Das Lachen der Yanomami

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7

Amazonien, 1993

Jemand schrie so laut, dass sich die Vögel aus den Bäumen in den Himmel verabschiedeten. Tomas und Jayden schlugen die Äste wie nervtötende Fliegen zur Seite. Sie sahen mehrere Männer, wahrscheinlich ebenfalls Goldsucher, sich zwei Ureinwohnerinnen gegriffen hatten und versuchten, sie mit Gewalt in den Wald zu schleifen. Am liebsten wäre Jayden in den Fluss gesprungen und ans andere Ufer geschwommen. Doch Tomas hüstelte plötzlich und verschwand hinter ihm im Dickicht.

»Hey, Tomas. Was machst du? Wo willst du hin?«, fragte Jayden und folgte Tomas. Mit schnellen Schritten holte er ihn ein und stellte Tomas zur Rede.

»Was ist denn?«

Jayden verspürte Zorn, der wie die Lava in einem Vulkan brodelte. »Tief durchatmen«, dachte er. »Wieso gehst du? Wie müssen doch etwas tun.«

»Was denn? Wie können wir etwas tun, wenn wir wissen, dass sich alle gegen uns stellen würden?«

»Woher willst du das wissen? Wir sollten mit Diego sprechen, wenn er das nächste Mal zu uns kommt. Oder ich spreche mit Luìz, wenn wir zurück im Dorf sind.« Jayden stemmte die Hände in die Hüften.

»Und was willst du ihm erzählen, warum du die Grube verlassen hast?«, fragte Tomas.

»Na ja, um Ausschau zu halten.« Er zuckte mit den Achseln. Jayden wusste selbst, dass er sich nicht glaubwürdig anhörte, doch was blieb ihm anderes übrig.

Am Abend, als Luìz auf einem der Baumstämme saß und zu Abend aß, machte Jayden sich auf den Weg zu ihm. »Hallo, was für ein anstrengender Tag«, sagte er und setzte sich neben Luìz.

»Mm«, knurrte dieser schmatzend.

»Weißt du, ich muss mal mit dir reden.«

»Willst du nach dieser Grube das Camp verlassen?«, fragte Luìz. Er warf den Knochen, an dem er genagt hatte, zu Boden und leckte einen Finger nach dem anderen ab. Jayden fand das recht unhygienisch, denn seine Finger waren nicht besonders sauber, aber das interessierte hier niemanden.

»Nein, darum geht es nicht.« Jayden zögerte, bevor er weitersprach. »Ich bin in den kurzen Pausen in den Wald gegangen und habe dort andere Menschen am Fluss entdeckt.«

»Du hast was?«, rief Luìz bestürzt aus.

»Ich war im Wald und habe dort Frauen beim Fischen und Waschen entdeckt. Es müssen die Ureinwohner von Amazonien sein.«

»Da bist du dir ganz sicher?«, fragte Luìz. Er hatte sich bereits gerade aufgesetzt.

»Mm, ich glaube schon. Aber ich erzähle es dir, weil fremde Goldsucher dort waren und sich zwei Frauen gegriffen haben.«

»Das ist ja unerhört«, murmelte Luìz.

Doch Jayden konnte ihm aus dem Gesicht lesen, dass es ihn nicht wirklich tief berührte.

»Am besten zeigst du uns die Stelle und wir werden mit ihnen reden. Wir werden ihnen sagen, dass sie sich in Acht nehmen und sich lieber bei ihren Hütten aufhalten sollten.«

»Okay, das ist gut. Wann brechen wir auf?«

»Wann warst du das letzte Mal da? Sie werden sich sicher nicht den ganzen Tag dort aufhalten.«

»Am späten Vormittag.« Vielleicht werden wir sie aber auch nicht antreffen, denn durch die Entführung könnten sie schon vorsichtiger geworden sein, sagte sich Jayden stumm.

»Okay, dann treffen wir uns auf dem Platz.« Luìz stand auf und wollte gehen. Dann drehte er sich noch einmal um. »Und dieses Mal pünktlich.«

Am darauffolgenden Vormittag wartete Jayden auf Luìz. Er war aufgeregt und wippte mit seiner Fußspitze zum Takt der lauten Motoren. José, Franck und Tomas schlossen sich Jayden und Luìz an.

