Alles fließt

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Alles fließt
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Nicole Garos

Alles fließt

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kindheitserinnerungen

Licht und Schatten

Was ist der Tod, frage ich mich...

Kapitel 2

Mein Name ist Doreen

Was mir blieb

Meine Lehr- und Wanderjahre

Gerd und Friedrich

Friedrich und ich

Mein Vater

Ich und Friedrich

Es geht rund

Was ist Scham, frage ich mich...

Kapitel 3

Meine Kinder

Verloren, gesucht und gefunden

Heinrich

Was ist Lieben, frage ich mich...

Kapitel 4

Ludwig

Tetanus

Bauernhof

Was ist Besitz, frage ich mich...

Kapitel 5

Zwischenstation

Ankommen in Griechenland

Gythion

Nymphie

Die unbekannte Zysterne

Was ist Realität, frage ich mich…

Kapitel 6

Wir bleiben

Herausforderung

Jiajia

Noch einmal Luis

Was ist Familie, frage ich mich…

Kapitel 7

Trennung

Auf eigenen Füßen

Männer

Was ist Heimat, frage ich mich…

Das kleine Mädchen bei den Steinplatten

Dorle

Harald

Mein Name ist Dorothea

Was ist Glück, frage ich mich…

Kapitel 8

Mein Leben

Kapitel 9

Begegnung

Kapitel 10

Was macht das Leben aus, fragst Du mich…

Impressum neobooks

Kapitel 1

Ich stehe in Nafplion, einem malerischen Städtchen auf der Peloponnes in Griechenland, an einer Straßenecke und warte darauf, bis mich die eiligen Fahrer die Straße überqueren lassen. Noch während ich warte, kommt von der Seite eine ca. 50jährige Frau mit einem jungen Mann im Schlepptau, vermutlich ihr Sohn, auf mich zu.

“Ach Frau Irina, welch Freude, Sie zu treffen. Lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen?”

Verdutzt blicke ich die beiden mich freundlich anlächelnden Menschen an.

"Ich bin nicht Frau Irina, da verwechseln Sie mich wohl.”

Etwas verstört sagt die Frau halb zu mir, halb zu dem jungen Mann gewandt: “Ich hätte schwören können, dass Sie Frau Irina sind.”

Der junge Mann betrachtete mich genau. “Ja, auch ich hätte Sie mit aller Bestimmtheit für Frau Irina gehalten”.

“Wer ist diese Frau?“, frage ich, neugierig geworden.

“Sie ist eine sehr nette Deutsche, die vor vielen Jahren in unser kleines Dorf Didima eingeheiratet hat. Sind Sie Deutsche und haben Sie vielleicht eine Schwester?”

“Nein”, schmunzle ich, “ich bin zwar Deutsche, lebe in Ermioni, doch in Didima kenne ich niemanden.”

Es entwickelt sich ein kurzer, netter Plausch zwischen uns, wobei mich die beiden immer wieder intensiv anschauen, als könnten sie nicht glauben, dass ihnen nicht Frau Irina gegenüber steht.

„Kommen Sie doch mal in unser Dorf und besuchen Sie uns!“, verabschieden sie sich schließlich. Unsere Begegnung geht mir die ganze und auch die folgende Woche nicht mehr aus dem Kopf: “Wer ist diese Frau?”Ich beschließe, der Frage nachzugehen.

Kindheitserinnerungen

Mein Name ist Dorothea, oder auch Doreen oder auch … Ich bin 1936 in Heidelberg geboren. Meine Eltern hatten jüdische Vorfahren, waren aber beide christlich getauft. Ich selbst hätte das Alter von vier Jahren beinahe nicht überlebt. Doch ich hatte Glück. Nur schemenhaft und mit Unterbrechungen kann ich mich an diese ersten Jahre meines Lebens erinnern. Ich erinnere mich daran, dass ich gerne Bilderbücher ansah. Ich erinnere mich auch daran, dass mein Vater eines Nachts plötzlich verschwunden war, bald darauf auch meine Mutter. Ich sehe mich selbst in dieser Zeit in einem Waisenhaus. Ein einziger Satz meiner Mutter aus diesen Jahren hat sich mir bis heute eingeprägt: “Fahre nie mit fremden Menschen mit!”

