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Was ist der Tod, frage ich mich...

Für mich bedeutet der Tod das andere Leben.

In den jungen Jahren meiner Kindheit, in denen ich häufig durch den Krieg mit dem Thema Tod in Berührung kam, machte ich mir keine wirklichen Gedanken um ihn. Er war für mich ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Beim Tod meiner Mutter kam ich das erste Mal direkt mit ihm in Berührung. “Ist das alles?”, fragte ich immer wieder den toten Körper, der da vor mir lag: “Ist das alles?” Ich bekam keine Antwort. Und es mag hart klingen, doch der Tod meiner Mutter war für mich eine Art Erlösung.

Die zweite Begegnung mit dem Tod, das Sterben meiner Großmutter, war eine ganz andere Erfahrung. Das Abschiednehmen ihrer Seele von dieser Erde empfand ich als großen Verlust, als hätte man ein Stückchen meiner selbst abgesägt. Ein Stück, das immer fehlen sollte. Und bei jedem weiteren geliebten Menschen, der in späteren Jahren von mir gehen sollte, ging es mir ähnlich.

Doch ganz verloren war meine Großmutter mir auf meiner weiteren Lebensreise nicht, immer wieder kommunizierte ich mit ihr in Gedanken - und oft schien es mir, als würde ich sie von weitem irgendwo auf der Straße vor mir laufen sehen oder sie in einer Menschenmenge entdecken.

Viele, viele Jahre später hatte ich durch eine Tetanusinfektion eine Nahtoderfahrung - ich war für wenige Minuten tot, ehe es den Ärzten gelang, mich wieder ins Leben zurückzuholen. Seitdem habe ich keine Angst mehr vor dem Tod. Er ist für mich eine weitere Reise, ein weiterer Ortswechsel, wie ich sie vielfach in meinem Leben unternommen habe. Eine Reise in ein Land, das ich noch nicht kenne. Es ist die große Reise in ein anderes Leben, das keine Schmerzen kennt, weder innen noch außen.

Kapitel 2

Ich sitze in einem meiner Lieblingskaffees im Zentrum von Ermioni. Hierher zieht es mich jeden Morgen nach einem kurzen Spaziergang durch den schattigen Pinienhain. Oft begegne ich hier am Hafen auch anderen Bewohnern des Dorfs, die an den Vormittagen Zeit haben. Dann sitzen wir gemütlich bei einer Tasse Kaffee zusammen, genießen die griechische Sonne und ich erfahre die Ereignisse vor Ort der letzten Tage.

Ganz selten sitze ich aber auch alleine hier und nippe an meinem Kaffee. So heute, doch das kommt mir gelegen, denn ich habe gerade kein Ohr für die Neuigkeiten der Umgebung. Seit der seltsamen Begegnung vor wenigen Tagen in Nafplion, der ich vielleicht mehr Bedeutung zuweise, als ihr zusteht, geht mir so einiges durch den Kopf. Sequenzen meines inzwischen 78 Jahre langen Lebens laufen wie ein Schwarz-weiß-Film, der schon lange, lange nicht mehr gespielt wurde, vor meinem inneren Auge ab. Während ich nachdenklich dasitze, klopfst Du überraschend auf den Tisch. “Hey, guten Morgen, hast Du geträumt?”

Ich lächle Dich erfreut an. Welch ein Zufall? Ja, Dich fühle ich gerade richtig hier für mich. Und Du, die Du eigentlich um diese Uhrzeit nie die Ruhe für einen Kaffee hast und mich auch nie bei meinem Morgenspaziergang begleitest, setzt Dich zu mir.

“ Was bewegt Dich?”, fragst Du mich auch gleich ganz direkt - und ich beginne zu erzählen. Ich erzähle Dir von der seltsamen Begegnung in Nafplion, die mich zu den unterschiedlichsten Spekulationen verleitet.

