ich wollte Deine scheinbare Stabilität nicht gefährden.



Hätte ich in irgendeiner Weise geahnt, dass ich Dich an diesem Abend zum letzten Mal lebend sehen würde, ich hätte Dich nie wieder losgelassen. Du warst doch mein Ein und Alles, meine große Liebe, mein Leben.



Ich habe es nicht geahnt und so nahm ich Dich vor dem Speisesaal fest in den Arm, gab Dir einen Kuss und sagte Dir: „Denk´ immer daran, ich liebe Dich!“.



Auf dem Weg nach draußen habe ich mich noch einmal umgedreht und Dich in den Speiseraum gehen sehen. Es ist mein letztes lebendes Bild von Dir.



Ich fuhr überglücklich über den schönen Tag nach Hause und rief Deine Eltern an, mit dem vollen Optimismus, dass alles wieder gut werden würde. Alle freuten sich sehr. In dieser Nacht konnte ich schlafen.



An die beiden Telefonate unter der Woche erinnere ich mich nur schemenhaft. Du hattest zwei Zusammenbrüche gehabt, wolltest aber nicht, dass ich komme, warst verzweifelt und dann doch wieder optimistisch, warfst den Ärzten vor, Dich unter Druck zu setzen und hieltst es dann doch wieder für richtig. Mir war nur eines klar, von dem sonntäglichen Aufschwung war nichts mehr zu spüren. Ich war verzweifelt, aber ich hoffte auf die Kompetenz der Ärzte und die Medikamente. Du batest mich, nicht am kommenden Samstag, sondern nur am Sonntag zu kommen, da einige Mitpatienten Dich überredet hatten, am Samstag mit in die Stadt zu gehen.



Ich hielt mich wie immer an einem Strohhalm fest. Wenn Du wieder soziale Kontakte pflegtest, dann musste es Dir doch besser gehen. Später habe ich mir vorgeworfen, nicht doch am Samstag zu Dir gefahren zu sein oder jemand anderen gebeten zu haben, Dich zu besuchen. Aber erstens wolltest Du außer mir niemanden sehen und zweitens ist es wahrscheinlich größenwahnsinnig zu glauben, dass mein Besuch, Dich von irgendetwas abgehalten hätte.



An den Samstag erinnere ich mich nicht mehr, nur, dass ich mit meiner Mutter ausgemacht hatte, dass sie am nächsten Tag wieder bei mir bleiben würde, damit ich ohne Sorgen und Zwang zu Dir fahren konnte. Ich bot ihr an, gemeinsam zu frühstücken, bevor ich losfuhr. Du wolltest mich erst nach dem Mittagessen sehen.



Meine Mutter kam und wir saßen gemütlich auf dem Balkon. Ich war angespannt, aber ich freute mich darauf, Dich bald wieder in den Armen halten zu können. Was dann geschah, kann ich noch so genau wiedergeben, als wenn es erst gestern passiert wäre.



Es war 09:25 als mein Handy klingelte. Du warst dran und sagtest mir folgendes: „Hallo mein Schatz. Ich möchte nicht, dass Du heute kommst, ich muss in Ruhe nachdenken“. Auf meine Antwort, dass meine Mutter schon da wäre und ich gleich losfahren könnte, antwortetest Du „Es tut mir leid“ und dann ganz langgestreckt und betont „Ich liebe Dich!“.



Ich wunderte mich sehr über Deine Betonung dieser Worte, aber ich bin dankbar dafür, dass mir trotz meiner Verletztheit, dass Du mich nicht sehen wolltest, der von Herzen kommende Satz über die Lippen ging „Ich liebe Dich auch, mein Schatz“.



Ich hatte zum letzten Mal Deine Stimme gehört und heute ist mir klar, dass Du Dich von mir verabschiedet hast. Was für eine kostbare Botschaft Du mir dabei hinterlassen hast, ist mir erst heute klar geworden.



Als ich zu meiner Mutter auf den Balkon ging, weinte ich. In diesem Moment hörten wir die Kirchenglocken und sie fragte mich, ob ich in die Kirche gehen wollte. Erst verneinte ich, dann besann ich mich und bat allerdings darum in meine Gemeinde zu fahren, die außerhalb von Hamburg liegt.



Wir fuhren in die Kirche, lauschten dem Gottesdienst und ich nahm das Angebot wahr, im Anschluss noch für Dich beten zu lassen.



Meine Mutter bat mich, dabei sein zu dürfen. Sie weinte viel, während ich fast ruhig erzählte, dass Du in einer Klinik warst und es Dir sehr schlecht ging.



Als das Gebet für Dich gesprochen wurde, warst Du bereits tot.