Dieser Satz war es, der mein Leben zunächst in Gefahr bringen sollte, es mir zu guter Letzt aber rettete. Eines Abends kamen die Soldaten in unser Waisenhaus. Wir Kinder tranken gerade Kakao und einige von uns hatten ganz schokoladenverschmierte Münder. Die Soldaten schlugen, schubsten und traten, sowohl die Betreuerinnen als auch uns Kinder. Und dann, mitten in der Nacht, wurden wir auf einen großen Lastwagen geladen. Ich, ein kleines zierliches Mädchen, saß rechts außen am hinteren Ende des Lasters und erinnerte mich an die Worte meiner Mutter: “Fahre nie mit einem Fremden mit!”

Als der Wagen losfuhr, ließ ich mich deshalb seitlich herunterfallen. Ich landete unsanft neben dem Bordstein. Dann hörte ich, wie der Wagen stoppte und schwere Schritte auf mich zukamen. Ich sah einen großen schwarzen Stiefel mit Nägeln vor meinem Gesicht und hörte gleichzeitig eine Männerstimme im badischen Dialekt rufen: “Lass gut sein, die Grott ist doch eh schon tot.”

Als ich wieder aufwachte, saß ich im Zug. Im Arm hielt mich eine ältere Frau, die mir liebevoll die Wangen streichelte. Mein Gesicht, mein Kopf, meine Glieder, ja mein ganzer Körper war verbunden oder in Gips gelegt. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper. Die alte Frau neben mir brachte mich an einen mir fremden Ort; wie ich im Nachhinein erfuhr, war es das kleine Städtchen Markolsheim im heutigen Elsass-Lothringen. Eine nette russische Ärztin nahm mich in ihre Obhut und behandelte meine Wunden. Ich konnte bleiben und fand mich wieder mit vielen anderen Kindern und Erwachsenen an diesem sicheren Ort. Ein alter Mann, der deutsch und französisch sprach, vermutlich ein Elsässer, erzählte mir in deutscher Sprache Geschichten und brachte mir das Lesen bei. Die Menschen, die Welt waren plötzlich wieder gut zu mir. Mit vielen anderen Kindern war ich in gepflegten Baracken mit Schlafräumen untergebracht, verletzte und nicht verletzte Kinder, zum Teil auch körperlich und geistig behinderte Kinder. In einer Baracke in der Nähe unserer Schlafräume gab es Toiletten und Duschen. Wir wurden gut versorgt, bekamen regelmäßig zu essen und konnten, soweit es uns möglich war, rund um die Baracken spielen. Ab und an gingen wir auch mit einer unserer drei Betreuerinnen in der Nähe an einem kleinen Fluss spazieren. Nicht weit von unserer Anlage war ein Lazarett, in dem verletzte Soldaten behandelt wurden. Diejenigen, denen es schon etwas besser ging, verrichteten kleinere und größere Aufgaben auf unserem Gelände. Ein Name ist mir seit dieser Zeit fest in meinem Gedächtnis eingebrannt. Es ist der des Offiziers Peter Großkreuz. Schon damals als Kind fühlte ich, dass dieser Mann uns auf irgendeine Art und Weise half und uns schützte – ob er dies offiziell oder inoffiziell tat, ich weiß es nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass in regelmäßigen Abständen eine Kolonne von Lastwagen bei uns auf dem Gelände vorfuhr, die mit Lebensmitteln und anderen zum Leben notwendigen Dingen beladen waren. Der Erste, der beim Eintreffen der Lastwagen ausstieg, war grundsätzlich Offizier Peter Großkreuz. Und er war es auch, der schließlich bei unserer Abreise von diesem unseren sicheren Zufluchtsort mit dabei war.