Du sitzt da und schaust mich ernst an: “Ja, diese Frau solltest Du einmal aufsuchen.”, bekräftigst Du mich in meiner fixen Idee. Und es ist, als öffnetest Du damit all die Tore meiner Gedanken und Erinnerungen, die mir seit den letzten Tagen durch den Kopf gehen. Gedanken werden zu Worten und entschlüpfen meinem Mund. Ich beginne zu erzählen, von Anfang an, vom Beginn meines Erinnerns. Mit konzentriertem Blick hörst Du zu und unterbrichst mich nicht – nur wenn ich stocke, fragst Du nach. Und als ich Dir schließlich all meine Kindheitserinnerungen wiedergegeben habe, bist Du noch nicht müde geworden. Du forderst mich stattdessen auf fortzufahren und weiterzuerzählen.

Mein Name ist Doreen

Ich war schon von klein auf ein sehr “widerborstiges” Kind, wie mir immer gesagt wurde - und je älter ich wurde, um so eigensinniger wurde ich und lernte, das Leben zu nehmen wie es kam und mich durchzuschlagen.

In der Schule, einem Jungengymnasium, wurde ich von meinen Mitschülern und auch von meinen Lehrern respektiert, obwohl ich das einzige Mädchen in der Klasse war, eine Beinschiene tragen musste und humpelte und trotz, dass ich sehr zierlich war.

Ich war ein aufmüpfiges, neugieriges und selbstbewusstes Mädchen. Und ich war eine sehr gute Schülerin und liebte die Schule, wobei meine Glanzleistungen meinem Fleiß, vor allem aber meiner Neugier und meiner Wissbegier zu verdanken waren. Durch meine Verletzungen konnte ich keinen Sport treiben, über viele Jahre nicht schwimmen; so verbrachte ich meine gesamte freie Zeit mit Lesen, wobei schon damals mein Motto war: “Alles was gedruckt ist, ist für mich gedruckt.”

Gleichzeitig hatte ich einen eigenen, manchmal sehr störrischen Kopf. Deshalb wäre ich zweimal fast von der Schule geflogen. Einmal hatte ich eigenwillig für mich entschieden, den gängigen Kleidungsstil für Mädchen abzulegen. Ich schnitt mir die langen Zöpfe ab - und statt des erwarteten Rockes trug ich Jeans und T-Shirt, welche mir meine amerikanische Freundin Judy vermacht hatte. Die Lehrer nahmen meinen Aufzug mit hochgezogenen Augenbrauen hin, doch in der Pause kam es schließlich mit einem Jungen aus der Parallelklasse, der mich hänselte, zur Rangelei.

Wir wurden beide zum Direktor gerufen und ein Verweis von der Schule stand zur Debatte. Am nächsten Tag sollte das gesamte Lehrerkollegium darüber abstimmen. Wir warteten nervös vor der Tür auf das Ergebnis der Abstimmung. Durch die Tür hörte ich meinen Klassenlehrer argumentieren: “Wenn sich unsere Schule erlauben kann, die Schulbeste zu schmeißen, wo kommen wir da hin?“

So kam ich schließlich mit einer schriftlichen Verwarnung und einem Brief an die ‘Eltern’ davon.

Die zweite Abmahnung war weniger dramatisch. Der in der Nachkriegszeit aufkommende Traum eines vereinten Europas begeisterte auch mich - und ich äußerte diese Meinung durch den erworbenen grün-weißen EU-Wimpel, den ich stolz vorne an meinem Fahrrad befestigte und es so auf dem Schulhof abstellte. Da es zu dieser Zeit verboten war, Politisches im Rahmen der Schule zu äußern, wurde ich verwarnt. Ich wurde aufgefordert, den Wimpel zu entfernen, sonst hätte es schwerwiegende Konsequenzen für mich. Ich entschied mich natürlich für die Entfernung des Wimpels. Die Möglichkeit des Schulbesuchs war mir heilig.

Leider musste ich nach dem Tod meiner Großmutter das humanistische Gymnasium verlassen, da meine Schulgebühren unbezahlt blieben. Die Bemühungen meines Klassenlehrers um ein Stipendium für mich führten ins Leere, und ich musste von nun an eine einfache Volksschule besuchen, um meine Schulpflicht abzusitzen.