Sie folgten Jayden ohne große Worte. Sie achteten nicht auf die Wurzeln, die sich aus dem Boden reckten oder die Pflanzen, die ihre Fühler auf die Pfade streckten. Es war eigentlich traurig, wie sehr die Gruppe die Natur verabscheute. Hauptsache, Gewinn machen, dachte Jayden und blieb kurz vor dem Flussufer stehen. Er lauschte und konnte die Strömung hören. Wie wild und treibend sie das Wasser aufforderte. Dann nahm er die letzten Zweige weg und stellte sich an die Seite, damit die übrigen Goldsucher etwas sehen konnten.

Wieder plantschten einige Kinder im Wasser, während andere dabei waren, Körbe in den Fluss zu lassen.

»Sind da auch Krieger bei?«, fragte José in seinem schlechten Englisch.

»Ich glaube nicht«, sagte Franck und trat direkt ans Ufer.

»Pass auf, die Strömung ist heute besonders stark.«

»Was macht ihr denn?«, fragte Jayden aufgebracht. Er wollte Franck am Hemd festhalten, doch dieser riss sich los.

»Was die anderen machen, können wir schon lange.« Luìz schubste Jayden ins Gebüsch, so dass dieser wie eine Schildkröte auf dem Rücken lag.

Wie betäubt blieb er liegen. Was sollte das? Er hatte nur einen Moment nicht aufgepasst oder nicht damit gerechnet, dass die Kameraden zu so etwas fähig wären. Er wollte doch nur, dass sie sich mit den Frauen unterhielten, damit sie vorsichtiger wären. »Hallo! Hallo!«, schrie Jayden und winkte mit den Armen, nachdem er sich aufgesetzt hatte. Die Frauen hatten die Männer bereits gesehen und waren dabei, sich zurückzuziehen.

Da griff Franck mit seinen langen Armen nach einer schmalen Frau, die nicht so schnell lief, und hielt sie fest. »Ich hab eine«, schrie er und zog sie an sich.

Danach ging alles ganz schnell. José, Luìz und der schüchterne Tomas, der sich dem Gruppenzwang anschloss, hielten die sich windende Frau fest und trugen sie zurück ins Lager. Dort wurde sie in eine der Hütten gebracht und auf eine Pritsche gelegt. Mittlerweile hatten sie ihr den Mund zugebunden und bei jeder Bewegung schlugen sie sie. Jayden, der sich an allem die Schuld gab, rannte hinter den anderen Goldsuchern her und war erschüttert, als er sah, was diese der jungen Frau antaten. Einer nach dem anderen verging sich an ihr. Am liebsten hätte er laut aufgeschrien, die Männer weggestoßen und die junge Frau genommen, damit sie wieder zu ihrer Familie in den Wald flüchten konnte. Doch natürlich hielten die Kameraden zusammen und versperrten den Weg zur Hütte, während einer von ihnen sie nahm.

Noch lange war das Gejohle der Goldsucher zu hören, aber Jayden hörte es nicht mehr.

Er war auf dem Weg zum Fluss. Dort würde er sich ein stilles Plätzchen suchen und sich rügen. Er ganz allein hatte eine Frau auf dem Gewissen. Sie würde nie mehr so wunderschön sein, nie mehr lachen können. Und das war alles seine Schuld. Wie konnte er jemals wieder in den Spiegel sehen?

Jayden blickte zum Himmel. Ob Molly noch schlief? Er hatte schon so lange nicht mehr mit ihr telefoniert oder ihr geschrieben. Dabei hatte er doch gar nicht so lange auf diesem Kontinent bleiben wollen. Aber er konnte Tomas nicht allein hier zurücklassen. Was seine Kinder wohl machten? Skye und Faith. Sie waren schon lange erwachsen, aber sie wohnten beide noch zu Hause. Was machte es schon, schließlich hatten sie genug Platz. Skye, die Älteste, mit ihren vielen Bekanntschaften. Seine jüngste, Faith, die mit ihren achtundzwanzig Jahren immer noch Jungfrau war. Zumindest vermutete er es, denn sie hatte immer gesagt, dass Sex vor der Ehe eine Sünde sei.

Er vermisste sie. Er vermisste sie alle drei.

8

Am nächsten Morgen wachte Jayden von seinem eigenen Niesen auf. Als er die Augen öffnete, entdeckte er über sich ein Blatt, das an einem Ast befestigt war und sich seiner Nase näherte. Erschrocken wandte er den Blick und sah einen kleinen Jungen, der ihn mit einem Blatt kitzelte und sich dabei freute wie ein Honigkuchenpferd.

