Es ist kalt in Brandenburg

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Villi tut, als ob der Vietnamkrieg noch nicht fertig wäre, und als ob, im Winter 1979, nicht ein Präsident regierte, der für die Menschenrechte schwärmt. Des Führers Residenz ist geschleift worden von den Amerikanern, es ist Gras darüber gewachsen. Nur die unterirdischen Gänge sind intakt geblieben, der Unterbau. Man muss 1 Mark einwerfen, das Drehkreuz bewegt sich, es geht in die Tiefe, DAS VERSCHMIEREN DER WÄNDE WIRD VON KONTROLLORGANEN ZUR ANZEIGE GEBRACHT, steht auf den von dieser Inschrift verschmierten Wänden. Es sind aber keine Kontrollorgane zu sehen, wir sind allein hier unten, und es ist kalt. Irgendwo tropft Wasser. HIER BEFINDEN SIE SICH CA. 10 METER UNTER DER ERDE. GERADEAUS SEHEN SIE: 1 MASCHINENGEWEHRSTAND UND 1 SEHSCHLITZ. Bei jeder rechtwinkligen Biegung des Ganges wieder 1 Maschinengewehrstand und 1 Sehschlitz. HINTER DIESER BACKSTEINMAUER BEFANDEN SICH DIE PRIVATEN RÄUME VON ADOLF HITLER UND EVA BRAUN. NICHT BETRETEN. EINSTURZGEFAHR. Wendeltreppen, rostige Türen, verrostete Geschichte, der Widerhall vom Schlurfen unserer Schuhe in den endlosen Gängen, Wendeltreppen und wieder ins Licht, dann Hundegebell. Ein fletschender Wolfshund, ein deutscher Schäfer, ein historischer Hund, wartet am Ausgang des Bunkers, bedroht Villi, der Hunde nicht riechen kann und wegrennt und auf das Autodach flüchtet, wohin ihm der Hund nicht folgen kann.

Hier hat früher ein renommierter Wolfshund gelebt, Blondi, der hat H. auf seinen Spaziergängen begleitet und sei von ihm geliebt worden.

***

Bei der Rückkehr in die Pension Watzmann sitzt einer am Tisch, der uns bekannt vorkommt. Irgendwo haben wir den schon gesehen. Der sitzt starr vor seinem Bier und hat eine Haarsträhne in die Stirn gekämmt, schräg. Dann reisst er die Hand hoch und ruft: Wir brauchen wieder einen Führer.


Das meint er nicht ernst, er macht sich einen Jux, und alle finden das lustig, wenn Herr L., der tagsüber in einem Comestible-Laden arbeitet, zur Karnevalszeit den H. mimt, hier, wo der richtige H. gelebt hat. Man klopft sich allgemein auf die Schenkel. Nachdem er sein Schnäuzchen abgeschminkt hat und die Strähne nach oben gekämmt ist, findet L. wieder zurück zu seiner eigenen Stimme und sagt jetzt in ruhigem Ton, er spiele den H. schon lange und mit immer gleichbleibendem Erfolg, zuerst für die amerikanischen Soldaten, dann auch für deutsches Publikum, und ein kleiner H. könne, Spass beiseite, nicht schaden in der deutschen Politik, damit die Situation bereinigt und alles Fremde ausgemerzt werde, das alte Reich werde nicht wieder kommen, aber ein kleines Deutschland, ein echtes Deutschland, und eine Ordnung.

Niemand widerspricht, im Gegenteil; breite Zustimmung am Stammtisch.

Auch die Plaketten auf dem Friedhof finden alle ganz normal. Es war ein Raubkrieg, die halbe Welt wurde verwüstet, die jungen Berchtesgadener in die Armee gepresst, Bauchschüsse, abgefrorene Glieder in Russland, Hunger, Verlassenheit und Krepieren. Vor sich den Feind und hinter sich den General, und auf dem Friedhof sind es tapfere Krieger geworden. Das muss vermutlich so sein, sonst wäre der Nachschub nicht in den Krieg gezogen, wenn die Wahrheit auf den Gräbern ständ.