 

Wir - viele, viele Kinder, jedes von uns in eine Decke gehüllt - und unsere drei geliebten Betreuerinnen wurden an einem kalten Tag auf zwei Lastwagen geladen. Wir gingen auf eine lange, nicht enden wollende Reise. Eines späten Nachmittags überquerten wir eine Brücke. Nur kurz nachdem der zweite LKW diese überquert hatte, beobachteten wir entsetzt, wie diese in die Luft flog. Verängstigt drängten wir uns noch enger aneinander. Über Wochen waren wir unterwegs. Immer wieder mussten wir warten, mal aufgrund von Straßensperren, mal wegen Tieffliegern. Wir hungerten und froren und warteten. Doch dann, irgendwann, fuhren wir auf ein großes Haus mitten im Wald zu, auf dem ‘Ferienheim’ stand. Hier durften wir aussteigen. Inzwischen weiß ich, dass die Brücke, die damals hinter uns explodierte, die Rheinbrücke war und das ‘Ferienheim’ im Badischen lag. Dort hielten die Lastwagen, uns wurde heruntergeholfen und wir wurden in das große Gebäude gelotst. Uns wurde Brot und heißer Kakao serviert. Dann legten wir uns, erschöpft und müde, doch gesättigt mit unseren dreckigen Kleidern in unsere warmen Federbetten. Am kommenden Morgen wurden wir das erste Mal nach Wochen gebadet und uns wurden die verlausten Haare geschoren – es war ein kleines Wunder. Wir planschten, sangen und jauchzten, immer zwei in einer Wanne.

In diesem Heim ging es uns Kindern wieder gut. Wir bekamen regelmäßig zu essen und alles war friedlich. Bald bekamen wir auch Schulunterricht. Unser Gebäude durften wir aber nur selten verlassen und wenn, war es uns nur für kurze Zeit erlaubt in eine bestimmte Richtung spazieren zu gehen, wobei wir uns leise verhalten mussten. Es kam mir so vor, als ob wir versteckt, geheim, unter dem Schutz einer unbekannten Person standen.

Nur wenige Tage nach unserer Ankunft kam eine Frau ins Heim und stellte sich als meine Mutter vor. Ich sah sie skeptisch an. Woher sie wusste, dass ich hier war, ich weiß es bis heute nicht. Sie brachte Kleidung mit, die sie aus alter Militärbettwäsche für uns Kinder genäht hatte. Und sie blieb als Hilfskraft für ein, zwei Wochen mit im Heim und half dort im Haushalt mit. Als meine Mutter habe ich sie aber nicht wirklich wahrgenommen; ich blieb ihr gegenüber distanziert und konnte keine nahe Beziehung zu ihr aufbauen, was auch daran lag, dass auch sie nicht wirklich den direkten Kontakt zu mir suchte. Sie war für mich wie eine der anderen Haushälterinnen des Heims.

Eines Tages zwischen Weihnachten und Neujahr wies uns unsere Hausmutter Madam Maria darauf hin, dass Frau Lisa, wie man meine Mutter nannte, uns wieder verließ. An einer Hintertür des Hauses verabschiedete sie sich von mir und ging hinaus ins Schneetreiben, wo sie nicht weit entfernt von einem bereits wartenden Mann abgeholt wurde. Noch an der Tür schenkte sie mir ein blaues Halstuch mit roten Mohnblumen. Doch ich mochte es nicht, es roch so seltsam.

Meine Mutter kam lange nicht wieder. Einmal kurz tauchte sie erneut auf und schenkte mir einen kleinen roten Ring mit einem goldenen Stein, dann verschwand sie wieder.

Irgendwann, an einem warmen Frühlingstag kamen eine ganze Reihe LKWs vorgefahren, Soldaten stiegen aus und kamen zu uns ins Heim. Die fremden Männer und Frauen in Uniform machten uns Kindern Angst. Unsere Betreuerinnen erklärten uns aber, dass nun der Krieg zu Ende sei und wir uns nicht mehr fürchten müssten.