»Hallo, du bist ja ein süßer Kerl«, sagte Jayden und wollte sich aufraffen.

Doch der Junge hielt im abwehrend das Blatt vor die Brust. Dabei sagte er etwas in einer Sprache, die Jayden nicht verstand. Dann sprang der Junge ins Wasser und schwamm flink wie ein kleiner Heuler auf die andere Seite. Ungläubig blickte Jayden ihm hinterher und als der Junge sich umdrehte und ihm zuwinkte, konnte Jayden nicht anders. Er watete ebenfalls ins Wasser. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, denn der Boden war schlickig.

»Warte auf mich«, rief Jayden, aber der Kleine flitzte in den Wald und versteckte sich hinter einem Baum. »Was mache ich hier überhaupt?«, fragte Jayden sich und blickte zurück zu seinem Schlafplatz. Kurz überlegte er, ob er nicht doch zurückgehen sollte. Er gehörte schließlich zu den Goldsuchern. Aber was hielt ihn da noch? Alle, bis auf Tomas, waren gegen ihn. Er war der Waschlappen zwischen den harten Kerlen. Aber konnte er den Freund seines Vaters zurücklassen? Die beiden waren zusammen im Krieg gewesen und Kameraden ließ man nicht zurück.

Während Jayden im Wasser stand, bemerkte er nicht, dass einige Fische auf ihn aufmerksam geworden waren. Der schmerzhafte Biss eines Piranhas ließ ihn aufschreien und flüchten. Da er den Fluss schon halb durchquert hatte, schwamm er auf die andere Flussseite, zu dem Jungen. Dieser hatte seine Finger in den Mund genommen und hüpfte aufgeregt am Wasser herum. Mit letzter Kraft zog Jayden sich aus dem Wasser. Der Piranha hatte ein Stück Fleisch aus seinem Unterschenkel gebissen. Blut tropfte aus der Wunde. Jayden brauchte dringend ärztliche Versorgung. Vor Schmerzen wurde ihm schwindelig und er legte sich hin. Der kleine Junge fühlte seine Stirn und lief davon.

Mehrere Minuten waren vergangen, als der kleine Junge mit einem großen Mann zurückkam. Dieser trug ebenfalls eine Ponyfrisur, wie Jayden später feststellte. Seine Oberarme waren mit Federn geschmückt und sein Penis war an einer Schnur hochgebunden. Der Mann trat näher und legte Jayden eine Hand auf die Stirn. Der kleine Junge zeigte dem Mann Jaydens aufgerissene Hose und folgte seinen schnellen Anweisungen. Jayden hatte Glück gehabt. Er hatte schnell reagiert, so dass der Piranha ihn nur leicht erwischt hatte. Trotzdem tropfte das Blut aus der Wunde. Ein Piranha fixiert zunächst seine Beute, schießt dann wie eine Kugel auf sie zu und beißt. Anschließend macht er eine Rüttelbewegung, mit der er ein Stück Fleisch entfernt. Jayden hatte sich zwischen Biss und Rüttelbewegung befreien können und so nur ein kleines Stück Fleisch verloren. Doch durch den Blutverlust war er sehr erschöpft. Er schloss die Augen.

 

Als Jayden die Augen wieder öffnete, lag er in einer Hängematte. Er erschrak, als er die vielen Ureinwohner sah, die ihn neugierig anstarrten. Die Männer standen um ihn herum, während die Frauen mit ihren Kindern auf dem Schoß saßen. Sein Blick glitt zu dem verwundeten Bein. Es war abgebunden und schmerzte höllisch.

Ein Mann, der Jayden bekannt vorkam, sagte etwas und kam auf ihn zu. Er hatte einen Krug mit Wasser und flößte Jayden etwas Flüssigkeit ein.

Die übrigen Männer traten dichter an sein Bett und hockten sich hin. Ein älterer Mann trug ein meterlanges Rohr, das er sich vor die Nase hielt. Jayden konnte an seinen kleinen, müden Augen erkennen, dass er durch das Rohr etwas zu sich nahm. Er fragte sich, ob es eine Droge war und schlief wieder ein.