Aber das wusste ich noch nicht. Wir gingen ein Eis essen, fuhren zurück nach Hamburg, meine Mutter beschloss, noch eine Viertelstunde bei mir zu bleiben und mich dann in Ruhe zu lassen. Ich weiß, dass in diesem Moment eine höhere Macht dafür gesorgt hat, dass ich zum Zeitpunkt der Überbringung Deiner Todesnachricht nicht alleine war.



Nur kurze Zeit nach dieser Ansage meiner Mutter, klingelte es an der Tür. Obwohl ich nicht verstand, wer sich unten meldete, öffnete ich. Vor mir stand ein Polizist. Zunächst einmal dachte ich, dass wieder mal jemand mein Auto demoliert hatte, wie es in der Vergangenheit schon so oft vorgekommen war. Erst als der Polizist nach meinem Namen fragte und mich bat hereinkommen zu dürfen, wurde mir Angst und Bange. Ich weiß nicht warum, aber als er mich fragte, ob ich Deine Lebensgefährtin sei, war mir alles klar und ich fing an zu schreien. Ich wusste, dass Du Dir das Leben genommen hattest. Blitzschnell rasten die Optionen durch mein Hirn. Ein Autounfall war nicht möglich, da Dein Auto bei mir war. An weitere Unfälle glaubte ich nicht. Und mir war klar, dass Du tot warst, da mich sonst die Klinik angerufen hätte. Aber obwohl ich es wusste, wollte ich es nicht hören.



Meine Mutter flehte den Polizisten an, ihr zu sagen, dass es Dir gut ginge, woraufhin dieser nur erwiderte, dass er nicht wüsste, was passiert sei, aber dass er bestimmt nicht da wäre, um mir eine gute Nachricht zu überbringen.



Er gab mir eine Visitenkarte und sagte mir, dass ich die Polizei in Uelzen anrufen müsste. Das tat ich. Die Sekunden des Wartens kamen mir vor wie Stunden. Ich wurde verbunden und es meldete sich ein Herr Montag. In solchen Momenten spielt die Psyche echt verrückt, denn ich weiß noch, dass ich mir dachte, dass es unlogisch ist, Montag zu heißen, wenn eigentlich Sonntag ist.



Herr Montag sagte immer wieder „Es tut mir leid, Frau Greve, es tut mir leid, Frau Greve“. Ich schrie ihn an, mir zu sagen was ihm leid täte und hörte wie durch einen Nebel und gleichzeitig so unendlich klar die Worte „Herr Hartmann hat sich umgebracht“.





In meinem Kopf hallen diese Worte noch heute nach. „Herr Hartmann hat sich umgebracht“, „Herr Hartmann hat sich umgebracht“. Nie wieder werde ich diese Worte vergessen können und dennoch, obwohl ich es besser weiß, klingen Sie für mich heute noch unwirklich. Ich blicke in den Sternenhimmel, als stünde dort die Lösung auf alle meine Fragen geschrieben. Ein einzelner Stern blinkt und es ist fast, als würdest Du mir zuzwinkern.







Ich nehme mir eine Decke, koche mir einen Tee und setzte mich wieder auf den Balkon. Unser Kater hat sich in seine Kuschelhöhle zurückgezogen und schnurrt zufrieden. Mir läuft in Erinnerung an die gesagten Worte ein eiskalter Schauer über den Rücken.





Es gibt ein Leben vor und ein Leben nach dem Suizid, das ist mir heute klar. Mit dem Überbringen Deiner Todesnachricht, bin ich in einen Schockzustand verfallen, der monatelang anhalten sollte.



Nach dem Telefonat mit der Polizei in Uelzen hatte ich das Telefon einfach ohne weitere Fragen auf das Bett geschmissen. Ich konnte und wollte nicht mehr reden. Ich lief hysterisch schreiend durch die Wohnung, meine Mutter hinter mir her. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, wusste nur eines, ich wollte nicht, dass mich jemand anfasste. Ich wusste genau, dass ich dann zusammen brechen würde. Ich schrie den Polizisten an, sich wieder in Uelzen zu melden, um weitere Details zu erfragen. Er tat es und ich glaube durch ihn erfuhr ich, dass Du Dich mit einem Gürtel an der Garderobe Deines Klinikzimmers aufgehängt hattest. Ich sage, ich glaube, weil ich mich an vieles aus dem nun folgenden Jahr nur noch bruchstückhaft erinnern kann. Vieles ist mir abhanden gekommen, vieles haben mir Menschen später erzählt. Die Psyche ist gnädig, sie schottet uns von allem ab, was zu viel ist. Und doch ist es schockierend zu wissen, dass ich Dinge getan habe, an die ich mich nicht mehr erinnern kann.