Einer der Soldaten sprach Deutsch, alle anderen eine andere Sprache. Doch ich verstand sie. Diese Sprache war mir vertraut. Das war ein seltsamer, eigenartiger Moment für mich. Und ich verstand diese Fremden nicht nur, ich konnte ihnen auch in ihrer Sprache antworten. Erst später erfuhr ich, dass in den Jahren meiner frühesten Kindheit meine Eltern zu Hause untereinander und mit mir Englisch sprachen. Die Soldaten fragten mich: ‘Wer seid ihr?” “Wir sind Kinder”, antwortete ich ihnen, was die Männer und Frauen schmunzeln ließ. Zu unser aller Erleichterung waren sie sehr freundlich zu uns. Sie fragten mich, ob wir gerne Schockolade hätten und was wir sonst gerne essen. Dann brachten sie aus ihren Wagen Pakete mit den tollsten Köstlichkeiten und packten unsere Tische voll mit den unterschiedlichsten Lebensmitteln: Kakao, Schockolade, Milchpulver. Von diesem Tag an aßen wir wie die Fürsten. Jeden Abend kamen Jeeps mit Soldaten und brachten uns Lebensmittel. Alle wollten mit uns sprechen, um zu erfahren, wo wir herkommen. Unsere Betreuerinnen waren zurückhaltend und etwas misstrauisch, doch sie nahmen die angelieferten Lebensmittel an. Dann kam unerwartet auch meine Mutter wieder, und diesmal nahm sie mich einfach mit. Wir liefen lange, lange zu Fuß, einen ganzen Tag lang, dann fuhren wir ein Stück mit der Straßenbahn und kamen schließlich im Zentrum einer großen, zerstörten Stadt an. Meine Mutter erklärte mir, es sei Mannheim. Ich erinnere Ruinen, schrecklich zerstörte Häuser, Dreck und Staub. Durch die Stadt irrten viele Menschen, teils zu Skeletten abgemagert, teils mit all ihrem Hab und Gut auf dem Rücken, teils auch Kinder ohne Eltern. Wir hatten nichts zu essen. Ich, ein Mädchen, etwa neun Jahre alt, weinte. Ich konnte nicht verstehen, wieso mich diese Frau, die sich meine Mutter nannte, von einem so sicheren und geborgenen Ort, unserem Ferienheim, fortgeholt hatte.

Die nächsten Tage und Wochen kamen wir in verschiedenen Wohnungen bei Bekannten meiner Mutter unter. Überall waren viele Menschen in wenigen Räumen zusammengepfercht, nirgendwo konnten wir länger bleiben. Einige wenige Male schliefen wir sogar im Freien, in eine Ecke gekauert; oft gab es auch nicht genug zu essen. Des Nachts ließ mich meine Mutter oft alleine in den fremden Behausungen, in denen wir untergekommen waren.

“Ich war in einer Bar singen”, erklärte sie mir an den darauf folgenden Morgen, doch die ganze Wahrheit habe ich trotz meiner jungen Jahren errochen. Meine Mutter roch, nein, sie stank nach Männern, nach dreckigem Schweiß von Männern.

Eines Tages brachte sie mich schließlich, ohne genaue Erklärung, zurück ins Heim. Ich hatte das Gefühl, sie war unzufrieden mit mir und ich fühlte mich deshalb schuldig, war gleichzeitig aber heilfroh, wieder dort zu sein.

Weiterhin kamen oft, wie ich inzwischen wusste, amerikanische Soldaten vorbei, um uns mit Lebensmitteln zu versorgen. Eines Tages nahmen sie außerdem von jedem von uns Kindern ein Foto auf. Heute weiß ich, dass dies im Rahmen des UNRA Suchdienstes stattfand, einer Organisation des damaligen Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Unsere Portraits wurden mit dem Titel “Kind sucht seine Mutter” in allen großen Städten Deutschlands ausgehängt, in der Hoffnung, so Familienangehörige von uns auf uns aufmerksam zu machen. Eines Nachmittags kam tatsächlich eine alte, freundliche, doch sehr bestimmt auftretende Dame zu uns in den Speisesaal. Ihr folgte … meine Mutter. Mir stockte der Atem. Die alte Dame diskutierte mit meinen Betreuerinnen und stellte sich als meine Großmutter vor. Sie hätte mich auf einem der Bilder des UNRA Suchdienstes erkannt und nun wollten sie mich mitnehmen. Meine Betreuerinnen sahen meine Mutter verächtlich an: “Ach, wollen Sie sie jetzt doch wieder abholen?” Meine angebliche Großmutter betrachtete daraufhin meine Mutter zunächst verwundert, dann verärgert und streng. Die Art, wie diese Frau mit meiner Mutter umging, gefiel mir.

Als ich, die ich die ganze Szene aufmerksam von meinem Platz aus verfolgt hatte, gerufen wurde und schüchtern auf sie zuging, beugte sich die alte Dame zu mir herunter und umarmte mich herzlich. Sie nannte mich “mein Herzkirscherle” - und ich fasste Vertrauen zu ihr.