Was mir blieb

So stand ich im Leben vollkommen alleine da, und ich fühlte mich sehr verloren. Doch in den letzten Jahren und im Leben zwischen den für mich gegensätzlichen Welten meiner Mutter und meiner Großmutter hatte ich viel gelernt. Insbesondere die Weisungen meiner Großmutter haben bis heute lebenswichtige Bedeutung für mich. Sie entstammen tieferem Ursprung – wobei ich sie im Rahmen einer weitreichenden Familientradition einordne und insbesondere mit dem Judentum verbinde, mit dem ich mich durch die Erziehung meiner Großmutter identifiziere.

Geht man den Spuren meiner Ahnen nach, reichen diese bis nach England zurück, dann nach Spanien und schließlich nach Deutschland. Der Großvater meiner Großmutter, ein Jude, war von Spanien nach Deutschland emigriert. Sein Sohn, mein Urgroßvater, hatte sich schließlich taufen lassen, um seine Frau, eine Katholikin, heiraten zu können. Doch seine Frau, die ihn, den Erzählungen meiner Großmutter nach, sehr liebte, lebte für ihn innerhalb der Familie die Traditionen des Judentums weiter, und die beiden erzogen auch ihre Kinder nach den Leitregeln des Judentums. So kam es, dass meine Großmutter zwar selbst altkatholisch getauft war, im Alltag aber streng jüdischen Wertsätzen folgte. An den hohen katholischen Festtagen ging sie dann zwar, wie es sich gehörte, in die Kirche. Aber einmal sagte sie zu mir: “Sie können mir äußerlich draufschreiben, was sie wollen, innerlich fühle ich mich als Jüdin.”

Nach dem Krieg gab meine Großmutter auch mir die Lebensregeln weiter, die sie mit dem Judentum verband. Meine Großmutter war nicht nur die, die mir den Glauben an das Gute im Menschen mitgab, den Glauben an die Würde jedes einzelnen von uns. Sie war es auch, die immer auf die Treue zu sich selbst bestand und keine Lüge duldete. Sie war diejenige, die mir beibrachte, mit den einfachsten Dingen zufrieden zu sein und lehrte mich die Wichtigkeit der Bildung, die sie mir zu ermöglichen versuchte. Gemeinsam lasen wir das Alte Testament und die Tora, und auch die jüdischen Festtage hatte meine Großmutter im Rahmen des möglichen mit mir gefeiert, so das jüdische Neujahr und das Laubhüttenfest.

Auch im alltäglichen Leben gab sie mir viele konkrete Regeln mit, die mir das Überleben im Chaos meiner frühen Jahre vereinfachten. Es handelte sich um einfache Essvorschriften und Vorschriften der Sauberkeit. Ich habe nie einer jüdischen Gemeinde angehört, nie eine Synagoge besucht, erst Jahre später habe ich mich detailierter mit dieser Religion beschäftigt – und dennoch fühle und bezeichne ich mich als Jüdin.

 

Meine Lehr- und Wanderjahre

Nur wenige Tage nach dem Tod meiner Großmutter stand 'das Jugendamt' vor unserer Wohnung in der Heidelberger Vorstadt, in der in diesen schwierigen Tagen eine Bekannte meiner Großmutter für mich da war. Die Angestellten des Jugendamtes nahmen mich mit und brachten mich in ein Heim für junge Mädchen. Die Zeit in diesem Jugendheim, es mögen zwei, drei Monate gewesen sein, erinnerte mich an die Zeit in dem Zimmer mit meiner Mutter. Die Mädchen, alle aus schwierigen Verhältnissen, büchsten so gut wie jede Nacht aus unseren Räumen aus und kamen erst in den frühen Morgenstunden zurück. Mit sich brachten sie den mir so vertrauten, aber auch vor Ekel zum Erschauern bringenden Geruch nach Zigaretten, Alkohol, nackter Haut. Ein täglich von mir ersehnter Gegenpol war die Stunde vor dem Abendessen, in der wir gemeinsam mit den evangelischen Schwestern sangen und beteten.

Und dennoch mag ich mich insgesamt über diese Zeit nicht beschweren, war ich doch sowohl von den Mädchen als auch vom Personal des Heims als 'Spatz' angenommen.