Von Bavaud weiss man, dass er Pazifist gewesen ist.

Ein deutscher Onkel

Die Waffe, mit welcher der Führer erschossen werden sollte, hatte Bavaud noch in der Schweiz erstanden, am 20. Oktober 1938 in Basel,

wo er in dem Waffengeschäft des Büchsenmachers Bürgin, am Steinentor 13, für einen Preis von etwa 30 Franken eine Pistole Marke «Schmeisser», Kaliber 6.35 mm sowie 10 Patronen kaufte.

Den Büchsenmacher Bürgin gibt es immer noch, das Geschäft floriert, danke, und blieb in der Familie, der heute regierende Prinzipal war damals bei seinem Vater als Lehrling angestellt. «Um eine Person mit dieser Pistole reparaturunfähig zu schiessen», sagt Bürgin, «müsste man sich ihr bis auf ca. drei Meter nähern». Bürgin hat Bavaud nicht in Erinnerung, auch sein Vater habe ihm nie etwas von diesem Pistolenkauf erzählt, für den man, bei dem kleinen Kaliber, seinerzeit keinen Waffenschein gebraucht habe.

Bavaud ist auch hier nicht aufgefallen.

Die Pistole sieht sehr enttäuschend aus, hat auf einer Handfläche Platz. Wir haben uns eine Attentats-Pistole anders vorgestellt. Bürgin nennt sie eine Damenpistole. Warum hat Bavaud nicht eine größere gekauft? Geld hatte er genug.

Andrerseits war die Schmeisser 6.35 praktisch, verursachte keine Ausbuchtungen in der Tasche, beim Kauf wurden keine störenden Fragen gestellt, es war eine vielverkaufte, beliebte, halbautomatische Selbstverteidigungswaffe. Bei der weiteren Munitionsbeschaffung in Berlin und München erregte das kleine Kaliber ebenfalls keinen Verdacht. Der Munitionsverkauf an Personen, die das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt hatten, unterlag damals in Deutschland keiner Beschränkung. Alles hing also davon ab, wie nahe der Attentäter an die Person des Führers herankommen konnte. Die Handhabung der Pistole war nicht schwierig, der friedliche Roger Jendly, unser Bavaud-Darsteller, welcher so wenig wie Bavaud etwas von Pistolen verstand, hat es nach einer kurzen Erläuterung kapiert und befriedigende Resultate erzielt im Schiesskeller des Waffenhändlers.

Man sei damals wie heute einfach zur Verfügung gestanden, sagt Bürgin, vor dem Krieg habe der Waffenverkauf zugenommen, und jetzt auch wieder, was vielleicht aus der Terroristenszene abgeleitet werden könne, und wenn es regne, verkaufe man auch mehr Regenschirme, das sei aber vielleicht ein hinkender Vergleich.

Viele Institute, resp. Banken, hätten unterdessen ihr eigenes Schiesstraining eingeführt und müssten sich mit Waffen ausrüsten resp. eindecken, das sei ein Gebot der Stunde, aber nicht nur in Basel, sondern gesamtschweizerisch.

Darauf schiesst Jendly ein paarmal im Schiesskeller, zuckt zuerst, trotz Gehörschutz, ein wenig zusammen, bekommt dann eine ruhige Hand und kontrolliert die Einschläge auf der Zielscheibe, während Hans mit seiner Kamera schiesst, und auf Villis Tonband zuckt die Geräuschanzeigenadel. Die kleine Pistole macht einen völlig unproportionierten, lauten Krach. Es ist noch akkurat dasselbe Modell wie 1938, sagt Bürgin, die hat sich bewährt. Aber ein Attentat mit diesem unscheinbaren Ding –.

In der Attentatsliteratur kommen Bomben, Gewehre, Maschinenpistolen, Gift, grosskalibrige Pistolen vor, aber keine Schmeisser 6.35. Bavaud hat damals null Erfahrung im Umgang mit Waffen gehabt, war noch nicht in der Rekrutenschule gewesen, welche ihn diesbezüglich einiges gelehrt hätte, als Auslandschweizer hatte er Dispens vom Militärdienst bekommen. Er war kein Spezialist. Und er konnte den Waffenhändler nicht fragen: Würden Sie mir bitte sagen, mit welchem Kaliber ich am besten ein Attentat verübe?

