Das Lachen der Yanomami

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»Vater hat mir in seinen Briefen geschrieben, was mit deiner Familie und der Familie deiner Freundin passiert ist.«

»Ja. Sie haben es nicht geschafft. Der Krieg war einfach zu brutal. Ich habe sie sehr geliebt und wollte mit ihr eine Familie gründen.«

»Das tut mir leid«, bekundete Samuel noch einmal sein Beileid.

»Ja, mir auch, und auch das mit deinem Vater. Ich habe im Krieg alles verloren.«

»Hast du nach dem Krieg keine andere Frau kennengelernt?«, fragte Samuel interessiert.

»Leider nein. Florence und ich waren Seelenverwandte. Ich hatte einige Verabredungen, aber ich verglich sie alle mit ihr.«

Samuel verstummte. Es tat ihm leid, wie einsam Jean war und dass er sich nicht früher bei ihm gemeldet hatte. Diese Reise bedeutete ihm sicher sehr viel.

»Wollen wir los? Bestimmt wartet Diego schon auf uns.«

»Ja, gerne.« Jean schloss hinter Samuel die Tür.

Die zehn Männer trafen sich auf dem Parkplatz hinter der Pension. Alle trugen große und zum Teil sicher sehr schwere Rucksäcke.

»Da seid ihr ja, Tomas und Jayden. Nennt euch am besten jetzt so, damit ihr die Namen nicht vergesst«, sagte Diego, der im Tageslicht noch ungepflegter aussah, als in der zwielichtigen Kneipe.

»Ja.« Tomas nickte.

»Das ist Luìz. Luìz wird nach mir euer Ansprechpartner sein. Wenn ihr euch an seine Anweisungen haltet, kann euch nichts passieren.«

Ein dunkelhäutiger Mann mit viel zu großer Kleidung stellte sich neben Diego und nickte. Er sagte irgendetwas auf Französisch, das Jayden nicht verstand.

Tomas lag die Frage nach den Funai auf der Zunge, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, sie zu stellen.

»So, los jetzt.« Diego klatschte in die Hände und führte die Gruppe zu einem Kleinbus, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr durch den nächsten TÜV kommen würde. Diego und Luìz setzten sich nach vorne, während sich der Rest auf die hintere Bank quetschte. Jayden saß neben Tomas und einer riesigen Maschine, die aussah wie ein überdimensionierter Staubsauger.

»Was ist das?«, fragte Jayden und deutete auf das Ding neben ihm.

»Das ist einer unserer Sauger«, antwortete einer der Männer, der sich José nannte.

»Aha.« Jayden verstand so gut wie kein Wort, denn der Mann sprach ein so undeutliches Englisch, dass es ihm in den Ohren schmerzte. Als sich ihre Blicke erneut trafen, zauberte er ein Lächeln auf sein Gesicht. Doch Jayden musste sich unwillkürlich schütteln, weil dabei zwei verfaulte Zähne zum Vorschein kamen.

Das Auto fuhr durch die Straßen von Boa Vista, bis sie an einer großen Wiese stehenblieben.

»Komm, komm.« Der Mann, der gleich neben der Tür saß, hieß Franck. Er öffnete die Hintertür und ließ alle hinaus. Franck war der Aufpasser. Zeit war Gold. Jede Verzögerung brachte die Kolonne in Verzug.

Ein Helikopter stand schon mit offenen Türen bereit.

Diego reichte dem Piloten nach einigen Worten einen kleinen Sack und winkte die Männer zu sich. »Ich werde in ein paar Tagen nach euch sehen«, sagte er zu Luìz und verabschiedete sich ohne ein weiteres Wort.

Als sich alle übrigen Männer in den Hubschrauber gesetzt hatten, wurde die Tür geschlossen und der Pilot ließ die Maschine abheben.