Licht und Schatten

In den kommenden Jahren sollten diese zwei Frauen für mein Leben von großer Bedeutung sein, meine Mutter und meine Großmutter. Während meine Mutter mir Abgründe vor Augen führte, erlebte ich meine Großmutter immer als einen Engel auf Erden. Allzuviel weiß ich über das Leben meiner Mutter nicht. Sie soll eine sehr kluge Frau gewesen sein, die eine gute Schule besucht hatte und sich in sieben Sprachen verständigen konnte. Zudem war sie eine sehr schöne Frau, groß gewachsen, schlank, mit pechschwarzen Augen und schwarzem Haar. In den Jahren des Krieges hatte sie für den deutschen Admiral Wilhelm Franz Canaris gearbeitet, der heimlich für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus tätig war. Welche Rolle mein Vater im Leben meiner Mutter gespielt hat, ob sie ihn geliebt hat, weiß ich nicht.

Meine Großmutter war und ist für mich das Idealbild einer Frau. Geboren Ende des 19. Jahrhunderts war sie nach der Jahrhundertwende eines der ersten Mädchen gewesen, das in Konstanz Abitur gemacht hat. Sie wollte eigentlich Journalistin werden, was ihr durch eine plötzliche, heftige Krankheit nicht möglich war. Nach dem Krieg arbeitete sie schließlich als Schneiderin und Näherin. Sie war immer schick, elegant, konnte aus jedem Lappen ein Abendkleid nähen. Auch ein Satz meiner Großmutter begleitete mich durch mein Leben: “Kind, wenn Du Geld hast für ein Brot oder ein Buch, dann kaufe Dir ein Buch.”

Die Betreuerinnen des Ferienheims stimmten der Aufforderung meiner Großmutter zu, sie packten meine wenigen Habseligkeiten zusammen, und gemeinsam mit den beiden Frauen fuhren wir noch am selben Tag nach Heidelberg. Dort kamen wir zunächst für wenige Tage in einem Gasthaus unter. Da meine Mutter nun, durch die UNRA Suchaktion, Papiere für mich in der Hand hatte, konnte sie eine Aufenthaltsgenehmigung für mich erwerben. Damit verbunden waren Lebensmittelkarten und ein Schein vom Wohnungsamt, dass wir das Recht hatten, ein Zimmer zu bewohnen. Wir bekamen eines im Hinterhaus eben der Gastwirtschaft, in der wir zunächst untergekommen waren. Dort wohnte ich von da an mit meiner Mutter. Meine Großmutter ging zurück in ihre kleine Wohnung in einem Vorort von Heidelberg.

Das Leben mit meiner Mutter war kein Zuckerschlecken.

Nein, ich habe keine schönen Erinnerungen an diese Zeit. Allein, wenn ich den Geruch erinnere, den das Gebäude, in dem wir wohnten, umgab, insbesondere aber das Zimmer, in dem ich mit meiner Mutter hauste, wird mir übel - und ich erschauere vor Ekel. Unser Zimmer roch bis in die letzte Ritze nach Schweiß und überall lag schmutzige Wäsche. Meine Mutter ging weiterhin des Nachts “zum Singen” in Bars und kam oft in Begleitung mitten in der Nacht zurück. Nach wenigen Wochen nahm sie auch mich auf ihren nächtlichen Touren mit. Ich saß dann in rauchigen Kneipen auf einem kleinen Barhocker am Rande und sah meiner Mutter beim Singen und Tanzen zu … und später holte sie mich, die ich seit dem Vorfall im Rinnstein wegen eines verkürzten Beines hinkte, mit auf die Bühne. Und ich wurde aufgefordert zu singen und zu tanzen. Noch heute fällt es mir schwer, nur daran zu denken. Es war so demütigend für mich. Ich, ein Mädchen im Alter von etwa zehn Jahren, fühlte mich in diesen Situationen erschreckend würdelos; ich fühlte mich unsittlich begafft, ich fühlte mich auch bemitleidet, wobei ich nicht weiß, was schlimmer für mich war. Ich weiß nur, ich hatte Sehnsucht nach dem Kinderheim, nach einer heilen Welt.