***

Im Sommer 1941 habe er eine erstaunliche Feststellung gemacht, berichtet Kurt Gschwend, der damals fünfzehnjährig war, Auslandschweizer, und in Augsburg lebte. Es sei bekanntgegeben worden, dass H. mit seinem Sonderzug in Augsburg erscheinen werde, auf der Durchreise. Die Notabeln der Gegend, Bürgermeister, Gauleiter etc., hätten sich zu diesem Zweck auf dem Bahnsteig eingefunden. Der Bahnhof ringsherum abgesperrt, grosses Polizei- und Militäraufgebot, Posten an der Bahnhofsperre (Eingang). Damals hatten die deutschen Bahnhöfe Eingangs- und Ausgangssperren, wo die Billette kontrolliert wurden. Er habe sich mit einem Kameraden in der Nähe des Bahnhofs herumgetrieben, nur so zum Plausch, und überrascht festgestellt, dass die andere Sperre (Ausgang) völlig unbewacht gewesen sei. Vermutlich hätten die deutschen Sicherheitsbeamten angenommen, dass kein anständiger Deutscher auf den Gedanken komme, durch einen Ausgang in den Bahnhof hineinzugehen, oder es sei sonst eine Panne gewesen. Item, er sei mit dem Freund hineingeschlüpft in den Bahnhof und habe dort zuerst eine leere Zugskomposition gesehen, welche, gewissermassen als Schild, jenes Perron abgeschirmt habe, auf welchem der Sonderzug erwartet worden sei. Weil vermutlich in keinem Reglement vorgeschrieben war, dass dieser Zug verriegelte Türen haben musste, seien sie ohne weiteres dort eingedrungen, und auf der andern Seite wieder hinaus, ohne von irgendwelcher Polizei behelligt zu werden. Musik, Kommandotöne, der Sonderzug fährt im Schritt-Tempo ein, H. am offenen Fenster, er, Gschwend, ca. zwei Meter entfernt, der andere greifbar nahe – da habe er unwillkürlich gedacht, wie günstig der Augenblick gewesen sei für einen spontanen Schuss. Niemand habe ihn beachtet, die Polizeideckung auf dem Perron sei minim gewesen, keiner habe dort mit einem Attentäter gerechnet, weil die Absperrmassnahmen ringsherum so gründlich waren. Kurt Gschwend, der diese Episode 1980 erzählt, macht keinen exaltierten Eindruck, eher einen handwerklich-soliden (er arbeitet heute als Buchhersteller in Bern).

Das war 1941, H. wurde viel besser beschützt als 1938. Damals, vor dem Krieg, und vor den ersten seriösen Attentaten, waren die Chancen nicht schlecht. In Berchtesgaden zum Beispiel, so erzählt der Lokalhistoriker Hellmuth Schöner, habe H. auch nach der Einrichtung des Sperrbezirks noch bis zum Krieg seinen Lieblingsspaziergang gemacht, mit wenigen Begleitern, sozusagen in freier Natur, vom Lindenweg zum Hochlenzer hinauf. Das Terrain sei vor den Spaziergängen nicht durchsucht worden.

Und der Wirt Schwaiger von der Pension Watzmann, ein gestandener Berchtesgadener, erinnert sich, – nein, soweit reicht seine Erinnerung nicht zurück, er war noch zu klein, – erzählt, dass seine Eltern ihm erzählt haben, H. habe ihn, den kleinen Schwaiger, buchstäblich auf den Arm genommen, wie er es oftmals mit Kindern zu tun pflegte, die von den Eltern ihm dargebracht wurden im Berghof oben, wo man noch in den späten dreissiger Jahren in seine Nähe gelangen konnte, gruppenweise, wenn man unauffällig war.