Das Jugendamt bestimmte dann aber ein zweites Mal meinen kommenden Lebensweg. Eine ältere wohlhabende Dame, die selbst schon drei erwachsene Söhne hatte, wollte gerne ein junges Mädchen bei sich aufnehmen. Die Mitarbeiter des Jugendamts wählten mich aus, und Frau Schmidt und ihre Freundin Frau Hummel waren gut zu mir. Die beiden eröffneten mir eine Welt, die ich bisher nicht gekannt hatte, die ich mir aber immer erträumt hatte – eine Welt, die mir meine Großmutter als die Wirklichkeit beschrieben und in derem Sinne sie mich erzogen hatte. So fand ich mich leicht in dieser für mich ‘gehobenen Gesellschaft’ ein, kannte deren Manieren.

Frau Schmidt hatte eine schöne Wohnung, in der ich ein eigenes Zimmer bekam. Der Haushalt wurde durch eine Haushälterin erledigt. Frau Schmidt behandelte mich immer freundlich und herzlich und sie verwöhnte mich nach Strich und Faden. Mit ihr lernte ich viele wunderschöne Freizeitbetätigungen kennen; wir gingen gemeinsam ins Kino, ins Theater oder zu Konzerten. Frau Schmidt besaß ein kleines Kleidungsgeschäft, in dem oft Frau Hummel aushalf. Diese beeindruckte mich vom ersten Tag an. Oft saß ich mit ihr gemeinsam im Laden und wir redeten. Wir redeten über Bücher, über Musik und über Gott und die Welt. Von Frau Hummel fühlte ich mich verstanden, sie hörte mir zu und nahm mich ernst. Jeden Abend nach Ladenschluss aßen wir zu dritt in Frau Schmidts Wohnung. Bald durfte ich auch im Laden mitwirken, ab und an den Laden hüten und schließlich auch eigene Ideen einbringen, so z.B. das Schaufenster dekorieren.

Inzwischen hatte ich, die ich mich in der Volksschule einfach verweigert hatte, mein Abgangszeugnis erhalten und die Frage der Berufswahl stand zur Debatte. Gemeinsam mit Frau Schmidt kamen wir auf die Idee, dass mir das Hotelfach gefallen könne, wobei sie mir auf Grund von Beziehungen zum besten Hause in Heidelberg, dem Parkhotel Europa, einen Ausbildungsplatz verschaffen konnte. Ich wollte als Köchin anheuern und begann ein Praktikum in der Küche. Doch die körperlich schwere Arbeit dort, zwischen großen Töpfen, war nicht wirklich für mich zierliches Mädchen bestimmt.

“Spatz, so geht das nicht”, stellte nach wenigen Tagen der Chefkoch fest, “du fällst mir ja noch in den Suppentopf.”

Als klar war, dass die Ausbildung in der Küche nicht für mich geeignet war, trafen Frau Schmidt, das Jugendamt und der Hotelmanager zusammen und besprachen, was zu tun sei. Einmal mehr wühlte das Jugendamt in meinen Akten und bestimmte ein drittes Mal meinen Lebensweg, indem es herausfand, dass meine Großmutter einen Betrag von 5000 Mark gespart und hinterlassen hatte. So fiel die Entscheidung, dass mir mit diesem Geld eine Ausbildung an der Hotelfachschule in Bad Reichenhall bezahlt werden sollte. Ich musste also die traute Obhut im Hause Frau Schmidts und von Frau Hummel verlassen und zog nach Bad Reichenhall in das Ausbildungsinternat. Zu Frau Schmidt behielt ich noch einige Zeit Kontakt, bis sie zu ihrem zweiten Sohn nach Amerika zog.

Bad Reichenhall sollte nur ein kleiner Zwischenstopp meines Lebens sein. Doch die Schule und die verschiedenen praktischen Lernfächer des Hotelfachs machten mir Spaß. Nach nur drei Monaten mischte sich aber erneut das Jugendamt ein. Da das zunächst aufgetane Geld meiner Großmutter dafür gebraucht wurde, entdeckte Schulden zu begleichen, konnte mir die Schule in Bad Reichenhall nicht weiter finanziert werden.