Meine Mutter präsentierte mich, setzte mich dann wieder auf meinem Barhocker ab und widmete sich schließlich dem Ziel, einen Mann für die Nacht zu angeln. Oft erst in den frühen Morgenstunden kehrten wir - meine Mutter meist in Begleitung - nach Hause zurück und während ich den Schlaf nur so ersehnte, nichts mehr hören und sehen wollte, ging es im Nebenbett zur Sache. Auch tagsüber empfing meine Mutter ab und an Freier, wobei ich zum Spielen nach draußen geschickt wurde bzw. im Nebenbett versuchte zu schlafen. Gefühle von Scham quälten mich, wobei ich nicht einmal genau verstand, warum.

 

Ein Schicksalsschlag errettete mich nach knapp eineinhalb Jahren aus dieser schrecklichen Zeit. Ich wurde krank. Mein eigentlich gesundes Bein brach am Schienbein auf und stinkender Eiter tropfte. Meine Mutter musste mich ins Krankenhaus bringen, wo zunächst die offenen Stellen gesäubert wurden. Ein großgewachsener, stattlicher Arzt, dem ich vom ersten Moment an vertraute, kümmerte sich um mich und diagnostizierte Hauttuberkolose, verursacht durch unhygienische Verhältnisse. Man behielt mich im Krankenhaus. Das war das Paradies für mich. Ich bekam ein sauberes Bett, konnte schlafen soviel ich wollte und bekam regelmäßig etwas zu essen. Es dauerte nicht lange, da kam meine Großmutter zu Besuch, die erst jetzt das eigentliche Leben meiner Mutter zu begreifen schien. Sie ließ mich von nun an nicht mehr aus dem Auge. Sie erkundigte sich bei dem netten Arzt über meinen gesundheitlichen Zustand und die beiden vereinbarten, nach der Ausheilung der Tuberkulose auch die noch ausstehenden, durch den Vorfall im Rinnstein notwendigen Eingriffe nachträglich vorzunehmen.

So blieb ich über Wochen im Krankenhaus; es wurde eine Operation an meiner Nase und eine an meinem verkürzten Bein vorgenommen. Ich bekam von nun an eine Schiene. Parallel zu diesen Behandlungen organisierte meine Großmutter eine Ballettlehrerin, die sich bereit erklärte, mir kostenlos durch wöchentliches, hartes Training zu helfen, dass ich die notwendige Stütze irgendwann ganz los sein konnte. So kam es auch.

Nach meinem Krankenhausaufenthalt hatte meine Großmutter dafür gesorgt, dass ich die Grundschule abschließen konnte und schließlich auf ihre Kosten das humanistische Gymnasium besuchen durfte. Das war ein großes Geschenk für mich und rettete mich in der Zeit nach meinem Krankenhausaufenthalt, als ich wieder bei meiner Mutter lebte. Was mich in dieser Zeit rettete, waren die Bücher, die ich heimlich unter der Bettdecke oder versteckt in der Hundehütte neben meinem geliebtem Schäferhund im Hinterhof las. Was mich in dieser Zeit rettete, waren zu guter Letzt die Nachmittage, an denen ich meine Großmutter besuchen konnte, wobei ich 10 km zu Fuß auf mich nehmen musste, um zu ihrer kleinen Wohnung in dem Heidelberger Vorort Neckargemünd zu gelangen. Dort pflückten wir gemeinsam Blumen oder meine Großmutter lehrte mich das Nähen an der Nähmaschine, und oft gab sie mir auch ein bisschen Geld mit, damit ich mir in der Leihbibliothek Edelmann am Bismarckplatz neue Bücher ausleihen konnte. Meine Großmutter hatte nun, trotz der räumlichen Distanz, immer ein schützendes Auge auf mich. Nie mehr versuchte meine Mutter, mich auf ihren nächtlichen Touren durch die Bars der Stadt mitzunehmen.

Als ich schließlich knapp zwölf Jahre alt war, überstürzten sich die Ereignisse erneut. Meine Mutter war von einem ihrer Freier schwanger geworden und brachte ein kleines Mädchen zur Welt - Heidi, meine Halbschwester. Während wir die ersten Monate alleine auf uns gestellt waren und ich mich stundenlang um den Säugling kümmern musste, zog schließlich meine Großmutter zu uns. Sie bezog inzwischen Rente. Doch es gab noch einen zweiten Grund für ihr Kommen. Meiner Mutter war Krebs diagnostiziert worden. Von nun an wurden wir Kinder also von meiner Großmutter versorgt, während meine Mutter zeitweise im Krankenhaus war, ansonsten zu Hause, aber mit der Zeit immer schwächer wurde. Wir wohnten nun zu viert in dem kleinen Zimmer im Haus hinter der Gastwirtschaft und lebten von der kleinen Rente meiner Großmutter und von Sozialhilfe.