 

***

Zum Reisen braucht es Geld. Wir haben es vom deutschen Fernsehen, vom deutschschweizerischen Fernsehen und von der Schweizerischen Eidgenossenschaft gekriegt, Abteilung Hürlimann (Kultur). Bavaud hat es der Mutter geklaut.

Kann man sich vorstellen, was es für einen gut erzogenen, katholischen, mittelständischen Burschen bedeutet, der eigenen Mutter sechshundert Franken zu entwenden? Er musste tief sitzende Hemmungen überwinden. Nach allem, was man weiss, hat er ein gutes Verhältnis zur Mutter gehabt, war keineswegs mit ihr verkracht, die Familie lebte in Harmonie, er war der grosse Bruder, ein Vorbild für die jüngeren Geschwister. Immer tadellos, sagen die Geschwister.

Die Reise nach Deutschland, die der überzeugte Katholik Bavaud am 9. Oktober 1938 in Neuchâtel angetreten und am 13. November desselben Jahres in Augsburg beendet hat, begann mit einem Verstoss gegen das vierte Gebot (Elternliebe) und gegen das siebte Gebot (Eigentumsgarantie) und setzte sich fort mit massenhaften Verletzungen des achten Gebots (Wahrheitsliebe). Sie gipfelte in der Absicht, das fünfte Gebot zu übertreten (Tötungsverbot). Das hätte Einiges zu beichten gegeben.

Du sollst, Du sollst nicht, Du sollst. Du sollst Vater und Mutter ehren, Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut. Maurice hat gestohlen, gelogen, gefälscht, getäuscht, geprellt, hintergangen; töten wollte er auch. Strafgesetzbuch und Bibel, die in der wohlbeleumdeten Familie Bavaud hochgehalten wurden, hat er souverän ausser Kraft gesetzt während seiner Deutschlandreise. Was gab ihm die Kraft, den christlich-bürgerlichen Schatten zu überspringen?

Nichts in seiner Vergangenheit hat ihn für diese Reise prädestiniert. Er wurde nicht jesuitisch erzogen, sondern von den Frères de l’Ecole chrétienne in Neuchâtel und später von den Pères du Saint-Esprit in Saint-Ilan. Und doch hat er später zu Protokoll gegeben:

Dass er sich die Mittel zu der Reise nach Deutschland durch Diebstahl zum Nachteil seiner Eltern verschafft habe, sei ihm in Hinsicht auf sein Ziel nicht so verwerflich erschienen und werde auch durch sein Vorhaben einigermassen bei ihm moralisch gerechtfertigt. (Urteilsbegründung)

Geld war nötig für die Reise, und als es ihm ausgegangen war …

sein Vorhaben habe er schliesslich in Bischofswiesen am 12. November 1938 nur deshalb aufgegeben, weil er kein Geld mehr gehabt habe. Andernfalls hätte er noch weiter abgewartet, bis sich ihm eine günstige Gelegenheit zur Ausführung des geplanten Mordanschlages geboten hätte. (Urteilsbegründung)

Zum Reisen braucht es auch einen Pass. Dieser war abgelaufen, Bavaud liess seine Gültigkeitsdauer am 4. Oktober 1938 bis zum 4. November verlängern. Dann stahl er das Geld bzw., wie die Akten sagen,

beschaffte er sich die erforderlichen Geldmittel dadurch, dass er sich auf Grund seiner genauen Ortskenntnis den zweiten Schlüssel zu dem im Geschäft seiner Mutter befindlichen Geldschrank aneignete und dann aus diesem den Betrag von etwa 600 Schweizer Franken entwendete.

Die Mutter betrieb ein kleines Gemüsegeschäft, der Sohn hatte in den Ferien ein bisschen ausgeholfen, deshalb die genaue Ortskenntnis. Auf diesen Diebstahl kommen die Akten nochmals zurück, sorgenvoll vermerken sie seine Verwerflichkeit – nicht genug, dass einer den Führer erschiessen will, er klaut auch noch bei der eigenen Mutter! Die Richter, die ihn töten werden, sind beleidigt ob soviel Rücksichtslosigkeit, ihr Kummer scheint auf in den korrekt gebauten, sorgfältig gedrechselten Richtersätzen mit den vielen Relativpronomen.