Zwei Tage vergingen, in denen Jayden nicht aus den Augen gelassen wurde. Nachdem er sich etwas erholt hatte, konnte er die Rundhütte, in dem ein ganzes Dorf Platz fand, verlassen. Er nannte sie liebevoll sein »kleines Zirkuszelt«.

Die Baumstämme auf dem Dorfplatz bildeten einen Ort der Gemeinschaft. Er spielte mit den Kindern »Hoppe, hoppe Reiter«. Die Kleinen stellten sich immer wieder aufs Neue an, um es noch einmal zu spielen. Dabei zogen sie ihn an den Brusthaaren, denn da die Ureinwohner glatthäutig waren, kannten sie so eine Behaarung nicht. Alles Neue musste bestaunt, angefasst und lautstark diskutiert werden, auch wenn Jayden nicht ein einziges Wort verstand. Zu den Mahlzeiten bekam Jayden von den Frauen Bananenbrei in einer Kürbisschale gereicht. Es schmeckte süßlich und war eines der besten Gerichte, die Jayden in den letzten Monaten gegessen hatte. An den Abenden bemalten sich die Männer mit schwarzer oder roter Farbe. Entweder war ihre Haut mit Ringen verziert oder es zogen sich Wellen über den gesamten Körper. Federn schmückten die Oberarme und manchmal auch die Beine. Dann wurde wild getanzt, was manchmal mehrere Stunden dauerte. Jayden hatte noch Mühe, das Gewicht auf sein krankes Bein zu verlagern, so dass er als stiller Beobachter auf einem der Baumstämme saß.

Dabei beobachtete er die jungen Frauen und rief sich eine Szene aus seiner Vergangenheit ins Gedächtnis. Skye und Faith waren nach einem Fest von der Schule nach Hause gekommen. Sie trugen bunt bemalte Kleider, waren im Gesicht bemalt und ihr Kopf wurde von Federn geziert. Sie klingelten und als Molly öffnete, liefen sie mit wildem Geschrei durch das Haus auf Jayden zu. Er saß mit einem Glas Wein auf dem Sofa und war gerade dabei einzudösen, als er von zwei Indianerinnen attackiert wurde. Erschrocken schnellte er aus der Couch hoch und der Wein aus seinem Glas ergoss sich über Couch und Teppich. An diesen Moment klammerte Jayden sich fest, denn es war einer der wunderschönen Tage gewesen, an denen nichts wichtiger war, als mit der Familie vereint zu sein. Nicht einmal Molly hatte zu dem Weinfleck auf der Couch etwas gesagt. Sie setzte sich einfach neben ihren Mann und lachte, während die beiden Krieger ihre Gefangenen fesselten.

Ein junges Mädchen, holte ihn aus seiner Erinnerung in die Wälder von Amazonien zurück.

»Hallo«, sagte Jayden verblüfft und lächelte das Mädchen an. Sie musste sicher schon siebzehn oder achtzehn sein, wenn nicht älter. Vielleicht sogar verheiratet? Jayden wusste es nicht. Er spürte nur ihre Finger auf seiner Haut. Sie trug ihm rote Pflanzenfarbe auf, die als Schmuck oder auch als Schutz gegen Insekten diente. Jayden ließ die Einbalsamierung über sich ergehen. Die Farbe fühlte sich erst kalt auf der Haut an.

Jayden lächelte das Mädchen an. Sie war ziemlich klein und schmal für ihr Alter, dachte er und schmunzelte. »Ich heiße Jayden«, stellte er sich vor und legte seine Hand auf den Brustkorb. »Jayden«, wiederholte er seinen Namen.

Doch das junge Mädchen kniff nur die Augen zusammen. Sie öffnete leicht den Mund.

»Jayden«, sagte er erneut.

»Ja..y...d...en«, brachte das Mädchen hervor.

»Ja, ganz richtig. Ich heiße Jayden und wie heißt du?« Jayden zeigte mit dem Finger auf das Mädchen.

Aber sie verhielt sich nicht so, wie Jayden es erwartet hatte. Sie senkte den Kopf und wandte sich von ihm ab. Verstanden hatte sie ihn sicher nicht, denn niemand hier sprach seine Sprache.

Erst später sollte Jayden erfahren, warum sie so abweisend zu ihm gewesen war.

9

Northumberland, 2014

Die Nächte waren am schlimmsten.