 



Der Polizist bot mir an, einen Notarzt zu holen, der mich klinisch einweisen sollte. Ich lehnte vehement ab und schmiss ihn raus. Meine guten Manieren waren mir leider abhanden gekommen. Mir wurde keine Notfallseelsorge oder ähnliches angeboten, wie es immer so schön beschrieben wird. Der Polizist verließ die Wohnung und ließ mich mit meiner Mutter alleine, die ebenso verstört war, wie ich.



Wir riefen meine mittlere Schwester an und einige Freunde, aber ich kann mich an die Gespräche mit ihnen nicht mehr erinnern. Noch nicht einmal erinnere ich mich daran, dass ich einige selber angerufen habe.



Meine Schwester, die selber Ärztin ist, aber auch schwer getroffen war, organisierte einen Notarzt und kümmerte sich darum herauszufinden, wo sie Dich hingebracht hatten. Ich wollte Dich sofort sehen, aber ich durfte nicht. Bei Suiziden muss der Leichnam nach einer Prüfung durch die Staatsanwaltschaft auf Fremdverschulden erst frei gegeben werden. Als wäre der Alptraum für die Angehörigen nicht schon schlimm genug.



In der Zwischenzeit rief mich Dein Therapeut aus der Klinik an und bat mich, am nächsten Tag nach Bad Bevensen zu kommen. Er wollte mit mir reden. Davor hatte ich Deine Eltern angerufen und Deinem Vater hysterisch am Telefon entgegen geschrien: „Dein Sohn hat sich aufgehängt“. Es tut mir so leid, dass ich es Ihnen nicht anders beigebracht habe, aber ich konnte nicht. Ich war nicht mehr ich selbst.



Der Notarzt kam und verschrieb mir Beruhigungsmittel. Ich weiß nicht mehr genau, was er sagte, ich überließ ihn meiner Schwester. Ich konnte nicht ruhig sitzen bleiben. Mein Körper bebte, meine Gedanken drehten sich im Kreis und ich hörte immer wieder „Herr Hartmann hat sich umgebracht“. Es war kein Schmerz, den ich gefühlt habe, es war einfach nur Chaos in mir. Ich fing an zu würgen, mir war schlecht und alles drehte sich. Ich war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.



Nach und nach trafen Freunde und auch Deine Familie ein. Deine Mutter war zu Hause geblieben, aber als ich in die Küche kam, traf ich auf Deinen Vater, Deine Schwester und Deinen Schwager. Ich hielt mich an Deinem Vater fest, wie eine Ertrinkende. Er war ein Teil von Dir und das war alles, was ich wollte.



Der Tag ging zu Ende und ich weiß nicht wie. Meine Mutter blieb über Nacht bei mir, aber ich bekam von der Nacht eh nichts mit. Sie gaben mir ein Beruhigungsmittel und ich schlief.



Oftmals wurde mir später die Frage gestellt, ob ich selber über Suizid nachgedacht habe, in dieser Zeit. Ich glaube nicht. Ich reagierte wie in Trance und konnte nicht mehr klar denken. Ich hatte das Bedürfnis nach der Ruhe, die Du für Dich gefunden hattest, aber ich hatte Angst zu sterben. So sehr ich früher immer gesagt habe, dass Suizid die feigeste Art ist aus dem Leben zu gehen, so sehr glaube ich heute, dass es nicht stimmt. Ich denke, es braucht viel Mut und Verzweiflung, freiwillig aus dem Leben zu gehen. Entweder hatte ich den Mut nicht oder mein Überlebenswille war zu groß. Was auch immer es gewesen sein mag, was mich dazu brachte trotz aller Verzweiflung nicht an Suizid als Ausweg zu denken, hat mich dazu gebracht, das Leben als wertvolles Geschenk zu sehen. Und es tut mir so leid, dass Du, der Du immer so gerne gelebt hast, es nicht weiter annehmen konntest.



Nach einer Nacht unter Beruhigungsmitteln fing ich am nächsten Tag an, sämtliche Freunde und Verwandte über Deinen Tod zu informieren. Ich tat es in den meisten Fällen wohl selber, aber ich kann mich nicht erinnern. Aus Erzählungen weiß ich, dass ich einigen Menschen um 06:00 Morgens die Nachricht Deines Suizides schonungslos beigebracht habe. Es ist erstaunlich, wie alles weiter geht, obwohl die Psyche nicht mehr aktiv anwesend zu sein scheint. Ich war dumpf und mir war schlecht, aber nach wie vor hatte ich keinen Zugriff auf meine Emotionen.



Die Dinge liefen mechanisch ab. Ich habe auch nie darüber nachgedacht zu verheimlichen, dass Du Dir selbst das Leben genommen hast. Mir war damals schon klar, dass ich diese Entscheidung irgendwann einmal respektieren müssen würde und dass es Deine Entscheidung war. So wenig ich verstand, was um mich herum geschah, so sehr war es für mich selbstverständlich, die Wahrheit zu sagen.



Meine Mutter

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