Am 9. Oktober, einem Sonntag, fuhr er morgens zwischen sechs und sieben Uhr nach Basel, besorgte sich dort eine Art von Traveller Checks, Reisekreditbrief nannte man es damals, im Werte von Reichsmark 555.–, und fuhr darauf nach Baden-Baden, wo er gegen vierzehn Uhr eintraf. In dieser Stadt hatte er Verwandtschaft, nämlich eine Grosstante, die Karoline Gutterer, geb. Nofaier. Zwischen den Bavauds in Neuchâtel und den Gutterers in Baden-Baden hatte zwar schon jahrelang kein Kontakt mehr bestanden, aber in der Not erinnert man sich der entferntesten Verwandten. Maurice kannte sonst in Deutschland keine Seele.

Warum sich nicht ein wenig akklimatisieren beim deutschen Zweig der eigenen Familie, bevor man weiter in das unbekannte Land eindringt?

Die Gutterers waren kleine Leute wie die Bavauds, Peter Gutterer figurierte in den Akten als Werkmeister, nach Feierabend war er Hauswart. Aber der Sohn Leopold, in den sie ihre Hoffnung setzten, hat es weit gebracht. Er war

nach einem nicht abgeschlossenen Hochschulstudium, das unter anderem der Theaterwissenschaft galt, bereits 1925 der NSDAP beigetreten, fand dort eine hauptamtliche Stellung und wurde 1930 zum Gaupropagandaleiter in Hannover ernannt. Das «goldene Parteiabzeichen» wie das erhebliche Vorstrafenregister wegen in der Weimarer Republik begangener politischer Vergehen, das seine Personalakte «zierte», gereichten ihm ebenso zum Vorteil wie die hinlänglich bewiesene Fähigkeit, Massenaufmärsche wirkungsvoll arrangieren und inszenieren zu können. Schon 1937 wurde er zum Ministerialrat befördert, um im Jahr darauf mit der Leitung der Propagandaabteilung betraut zu werden, die vor dem Kriege als das wohl wichtigste Ressort des Ministeriums angesehen wurde. Am 20. April 1938 folgte die Ernennung zum Ministerialdirektor. (Willi A. Boelcke, Kriegspropaganda 1939–41)

1941 ist er sogar Staatssekretär im Propagandaministerium geworden, am 16. Mai, zwei Tage nachdem sein Verwandter hingerichtet worden war. Doch 1944 stürzte er wieder in die Anonymität ab. Einer, der noch tüchtiger war im Gebrauch der Ellenbogen, verdrängte ihn, Gutterer wurde 1944 als Unteroffizier zu den Panzerjägern einberufen, obwohl er mit dem Titel eines SS-Brigadeführers dekoriert gewesen war.

Er lebt immer noch.

Ein amerikanischer Historiker, Gay W. Baird von der Miami University, hat ihn kürzlich besucht. Gutterer habe ganz offen gesprochen, einen Nachmittag lang. Gegen Ende des Interviews sei bei ihm die Emotion durchgebrochen, er habe sogar einige Tränen vergossen und «vom grossen Idealismus jener Tage, der unterdessen zerstört worden sei», erzählt. «This to me was curious, coming from an SS general», schreibt der Historiker in seinem Brief an Villi Hermann (22. 8. 1978).

In derselben Verwandtschaft einer, der H. umbringen will, und ein anderer, der sich vor Eifer fast umbringt, um die Pläne von H. zu verwirklichen. Der grosse Idealismus jener Tage hat Spuren hinterlassen im Protokoll der Ministerkonferenzen des Reichspropagandaministeriums.

6. November 1939. Herr Gutterer soll Erkundigungen über die Brotzuteilung an Strafgefangene und Zuchthäusler einziehen, da diese nach Berichten angeblich gegenüber den Arbeitern bevorzugt behandelt werden.