Immer ließen Träume mich am Leben meiner Mutter teilhaben. Ich beobachtete sie, während sie ruhig in ihrem Bett schlief, wachte über sie, wenn sie krank war und tröstete sie, wenn sie Kummer hatte. Und nun, wo ich vor Trauer sterben wollte, kam sie nicht zurück. Und in der Nacht kamen die Dämonen der Vergangenheit und schlichen sich im Kreis um mein Bett herum an mich an. Ich spürte deutlich die Angst in meinen Gliedern und wünschte mich in die Arme meiner Mutter. Ich suchte sie und rief nach ihr, doch sie kam nie. Wenn ich dann aufwachte, musste ich traurig feststellen, dass sich nichts geändert hatte. Meine Mutter war immer noch verstorben und ich war immer noch im nördlichen England, um mich zu erholen. Eine Träne verlor sich auf meiner Wange.

Die Tage zogen wie ein immer wiederkehrender Zug an mir vorbei. Die Trauer hätte meinen Tag bestimmt, wenn nicht Christopher die Lücke in meinem Leben ein wenig erhellt hätte. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich allein auf dieser Welt. Aber dem war nicht so, denn auch meine Freundin Mareike war immer für mich da.

Plötzlich schreckte ich hoch. Mareike! Ich hatte sie völlig vergessen. Die letzten Tage mit Christopher hatten mich so in Beschlag genommen, dass alles andere um mich herum nicht mehr wichtig war.

Gleich nach dem Frühstück versuchte ich, Mareike anzurufen, aber niemand hob ab. Ich schrieb ihr eine WhatsApp, damit sie auf dem Laufenden blieb. Schließlich hatte ich mich noch gar nicht bei ihr gemeldet. Eigentlich benutzte ich WhatsApp nur für Kurznachrichten, aber heute schrieb ich einen ganzen Roman. Es sollte nachher nicht heißen, ich hätte mich nicht bei Mareike gemeldet. Ich ging in den Garten und setzte mich auf die schmiedeeiserne Bank unter dem Apfelbaum und blickte zu der zugewachsenen Eisenpforte. Seit ich wusste, dass dort die Pforte stand, war meine Neugier kaum noch zu bändigen. Ich konnte meine Augen einfach nicht abwenden und stellte mir die grauenvollsten Dinge dahinter vor. Meine Phantasie war sehr lebhaft und ich konnte gute Geschichten erfinden, wenn ich wollte. Aber dies hier war keine meiner erfundenen Geschichten, dies war die Wirklichkeit und ich war mittendrin.

»Guten Morgen, Mrs. Grewe«, sagte eine Frauenstimme, die mich erstarren ließ.

Als ich mich umdrehte, sah ich in die wasserblauen Augen von Sophia.

»Oh, guten Morgen«, erwiderte ich ihren Gruß.

Sie sah aus, als hätte sie nicht gut schlafen.

»Ein herrlicher Morgen«, unterbrach ich die aufkommende Stille.

Sie stand einfach nur da und blickte mich strafend an. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, warum sie zu mir gekommen war. Sicher nicht, um mir einen schönen Tag zu wünschen. Innerlich zuckte ich mit den Achseln und fragte mich, was ich für sie tun könnte.

»Das stimmt.« Sophia blickte zum Himmel. Langsam schritt sie um die Bank herum.

»Wissen Sie, diese Bank hat schon vieles mitansehen müssen.« Dabei strich sie mit ihrer glatten Hand über die kunstvolle Lehne.

»Aha«, murmelte ich. Was sollte ich sonst sagen.

»Wenn Sie reden könnte, dann wäre sie die Kronzeugin in einem Fall.«

»Warum erzählen Sie mir das Mrs. Collins?« Mein Herzschlag wurde lauter.

»Ich habe Sie mit meinem Ehemann gesehen. Es hat mir nicht gefallen.«

»Aber Sie sind doch gar nicht mehr zusammen.« Ich rutschte in die andere Ecke.

»Hat er Ihnen das erzählt?« Sie ging weiter und lachte höhnisch.

Bitte, warum kam mir keiner zur Hilfe? Mir lief ein Schauer den Rücken hinab.

»Wir haben uns vor Jahren das Eheversprechen gegeben. Wir haben glückliche Zeiten und auch die schlechten Zeiten miteinander geteilt. Wir teilen tolle Neuigkeiten und schmutzige Geheimnisse. Ich freue mich über jeden Gast, aber ich hasse es, wenn jemand auf dem Grundstück herumschnüffelt und sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt.«

»Um Gottes Willen. Ich möchte mich nicht einmischen«, sagte ich schnell, denn ich konnte die feurigen Flammen in ihren Augen sehen, den Augen, die so freundlich gewirkt hatten.