Jayden wusste nicht, wie weit oder wie lange der Helikopter geflogen war, denn er war eingenickt. Erst als der Motor erstarb und Tomas ihn an der Schulter rüttelte, wachte er auf. Der Jetlag nagte doch mehr an ihm, als er zugeben wollte. Die Männer schulterten ihre Rucksäcke und machten sich für einen Fußmarsch bereit. Der Weg führte sie durch Wald, Geäst und Gestrüpp, bis sich ein Fluss wie ein dunkelblaues Laken vor ihnen ausbreitete.

Mehrere kleine Boote brachten sie weiter flussabwärts. Selbst als die Nacht hereinbrach, paddelte Luìz noch unermüdlich weiter. Es wurde in Etappen geschlafen, so dass immer zwei Männer die Augen aufhalten mussten. Jayden fühlte sich, als hätte er seit Tagen in diesem kleinen Boot gesessen. Seine Glieder wurden immer schwerer und seine Arme spürte er schon gar nicht mehr.

Tomas und Jayden waren froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren, nachdem Luìz das Boot endlich ans Ufer gesteuerte hatte. Jayden streckte sich. Er schwankte etwas und wollte sich auf einen umgestürzten Baumstamm setzen, aber Luìz schüttelte den Kopf. Müde lief er den anderen Goldsuchern hinterher. José lächelte erneut und winkte Jayden zu sich.

»Wir sind bald da. Keine Angst. Als ich das erste Mal dabei war, ging es mir genauso.«

Jayden richtete seinen Rucksack.

»Wir sind gleich da«, sagte auch José und lächelte erneut.

Doch offenbar war auf Josés Aussage kein Verlass, denn der Fußmarsch wollte einfach kein Ende nehmen.

3

London, 2014

Der graue Dunst legte sich wie eine dicke Wolke auf die Stadt und machte ihr das Atmen schwer. Ich liebte die graue Welt von London, obwohl es auch genügend sonnige Tage dort gab. Oft habe ich Klassenfahrten nach London organisiert und schon in vielen der eleganten Londoner Hotels gewohnt. Die Stadt war mir also bekannt.

Nie zuvor war es mir jedoch ein Anliegen gewesen, Clark Owen kennenzulernen. Mehr als tausend Fragen dazu verfingen sich wie ein Wollknäuel in meinem Kopf. In meiner Tasche brannte der Brief. Er war der Schlüssel zu meiner Herkunft.

Ich atmete noch einmal tief durch.

Natürlich kannte ich nicht jeden Winkel dieser wunderschönen Stadt, aber ich bemühte mich, allein zurechtzukommen. Unter dem Terminal 5 befand sich die Subway-Station von Heathrow. Dort stieg ich in die Piccadilly Line ein. Ich musste meinen Arm ganz lang machen, um an einen der Handgriffe an der oberen Stange heranzukommen. Links und rechts quetschten sich Männer und Frauen an mir vorbei. Viele Geschäftsleute mit Aktentaschen und hektischen Blicken auf ihre Uhren, schlossen sich bei jedem Halt der Subway dem Strom von Menschen an. Ich musste erst am Piccadilly Circus aussteigen und hatte daher Gelegenheit, noch einmal dem Treiben zuzusehen, bevor ich selbst ein Teil davon wurde.

»Zum Glück habe ich meinen Koffer in einem Schließfach auf dem Flughafen gelassen«, dachte ich, als ich mich aus den Klauen der Bahn befreit hatte. Meines Wissens befand sich diese Station fast einunddreißig Meter unter der Erde. Wahnsinn, wenn man bedenkt, dass all dies von Menschen erschaffen wurde.

Auf der Rolltreppe stellte ich mich ziemlich weit nach rechts, denn für eilige Menschen war die linke Seite reserviert. Ununterbrochen gingen Geschäftsleute oder andere Reisende auf der linken Seite der Rolltreppe hinauf und hinunter.

Das Tageslicht begleitete mich auf den Straßen, bis die Häuser allmählich zu hoch wurden und die Sonne immer wieder für kurze Momente hinter den Mauern verschwand.