(Damals sass Bavaud im Gefängnis Moabit, Untersuchungshaft.)

8. November 1939. Herr Gutterer soll Material über die Verjudung der britischen Presse, der Bankwelt und der Regierungskreise zusammentragen lassen.

Unter dem Motto «Es soll nicht jeder alles das kaufen, was ihm zusteht» soll in Rundfunk und Presse die Kauflust angegangen werden. Herr Gutterer erhält den Auftrag, sich für eine Sendung einzusetzen, die, zweimal wöchentlich unter dem Kennwort «Die deutsche Hausfrau spricht» gesendet, diese Fragen in Zwiegesprächsform behandeln soll.

20. November 1939. Gutterer wird beauftragt, sich um die Beseitigung des Zigeunerwesens zu kümmern.

19. Mai 1940. Der Minister beauftragt Herrn Gutterer, bei Stapo und Sicherheitsdienst darauf zu dringen, dass in den neu besetzten Gebieten, vor allem in Holland, sofort Jagd auf deutsche Emigranten gemacht wird.

25. Mai 1940. Herr Gutterer soll zusammen mit Herrn Raskin ein Tagebuch eines englischen Gefangenen herstellen lassen, in dem Erlebnisse pornographischer Art aus Paris geschildert werden. Dieses Tagebuch soll dann über Frankreich abgeworfen und eventuell auch durch den Geheimsender ausgenutzt werden.

(Protokoll der Geheimen Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966)

Herr Gutterer kümmerte sich auch um Details, am 26. Mai schlug er vor, dass in den Kinos während der Wochenschauen die Türen geschlossen bleiben. Am 3. Juni wurde er beauftragt, am Wannsee alle englischen Grammophon-Platten zuzüglich Grammophon-Apparaten beschlagnahmen zu lassen und ihre Besitzer, wenn sie nicht «unabkömmlich» seien, in Arbeitskolonnen zu beschäftigen (das wird ihnen die Liebe zur deutschen Musik beibringen). Am 20. Juli sollte er sich darum bemühen, aus Italien weitere grosse Pfirsichmengen für Berlin aufzukaufen, da die erste Sendung zum Preis von 36–40 Pfennig das Pfund recht guten Absatz gefunden hatte. Es sollte aber dafür gesorgt werden, dass die Pfirsiche nicht in überreifem Zustand nach Deutschland kamen. Am 5. März 1941 wurde er vom Minister beauftragt, für die Juden in Berlin – «die wir augenblicklich nicht herausbringen können, weil sie als Arbeitskräfte unentbehrlich sind» – ein Abzeichen zu schaffen.

Etc., etc., treu und fleissig, Pornographie und Pfirsiche, Emigrantenhatz und Wochenschau, Judenabzeichen und Hausfrauenbetreuung. Und immer Acht geben auf das Räuspern des Ministers, und keine Emotion zeigen, und die Sprache der Obern umsetzen für die Ohren des Volkes. Amtlich und korrekt. Kein Bluthund, nur ein Entwerfer von Reglementen, Weisungen, Richtlinien. Er hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können, auch keinem Juden, persönlich. Am 27. April 1943 schrieb er an Himmler: «Reichsführer! Für die Glückwünsche und ehrenden Worte, die Sie zusammen mit dem Buchgeschenk anlässlich meines Geburtstages an mich gerichtet haben, sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank. Ich nehme diese Gelegenheit zum Anlass, Sie meiner steten Einsatzbereitschaft zu versichern. Mit Hitler Heil; Ihr treu ergebener Gutterer».

Eine grosse Nummer ist er trotz aller Dienstbeflissenheit nicht geworden, nur ein hochgestellter Ausführungsbeamter. Der Sohn des Hauswarts hat den raschen Aufstieg nicht verkraftet, die Intrigen im Reichspropagandaministerium wuchsen ihm über den Kopf. Es genügt nicht, sich immer anzupassen, man muss manchmal brutal auftreten können gegen die Konkurrenten und hart zuschlagen, nicht nur nach unten. Der schlauere, jüngere und schnellere Naumann hat ihn 1944 als Staatssekretär ersetzt. Und der treu ergebene Gutterer musste im letzten Moment sein Büro verlassen und in den wirklichen Krieg ziehen, den er bis jetzt nur propagandistisch geführt hatte.