Ich wurde erneut auf Reisen geschickt – diesmal mit Ziel Mannheim. Hier wurde ich einer Dame zugeteilt, die eine private Handelsschule leitete. Ihr sollte ich im Haushalt beistehen, die Schulräume säubern und in der Küche behilflich sein. Dafür durfte ich kostenlos die Abendschule besuchen. In einem der Lehrräume hatte ich ein Klappbett. Auch Frau Coen, die mit ihrer Familie lange Zeit in Russland gelebt hatte, war gut zu mir und brachte mir das Kochen bei. Die Handelsschule gefiel mir, ganz nach dem Motto: “Lernen war immer schön.” Insbesondere erinnere ich mich aber an die Monate, als Frau Coens Sohn aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Er war gesundheitlich ein Wrack und lebte so zunächst bei seiner Mutter, um wieder ein wenig zu Kräften zu kommen. Gerne saß er am großen Küchentisch bei einer Tasse Tee oder Kaffee, während ich kochte oder anderen Tätigkeiten nachging. Er rauchte eine seiner vielen Machorkas und erzählte und erzählte, erzählte von seinen Erlebnissen, seinen Erfahrungen und Gedanken und immer wieder davon, wie er die Gefangenschaft in Russland überlebt hatte. Über Stunden hörte ich ihm zu, wie ein Schwamm nahm ich seine Geschichten in mich auf, und er war dankbar für meine Aufmerksamkeit. Oft kam auch seine Mutter mit in die Runde. Sie war es auch, die mir eines Tages vorschlug, mir Russisch beizubringen - und ich liebte diese Idee und die wenigen Stunden Unterricht, die wir gemeinsam miteinander verbrachten. Denn kurze Zeit später erkrankte Frau Coen, musste ins Krankenhaus und ihre Schule wurde vorübergehend geschlossen.

Ein fünftes Mal mischte sich deshalb das Jugendamt in mein Leben ein und orderte mich ab. Traurig verließ ich die Handelsschule und ihre Besitzerin. Ich hatte mich hier wohl gefühlt, und das Lernen hatte mir Spaß gemacht. Zunächst wurde ich in einer Familie in Heidelberg untergebracht, doch schon nach drei Tagen kam ein Anruf des Jugendamtes, ich solle sofort ins Amt kommen. Dort erwartete mich eine große Überraschung. Eine Frau Elfriede Weber hatte sich beim Jugendamt gemeldet. Diese Elfriede Weber, berichtete mir das Jugendamt, hatte schon einmal für mich gesorgt, als ich im Alter von zwei Jahren meiner Mutter weggenommen worden war. Es war kurz nach der Kristallnacht gewesen, mein Vater war bereits verschwunden, meine Großmutter nicht verfügbar. Ich war damals zunächst in die Obhut von Elfriede Weber, später dann in ein Heim für jüdische Kinder gekommen.

Elfriede Weber hatte durch Zufall über Bekannte vom Tod meiner Großmutter erfahren und deshalb beim Jugendamt nach mir gefragt – und dies genau in der Zeit, als keiner so recht wusste, wohin mit mir. Nach Absprache mit Frau Weber, die inzwischen eine ältere Dame war, wurde also beschlossen, dass ich nun erst einmal zu ihr ziehen dürfe.

Nach meiner Großmutter war Elfriede Weber der zweite Engel in meinem Leben. Bei ihr erfuhr ich eine Wärme, Geborgenheit und Nähe, wie selten zuvor und selten danach. Ich ging in der Zeit bei ihr weder zur Schule noch musste ich arbeiten. Vielmehr verbrachte ich dort nicht enden wollende Ferien. Ich half ein bisschen im Garten, im Haus, wir gingen gemeinsam spazieren, ich las viel - und ganz besonders erinnere ich mich an die Abende, an denen wir gemeinsam auf dem Sofa saßen und Radio hörten. Ich durfte mich an diesen Abenden an sie anlehnen oder meinen Kopf in ihren Schoß legen, während sie mir immer wieder leicht durchs Haar strich. Diese Momente waren wie ein wärmender Mantel und folgende Worte, die sie immer wieder zu mir sagte, pflanzten sich tief in mir ein: “Du wirst sehen, mein Kind, alles wird gut!”