Als der Soho Square in Sicht kam, verkrampften sich meine Eingeweide. Meine Atmung wurde schwerer und ich hasste meine Mutter dafür, dass sie jetzt schon von mir gegangen war. »Warum?«, dachte ich und hätte am liebsten wieder losgeheult. Sie war meine engste Vertraute gewesen und hatte mich doch all die Jahre getäuscht.

Bevor ich zu dem Haus ging, in dem mein Vater gewohnt hatte, oder noch wohnte, machte ich noch einen Abstecher in den kleinen Park. Allerdings war hier alles viel größer als bei uns in Schleswig-Holstein. Ich schmunzelte, als ich die vielen Skulpturen von Bruce Denny auf den Grünflächen sah. Besonders »The Conversion of St. Paul« hatte es mir angetan. Ein Reiter auf einem steigenden Pferd. Die eine Hand hielt er in die Luft, als schütze er seine Augen vor der Sonne. Aber das war nur eine Vermutung meinerseits. Ich schlenderte weiter und traf auf die Statue »Charles II«. Er stand vor einem kleinen Knusperhäuschen. Sicher hätte es auch ein Toilettenhäuschen auf Sylt sein können, aber es passte in diesen Park, wie das Holstentor zu Lübeck.

Auf einer der Bänke in der Nähe versuchte ich zu entspannen. Die Reise nach Hamburg, der Flug und die Fahrt mit der Piccadilly Line hatten ihre Spuren hinterlassen. Hätte ich mich in diesem Moment zurückgelehnt, wäre ich eingeschlafen.

Ich holte den Brief aus der Tasche und nahm das Foto aus dem Umschlag. Vielleicht würde ich darauf irgendwelche Hinweise finden. Aber nichts. Es brachte kein Licht ins Dunkel.

Der Ring, den ich extra in eine Seitentasche getan hatte, musste ein Erbstück gewesen sein. Ein romantischer Ring, Silber oxydiert, mit einem herzförmigen roten Stein. Ich setzte ihn auf meinen Finger und hielt meine Hand ein Stück in die Luft.

»Wirklich hübsch«, murmelte ich und setzte ihn wieder ab. Wenn meine Mutter ihn nicht hatte tragen wollen, dann sollte ich ihn erst Recht nicht aufsetzen.

Es nieselte. Ich tat alles zurück in meine Tasche und machte mich auf den Weg zu den gegenüberliegenden Häusern. Ein kleiner Pub mit einer roten Reklametafel weckte meine Aufmerksamkeit. Auf dem Schlüsselanhänger war das gleiche Emblem abgedruckt wie auf dem Schild am Pub. Also musste eine Verbindung zwischen der Kneipe und meiner Mutter bestehen. Doch was sollte meine Mutter in einer Bar gemacht haben? Ich suchte nach der Hausnummer und begriff erst später, dass neben dem Pub eine Treppe zu einer Haustür hinaufführte. Ich nahm jede Stufe mit einem lauten Herzschlag.

Auf dem Klingelschild stand wirklich Owen.

Kurz bevor ich läutete, atmete ich noch einmal tief durch.

»Hallo«, sagte eine freundliche Stimme.

Dieser englische Dialekt war einfach zu entzückend.

Ich lächelte der jungen Frau entgegen. »Hallo.«

 

Als Englischlehrerin sollte mir das Sprechen dieser Sprache keine Schwierigkeiten bereiten, aber offenbar befanden sich gerade alle englischen Wörter auf Wanderschaft. Kurz gesagt, ich bekam keinen ganzen Satz zustande. Deshalb hielt ich ihr einfach den Brief unter die Nase.

»Hier.« Ich befahl mir, Ruhe zu bewahren, doch ich konnte sie kaum hören, so sehr pulsierte das Blut in meinen Adern.