Er lebt heute in Aachen.

***

Maurice wurde nicht unfreundlich empfangen von seinen Verwandten in Baden-Baden. Wie geht es dem Vater, was macht die Mutter, wir haben schon lange nichts mehr von Euch gehört! Und was macht die schöne Schweiz?

Wie es so ist, wenn Verwandte sich jahrelang nicht mehr gesehen haben. Auch wenn man sich nicht wirklich freut: man tut so, als ob. Man kann nicht gut anders, auch wenn der Gast unangemeldet kommt und jetzt einer mehr am Tisch sitzt. Aber der Grossneffe macht einen manierlichen Eindruck, sauber, bescheiden, und er suche, sagte er sofort, Arbeit in Deutschland, und zwar als technischer Zeichner, und wolle ihnen also nicht auf der Tasche liegen. Und hatte eine politische Einstellung, welche Anklang fand bei den Eltern des Ministerialdirektors, gab seiner Bewunderung für die Leistungen des Nationalsozialismus Ausdruck; in den schönsten Farben.

Familie Gutterer war beruhigt. Man hatte sich über die Verwandten in Neuchâtel schon allerhand Gedanken gemacht in der letzten Zeit, die Mutter von Maurice galt als deutschfeindlich und hatte den Kontakt abreissen lassen. Und überhaupt die Schweiz … Aber da war anscheinend eine junge Generation herangewachsen, welche sich durchaus auf der Höhe der Zeit bewegte. Es traf sich gut, dass an diesem 9. Oktober 1938 auch der Werkmeister Karl Gutterer, ein Neffe der Karoline, in Baden-Baden zu Besuch war, der konnte fliessend Französisch und hat Maurice den Familienanschluss erleichtert. Zwei Tage nach der Ankunft begann bereits die Arbeitssuche, die Stieftochter der Karoline, Paula Gutterer, fuhr mit Maurice nach Rastatt zum Arbeitsamt. Dort kannte sie einen Beamten,

der sofort fernmündlich bei der Firma Daimler-Benz nach einer Arbeitsmöglichkeit für den Angeschuldigten nachfragte, jedoch den Bescheid erhielt, dass die Firma Ausländer nicht einstellen dürfe. Darauf fuhren alle drei zu den Stierlen-Werken, wo der Beamte das Arbeitsamt zusammen mit dem Angeschuldigten bei der Werkleitung vorsprach und dann zu der sie erwartenden Paula Gutterer mit dem Bescheid zurückkehrte, dass wahrscheinlich eine Einstellung des Angeschuldigten erfolgen werde, jedoch noch endgültiger schriftlicher Bescheid abzuwarten sei. Hierauf fuhren Paula Gutterer und der Angeschuldigte nach Baden-Baden zurück. (Anklageschrift)

 

Der schriftliche Bescheid lautete negativ, Maurice musste weiterhin von seinem Kreditbrief Geld abheben und vertrieb sich die Zeit mit Spaziergängen. Er habe sich damals immer pünktlich, wie die Anklageschrift mit Befriedigung festhält, zu den Mahlzeiten bei Gutterers eingefunden. Seine Grosstante hatte ihrerseits pünktlich, aber ohne böse Absicht, den Sohn und Ministerialdirektor Leopold in Berlin dahingehend avisiert, dass da ein Verwandter aufgetaucht sei. Dieser, immer die Karriere vor Augen, orientierte pünktlich die Geheime Staatspolizei. Ein Fremder in Baden-Baden … dazu noch ein technischer Zeichner … in der Gegend, wo die Befestigungen des Westwalls gebaut wurden … und auf Arbeitssuche … Leopold Gutterer witterte Unrat. Wenn da etwas passierte, ein Verwandter von ihm als Spion, das war nicht günstig für das berufliche Fortkommen.