Irgendwann in dieser Zeit hatten wir das große Glück, dass uns das Sozialamt eine kleine Wohnung am Rande von Heidelberg zuwies. Diese Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, einem Wohnzimmer, einer Küche und einem richtigen Badezimmer mit Toilette und Badewanne. Bis auf ein Bett für meine Mutter und ein kleines Kinderbett für meine Schwester war die Wohnung noch unmöbliert. Aber das war mir egal, sie bedeutete die Erlösung für mich.

Und das Glück sollte anhalten. Eines schönen Tages, als ich von der Schule nach Hause kam, erzählte meine Großmutter mir mit leuchtenden Augen, sie hätte eine Überraschung für mich. Und diese Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Nur wenige Stunden später fuhr ein Pferdefuhrwerk vor und zwei kräftige Männer begrüßten uns. Sie forderten mich auf, doch mal mitzukommen um zu sehen, was sie mitgebracht hätten - und meine Großmutter nickte mir zustimmend zu.

Und da stand ich dann hinter dem Pferdefuhrwerk, durfte unter die Plane blicken, die den Inhalt versteckte und war sprachlos. Fest geschnürt auf dem Pferdefuhrwerk waren eine wunderschöne Cordcouch, ein Sessel und ein kleiner Wohnzimmertisch – all das sollte von nun an uns gehören. Schon beim Anblick fühlte es sich an, als hätte ich das Paradies betreten. Doch die beiden freundlichen Männer hatten noch ein besonderes Geschenk für mich: ein Bücherregal. Es sollte all die Bücher beherbergen, die ich die letzten Jahre angesammelt hatte und gewöhnlich unter oder neben meiner Schlafstätte lagerte. Ich wusste nichts zu sagen, strahlte nur und ich schien zu schweben. Diesen Tag erinnere ich als einen, der alle Festtage auf einmal für mich bedeutete.

Während meine Mutter nun im Schlafzimmer ihr Krankenbett stehen hatte, schlief ich im Wohnzimmer auf der Cordcouch, meine Großmutter auf dem Boden und meine kleine Schwester in ihrem Bettchen. So verging die Zeit und meine Mutter wurde immer schwächer; irgendwann bekam sie Morphium und war von da an nicht mehr wirklich ansprechbar.

Eines Tages schließlich kam ich von der Schule nach Hause, ich war inzwischen 14 Jahe alt und meine Großmutter saß weinend am Wohnzimmertisch. “Deine Mutti ist gestorben.”, sagte sie unter Tränen zu mir. Ich ging in ihr Schlafzimmer. Die letzte Erinnerung an sie: eine unschöne, zermarterte Gestalt – tot.

Und da stand ich und begann zu lachen. Ich lachte hysterisch, lachte und konnte nicht aufhören damit, auch am nächsten Tag nicht, als meine Großmutter auf einfachste Weise eine Trauerfeier für meine Mutter organisiert hatte. Ich lachte und lachte und lachte, tagelang – bis meine Großmutter mir eine scheuerte. Da stoppte das Lachen, und während sie mich in die Arme nahm, schluchzte ich auf und endlich flossen die Tränen.

Kurze Zeit nach dem Tod meiner Mutter besuchten uns ferne Bekannte von ihr, deren Tochter keine eigenen Kinder bekommen konnte. Nach Absprache mit meiner Großmutter nahmen sie meine Halbschwester als Pflegekind in ihre Familie auf. So war ich schließlich mit meiner Großmutter alleine. Doch leider sollte diese Zeit nicht lange andauern – genau ein Jahr. Als ich 15 war, erkrankte auch meine geliebte Großmutter. Alles ging sehr schnell. Sie hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, kam ins Krankenhaus und starb dort nur wenige Wochen später. Im Augenblick ihres Todes war ich bei ihr.