»Was ist das? Was wollen Sie von mir?« Die junge Frau mit den großen Augen und dem dunklen Wuschelkopf zog die Augenbrauen merklich zusammen.

»Ich suche Clark Owen«, brachte ich mühsam hervor.

»Kenne ich nicht. Bitte gehen Sie«. Die Frau drückte mir den Brief wieder in die Hand und schloss ohne ein weiteres Wort die Tür.

Perplex blieb ich für einen Moment auf dem Podest vor der Tür stehen. Erst nach einer Weile stieg ich langsam die Treppe herab. Unten hielt ich an und blickte durch die dicken verdunkelten Gläser des Pub.

Drinnen war es schummrig, aber gemütlich. Frauen konnte ich nicht erkennen. Vielleicht kamen sie erst später. Einige Männer, die sicher schon seit dem Morgen am Tresen saßen, hielten ihr Bierglas fest in der Hand.

Sollte ich hineingehen und mich nach Clark Owen erkundigen? Oder lieber wieder gehen? Ein Blick auf die Uhr nahm mir die Entscheidung ab. Ich musste schleunigst zurück zur Piccadilly Line, mein nächster Flieger würde schon bald starten. Hektisch brach ich auf.

4

»Herzlichen willkommen in Newcastle!« stand auf der Ankunftstafel über dem Flughafenausgang. Jetzt musste ich mich nur beeilen, den Busbahnhof zu erreichen, damit der Bus nicht ohne mich losfuhr.

Der Bus brauchte länger als geplant. Mehrere Baustellen brachten den Verkehr ins Stocken, außerdem zählte ich drei Traktoren, denen wir hinterherschleichen mussten.

Es war schrecklich. Kein Fenster ließ sich öffnen und die Luft im Bus war drückend heiß. Mir lief der Schweiß über die Stirn. Dann, endlich hielt der Bus an und ich konnte aussteigen.

Ein Häuschen stand am Wegesrand. Es schien, als würde jemand darin wohnen. Vielleicht der Wachmann, wenn es einen gab. Ich nahm mein Gepäck und machte mich zu Fuß auf den letzten Rest des Weges.

Schon jetzt war mir klar, dass hier nicht irgendjemand als Gärtner beschäftigt war. Die Rosen blühten in voller Pracht, und die Hecke, die mich zum großen Herrenhaus geleitete, war absolut exakt geschnitten. Kein Blatt lag unordentlich oder war zu lang. Ich folgte dem Kiesweg bis zu einem schmiedeeisernen Tor, das von zwei hohen Buchsbäumen eingerahmt war. Das Haus, im georgianischen Stil gehalten, lächelte mir ein Willkommen entgegen. Ich konnte den Wein riechen, der sich wie eine Schlange an der Fassade emporschlängelte. Die großen Schiebefenster und die breite Haustür spendeten genügend Licht für die prächtigen Räume. Ich hatte schon viele Hotels und Pensionen besucht, aber dieses Haus war eindeutig das prächtigste.

An der Tür fing mich die Hausherrin ab. »Guten Tag. Sie müssen Mrs. Andrea Grewe sein?« Sie zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.

Ich nickte, dabei musterte ich die Frau. Sie musste in meinem Alter oder etwas älter sein, denn ihr Lächeln ließ Falten erkennen, die sie unter ihren Haaren zu verstecken versuchte.

»Ich hoffe, dass Sie gut hergefunden haben. Wir haben ein wunderschönes Zimmer für Sie hergerichtet. Sie sagten, dass Sie uns im August erneut mit Ihrer Schulklasse besuchen werden?« Die Dame ging zur Rezeption und blickte in ihr Buch.

»Ja.« Etwas anderes wagte ich im Moment nicht zu sagen. Wie hätte ich es ihr auch erklären können? Sie hätte sich kaum dafür interessiert, dass meine Mutter gestorben war und ich meinen Vater nicht kannte.