Die Polizei liess sich Zeit, sie funktionierte damals weniger rasant als heute, obwohl der Hinweis von einem hohen Beamten kam. Sie hat zuerst überhaupt nicht reagiert, Bavaud blieb noch ungestört bis zum 20. Oktober in Baden-Baden. Leopold Gutterer in Berlin war äusserst aufgewühlt und beschloss, seine Frau Auguste Viktoria, geborene Heil, nach Baden-Baden zu schicken, um die Eltern zu warnen. Es durfte auf keinen Fall vorkommen, dass Maurice sich bei der Arbeitssuche auf ihn, Gutterer, berufen würde.

Weil Gutterer ein höflicher Mensch war und Maurice nicht vor den Kopf gestossen werden sollte und auch keinen Verdacht schöpfen durfte, man war ja immerhin verwandt miteinander, reiste Auguste Viktoria nicht allein.

Um die Reise als einen unauffälligen Verwandtenbesuch erscheinen zu lassen, nahm die Ehefrau des Ministerialdirektors ihren sechsjährigen Sohn Dietrich nach Baden-Baden mit. Dort entledigte sie sich des ihr erteilten Auftrages, konnte aber selbst eine unmittelbare Unterhaltung mit dem Angeschuldigten nicht führen, da sie die französische Sprache nicht beherrscht. (Anklageschrift)

Die Ehefrau als Spionin im Einsatz gegen den mutmasslichen Spion … Der Sohn des Leopold und der Auguste Viktoria hat sich, vermutlich sah es die Mutti gar nicht gern, mit Maurice angefreundet. Dieser habe, so steht es in den Akten, das Kind oft zu seinen Spaziergängen in die Umgebung der Stadt Baden-Baden mitgenommen.

***

Der Sohn Dietrich lebt heute auch in Aachen, wie Leopold Gutterer, und bittet uns, den Vater nicht zu behelligen, dieser sei genug gestraft, es gehe ihm schlecht. Nach dem Krieg, aus dem der abgesetzte Staatssekretär heil zurückgekommen war, sei er als Landarbeiter untergetaucht und dann als Feuerwerker und Platzanweiser in einem Kino tätig geworden, nach einer kurzen Gefängnisstrafe, sein Abstieg sei endgültig, politisch sei er enthaltsam und in keiner Weise mehr eine Gefahr. Auch habe er jeden Kontakt mit den noch lebenden Kameraden von damals abgebrochen und lebe ganz isoliert, ein bitterer alter Mann, und solle man ihn doch bitte schonen. Er, Dietrich, trage schwer an dem Bewusstsein, dass sein Vater ein derart hohes Tier im Dritten Reich gewesen sei, und spreche nie mit ihm darüber, das sei ein Familientabu.

An die Spaziergänge mit Maurice kann sich der Sohn nicht mehr erinnern.

Ist der 78jährige Gutterer noch identisch mit dem Staatssekretär, welcher sich um die Beseitigung des Zigeunerwesens bemühte? Und die Jagd auf Emigranten organisierte? Wir sind unsicher. Sollen wir ihm auflauern mit der Kamera und warten, bis er aus dem Haus kommt? Am Telefon sagt er, er habe nichts zu sagen. Und Maurice habe er damals der Polizei angezeigt, um seine Mutter vor Verwicklungen zu schützen.

Villi meint, wir sollen ihm abpassen, der sei eine alte Nazisau, gwüssgott, seinen eigenen Vetter bei der Polizei angezeigt, und das Judenabzeichen den Berliner Juden verabfolgt, da müssten wir uns nicht genieren, den filmen wir, auch wenn er dagegen ist.

Wir wissen nicht recht.

Vielleicht haben wir zum Schluss nicht gefilmt, weil man sich ein bisschen vorkommt wie die Polizei, wenn man ständig vor einem Haus auf und ab geht, oder in den Büschen wartet.

Wie die Polizei, oder wie Attentäter.

Das Backstein-Reihenhaus am Rande von Aachen ist unauffällig und hat eine Gegensprechanlage. Wir haben sie nicht benutzt.

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