Nach einem dreiviertel Jahr sollte aber auch diese Zeit der puren Erholung für mich ein Ende haben. Zum sechsten Mal bestimmte das Jugendamt meinen kommenden Weg. Ich war inzwischen 16 ½ Jahre alt und man hatte beschlossen, es wäre an der Zeit für mich zu arbeiten. Der Abschied von ‘Mutter Elfriede’, wie ich sie inzwischen nannte, war sehr traurig. Bis zu ihrem Lebensende sollten wir aber den Kontakt nicht mehr verlieren.

Zunächst ging meine Reise wieder in die Nähe von Heidelberg, genauer nach Wiesloch. Dort gab es zu dieser Zeit eine große Psychatrie, wobei auch die dort arbeitenden Ärzte in der Umgebung rund um das Krankenhaus lebten. Bei einer dieser Arztfamilien wurde ich eingesetzt, wobei es meine Aufgabe war, im Haushalt zu helfen und die Kinder der Familie mit zu betreuen. Ich bekam mein eigenes Zimmer, ordentliches Essen und zu meiner Begeisterung einmal im Monat mein erstes Taschengeld - 25 Mark, ein Betrag, der mir immens erschien. Auch von Familie Schuster mit ihren drei Kindern wurde ich sehr freundlich, wenn auch distanziert, aufgenommen. Einmal in der Woche durfte ich in die Schule gehen. Als ich eines Tages das Herrenzimmer säubern sollte, staunte ich nicht schlecht. Ich stand vor einer Bibliothek, die die ganze Zimmerwand für sich in Anspruch nahm. Ich war beeindruckt.

Durch Zufall entdeckte mich Frau Schuster und fragte mich schmunzelnd: “Liest Du etwa gerne?”

Mit einem fast jauchzenden “Ja” antwortete ich ihr. Frau Schuster erlaubte mir, ein Buch aus dem Regal mit aufs Zimmer zu nehmen. Ich erinnere mich noch genau an die Situation. Nach dem Zufallsprinzip zog ich ein Buch aus den langen Reihen: “Heinrich Fallada. Wer einmal aus dem Blechnapf frisst”

“Da hast Du aber gut gewählt.”, kommentierte Frau Schuster meine Wahl. Das Buch hatte ich an nur wenigen Abend durchgelesen, doch es sollte nicht bei diesem einen bleiben. Ich durfte ein Buch nach dem anderen aus der Bibliothek ausleihen, welches ich dann an den Abenden und in den Nächten in meinem Zimmer las.

An einem meiner freien Tage kaufte ich mir mein erstes selbst ausgewähltes Paar Schuhe, ansonsten ging ich in den Sommertagen oft ins Schwimmbad, wobei ich, seitdem es mir, inzwischen nach mehreren Operationen und anstrengendem Balettunterricht ohne Beinschiene, wieder möglich war, das Schwimmen sehr liebte. Ja, ich hatte eine gute Zeit.

Insgesamt lassen sich meine Jugendjahre im wahrsten Sinne des Wortes als Lehr- und Wanderjahre beschreiben. Ich nahm all die Veränderungen mit Neugier an und fürchtete mich nie. Nie konnte es mir schlimmer ergehen als in den Jahren meiner frühesten Kindheit, in den Jahren mit meiner Mutter - davon war ich überzeugt. So ging ich aufgeschlossen auf jede neue Aufgabe zu und fand mich in jedem neuen Zuhause ein. Es kam nie zum Stillstand, ging immer voran und es gab immer etwas zu lernen. So machte ich aus jeder Lebenslage und -situation das Beste - in tiefem Gottvertrauen, dass alles zu meinem Guten ist und alles gut wird.

Was ich bisher nicht gelernt hatte, war, für mich selbst Entscheidungen zu treffen, es war ja immer alles für mich entschieden worden. Wie wichtig es im Leben sein kann, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, lernte ich erst mühsam in den kommenden Jahren.

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