»Matthew wird Sie gleich auf ihr Zimmer bringen. Falls Sie etwas benötigen, zögern Sie nicht, nach Sophia zu fragen.« Sie legte ihre rechte Hand auf ihre vollbusige Brust. Mir fiel auf, dass sich an ihrem Ringfinger bis vor kurzem noch ein Ring befunden haben musste. Ein schmaler, weißlicher Streifen zeichnete sich auf der ansonsten gebräunten Haut ab.

»Danke.« Ich legte meine ausgedruckte Buchungsbestätigung auf den Tresen.

»Zum Datenabgleich bräuchten wir noch Ihren Personalausweis. Außerdem werden wir Ihr Konto mit 50 Pfund belasten.«

»Warum?« Ich zog die Stirn in Falten.

»Wegen der Minibar. Selbstverständlich werden wir Ihnen das Geld gutschreiben, wenn Sie nichts aus der Bar nehmen.«

»Ach so, natürlich, kein Problem.« Ich zog meine Kreditkarte aus dem Portemonnaie und gab sie Sophia.

»Danke.« Sophia nahm meine Karte und zog sie durch ein Lesegerät. Danach reichte sie sie mir zurück und lächelte kokett. »Bitte sehr. Haben Sie einen schönen Aufenthalt. Und falls sie etwas benötigen, lassen Sie es mich wissen.«

»Oh je«, dachte ich, »wie soll ich das bloß im August mit meiner Klasse überstehen?«

Sophia winkte einen jungen Mann heran und wies ihn an, mich auf mein Zimmer zu begleiten. Natürlich nahm er, wie es sich für einen Pagen gehörte, meinen Koffer.

Wir fuhren mit einem Fahrstuhl in den ersten Stock. Dabei hatte ich genügend Zeit, Matthew, so hieß der Page, wie sein Namensschild mir verriet, zu mustern. Er war ein Latino. Braungebrannte Haut, schwarzes Haar und ein charmantes Lächeln.

Er musste etwa halb so alt sein wie ich, denn er wirkte noch sehr kindlich. Vielleicht war er ein Adoptivsohn von Mrs. Sophia. Oder aber nur ein einfacher Arbeiter, der seine Frau und seine Kinder ernähren musste. Der Fahrstuhl hielt an und öffnete seine Türen. Matthew führte mich zu einem Zimmer im ersten Stock.

Der Ausblick war gigantisch. Eine wunderschöne Landschaft, an der ich mich nicht sattsehen konnte. Sophia musste mir das beste Zimmer gegeben haben, denn der Blick reichte bis zum Barmburgh Castle. Dort hatte ich für meine Klasse schon einen Besichtigungstermin vereinbart. Ich fragte mich, ob meine Mutter schon einmal hier gewesen war und strich mir durchs Haar. »Ähm, Matthew. Gibt es hier einen Internetzugang?«

»Ja, natürlich. Fragen Sie bei Miss Sophia nach dem WLAN-Schlüssel.«

»Ja, danke.« Ich griff nach meinem Portemonnaie und suchte etwas Kleingeld, um es Matthew zu geben. Danach schloss ich die Tür von innen und setzte mich auf das Korbsofa mit den cremefarbenen Kissen. Auf der Tapete waren zitronengelbe Blümchen abgebildet. Es passte alles perfekt zusammen!

Und ich war mittendrin. Es war kein Traum, ich war wirklich hier.

Nach dem Auspacken ging ich in die Dusche im angrenzenden Bad. Das heiße Wasser, das auf meinen Rücken prasselte, stimmte mich ruhiger. Nach der Dusche knetete ich meine Haare mit dem Handtuch trocken und genoss den Ausblick auf Northumberland.

Eine Stunde später ging ich zur Rezeption, um Sophia zu suchen.

»Hallo, Andrea. Was kann ich für Sie tun?« Sie lächelte.

»Ich wollte nach dem WLAN-Schlüssel fragen. Bei dem schönen Wetter möchte ich nach draußen auf die Terrasse.« Ich nickte mit dem Kopf Richtung Tür.

»Ja, warten Sie.« Sophia suchte in einem Buch nach dem Pin-Code und schrieb mir die Nummer auf.

»Danke.«

»Gern geschehen.«

Ich folgte dem Duft von Rosen, Lavendel und weiteren wunderschönen Blumen hinaus in den Garten. Eine schmiedeeiserne Bank stand unter einem breiten Apfelbaum. Genau der richtige Platz für mich. Mit drei großen Schritten war ich bei der Bank und machte es mir darauf bequem. Mein Blick glitt über den Rest des Grundstücks. Meine Mutter hätte sich hier nicht sattsehen können. Damals hatten wir einen kleinen Schrebergarten, den wir aber schon bald aus Zeitmangel aufgeben mussten.

Ihre Gemüsebeete und ihre Blumen hatte sie immer vermisst.

Bei diesem Gedanken verirrte sich eine Träne auf meiner Wange, die ich sofort wegwischte, als ich hinter mir ein Summen hörte. Neugierig drehte ich den Kopf, so gut es ging. Ein Mann, ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, fuhr mit einem Rasenmäher über den Kiesweg. Ich fand, dass der Rasen vorbildlich aussah und verstand nicht, warum er ihn mähen wollte. Bevor der Mann den Motor anstellte, schaute er sich um. Unsere Blicke trafen sich. Ich drehte mich wieder weg und wünschte mir, unsichtbar zu sein. Aber sofort näherten sich Schritte und meine Wangen begannen zu glühen.

»Hallo«, sagte der Gärtner

»Hallo.« Sei kein Kind, rügte ich mich und atmete tief durch, bevor ich mich ihm zuwandte. Was dachte er bloß über mich?

Er lächelte, bevor er mir die Hand reichte. »Christopher Collins.«

»Andrea Grewe.« Ein verlegenes Lächeln huschte mir über die Lippen.

»Sie kommen nicht aus England?«

»Nein, ich komme aus Deutschland.«

»Oh, wirklich? Ich war auch schon mal dort. Hat mir sehr gut gefallen.«

»Ja, es ist schön dort, aber hier ist es auch wunderschön. Ich liebe den Garten. Sind Sie hier der Gärtner?«

»Ja, schon.« Christopher legte sich vor Lachen die Hand auf den Bauch. »Eigentlich bin ich einer der Eigentümer, doch nach der Trennung von meiner Frau ...«

»Oh, das tut mir leid.«

»Das muss es nicht. Mir ist es nur ein Rätsel, warum Frauen im reifen Alter sich so oft jüngere Partner angeln.« Er kratzte sich an der Schläfe.

»Bestimmt aus dem gleichen Grund, aus dem Männer es tun«, antwortete ich unbekümmert.

»Mm.« Darauf wusste er nichts mehr zu sagen.

»Also sind Sie rein rechtlich immer noch der Eigentümer. Aber sicher denken viele, dass Sie nur der Gärtner dieses wunderschönen Anwesens sind.«

»Genau so sieht's aus.«

»Dann ist Sophia Ihre geschiedene Frau?«

Christopher schaute zum Haus zurück. Seine blaugrauen Augen wirkten traurig. »Wissen Sie, dass das Haus vor Jahren im Besitz eines Lords war?«

»Nicht schlecht. Ich muss Ihnen sagen, dass ich die Gartenanlage einmalig finde. Es ist ein Ort zum Entspannen. Wunderschön!«, betonte ich nochmals.

»Danke. In jungen Jahren habe ich eine Ausbildung im Garten-und Landschaftsbau gemacht. Erst danach habe ich beschlossen, noch eine weitere Ausbildung in der Gastronomie zu machen.« Er lächelte verschmitzt.

»Das finde ich toll. Ich bin Englisch- und Kunstlehrerin.«

»Das ist bestimmt anstrengend.«

»Manchmal. Aber solange es Spaß macht.« Ich rutschte auf der Bank an die Lehne. »Möchten Sie sich nicht setzen.« Mit der freien Hand, die nicht das Netbook festhielt, klopfte ich auf den Platz neben mir, als würde ich einen Hund ermutigen, auf die Bank zu hüpfen.

»Sehr gerne. Danke.« Er setzte sich, beugte sich etwas vor und verschränkte die Finger. »Sind Sie ganz alleine hier?«

»Ja, ich brauche ein bisschen Zeit für mich.« Ich klappte das Netbook zu und legte die Hände darauf. »Manchmal braucht man Zeit, um Dinge im Leben zu verarbeiten.« Ich musterte Christopher. Sein schwarzes Haar, das sich an den Seiten schon merklich grau färbte und die Ruhe, die er mir gegenüber ausstrahlte. Sofort hatte ich das Bedürfnis, ihm mitzuteilen, warum ich auf der Insel war. »Ich ...«

»Haben Sie ...«

Wir begannen gleichzeitig, weiterzusprechen und mussten unwillkürlich lachen.

»Sie zuerst«, sagte Christopher.

»Nein, bitte.«

»Okay, ich gebe mich geschlagen. Also, haben Sie auch eine Trennung hinter sich, wenn ich fragen darf?«

»Jein, also schon irgendwie.« Ich schniefte kurz, was Christopher bemerkte.

»Was ist geschehen?« Er wandte sich mir zu. Für einen kurzen Moment hoffte ich, dass er seine Arme um mich schlingen würde, doch das tat er nicht. Deshalb versuchte ich, meine Tränen schnell wegzuwischen.

Christopher legte eine Hand auf meine Schulter.

»Ich, ich habe ...« Ich bekam keinen Satz heraus. Ich räusperte mich, schluckte und begann die Worte zu sortieren. »Ich habe meine Mutter verloren. Sie ist vor drei Wochen gestorben.«

»Oh, mein Beileid.«

Ich spürte, wie schnell Christopher sich in meiner Gegenwart unwohl fühlte. Vielleicht konnte er mit solchen Nachrichten nicht umgehen. Womöglich hatte er Angst, die Menschen mit falsch gewählten Worten zu verletzen. »Unter ihrem Bett habe ich eine Kiste mit persönlichen Dingen gefunden«, sprach ich trotzdem weiter. »Unter anderem einen Brief, in dem sie damals meinem leiblichen Vater mitteilte, dass er eine Tochter hat. Aber der Brief kam mit der Aufschrift ›Empfänger verzogen‹ wieder zurück.«

»Oh, je. Und was wollen Sie jetzt tun?«

»Ich war bei der Adresse. Auf dem Klingelschild stand der Name Owen, der Nachname meines Vaters. Aber eine Frau war an der Tür. Mit ziemlicher Sicherheit wusste sie etwas, aber sie stellte sich unwissend.« So, jetzt war raus, was es zu sagen gab. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

 

»Das klingt sehr interessant. Warum denken Sie, hat Ihre Mutter Ihnen den Vater vorenthalten?«

»Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat sie sich geschämt. Sie hat mir immer erzählt, dass mein Vater noch vor meiner Geburt gestorben ist.«

»Vielleicht wollte Ihre Mutter Sie aber auch schützen?« Christopher legte einen Finger an die Lippen.

»Keine Ahnung.« Erneut zuckte ich mit den Achseln.

»Ich könnte doch mal nach ihm googeln. Natürlich nur, wenn Sie es wollen.«

»Ja, das wäre sehr nett.«

Hatte ich ihm jetzt zu viel über mich verraten? Ich war mir nicht sicher, doch musste ich mich in meiner Trauer jemanden anvertrauen und dieser Christopher wirkte Vertrauenswürdig.

Euphorisch stand Christopher auf. »Aber vorher muss ich noch den Rasen mähen. Bis nachher.«

Ein interessanter Mann, dachte ich mir.

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