»Gut, dann wäre ja alles geklärt.« Danach stolzierte sie wie ein schwebender Schwan über den Rasen zum Haus zurück. Ich war verwirrt. Warum hatte sie mir erzählt, dass sie und Christopher noch ein Paar wären? Natürlich waren sie verheiratet und somit in einer Weise verbunden, die nur verheiratete Paare nachvollziehen können. Aber Christopher hatte klar gesagt, dass es für die beiden keine Zukunft mehr gebe.

Ich beschloss, aufzustehen und es mir in meinem Zimmer gemütlich zu machen. Das Wetter war viel zu schön dafür, aber es schien mir vernünftig zu sein. So konnte ich Christopher ausweichen, ohne ihn zu verletzen.

Die Tage vergingen viel zu schnell und die Lesung meines Vaters stand unmittelbar vor der Tür.

An diesem Tag verschlief ich und das Aufstehen fiel mir besonders schwer.

Beim Frühstück bekam ich keinen Bissen runter, denn in meinem Magen rumorte es wie auf einer Baustelle. Als ich zum Haus schaute, konnte ich Sophia sehen. Es sah aus, als würde sie mich beobachten, aber vielleicht sah sie auch einfach nur aus dem Fenster.

Die letzten Tage hatte zumindest ich einfach nur aus dem Fenster gesehen. Von meinem Zimmerfenster aus hatte ich einen wunderschönen Blick. Ich beobachtete Christopher, wie er die Blumen versorgte und den Rasen mähte. Ich machte mir Gedanken über unsere Beziehung. Hoffentlich war er mir nicht böse, denn ich hatte ihm viel zu verdanken. Ich konnte mir nicht ausmalen, was er über mich dachte. Urplötzlich war ich aus seinem Leben verschwunden. Doch heute war ich auf ihn angewiesen und musste wie ein räudiger Köter an seiner Tür kratzen.

Ich klopfte erst einmal und dann ein zweites Mal.

»Ist wohl keiner da, hä?«, sagte eine Stimme hinter mir.

»Sieht wohl so aus«, sagte ich und wandte mich um. Ein Lächeln umspielte meine Lippen.

»Tja, ich hatte mich schon gefragt, was ich verbrochen habe.« Mit der rechten Hand hielt Christopher die Harke, während er die andere in seine Hüfte stemmte.

»Ja, es tut mir auch sehr leid.« Ich kratze mich am Kopf. Was sollte ich sagen?

Unbewusst fühlte ich, dass die Wahrheit das Beste wäre.

»Vor ein paar Tagen hatte ich Besuch von Sophia.«

Christopher runzelte fragend die Stirn. »Und?«

»Sie bat mich, nicht herumzuschnüffeln und mich von dir fernzuhalten.«

»Das gibt es doch nicht. Hast du denn irgendetwas getan, was sie skeptisch gemacht haben könnte?«

»Na ja, es könnte sein, dass sie mich beobachtet hat. An dem Tag, als du mir die Karte von dem Grundstück gezeigt hast und dieser geheimnisvollen Hütte.«

»Oh je. Warst du bei der Hütte?« Christopher lehnte die Harke gegen die Hauswand und rieb sich die Stirn.

»Leider kam ich nicht weit, weil eine Rosenhecke mir den Weg versperrt hat«, sagte ich in einem Ton, den nur eine Vorgesetzte anschlagen konnte – oder eine Lehrerin wie ich.

Christopher runzelte wieder die Stirn. »Okay, hätte ich sie wegnehmen sollen?«

»Nein.« Ich winkte ab. »Ich war nur überrascht wegen der Pforte. Weißt du denn gar nicht, dass die dort ist?« Ich legte mir meine Hände auf den Bauch.

»Doch, natürlich. Als wir das Haus kauften, war die Hecke mehrere Jahre alt. Samuel Bradford war urplötzlich verstorben und seine beiden Kinder wollten das Haus ziemlich schnell verkaufen. Aber es gab familiäre Probleme und deshalb behielten sie es noch einige Jahre, bis wir den Kaufvertrag unterzeichnen konnten.«

 

»Also denkst du, die Kinder haben die Hecke gepflanzt?«

»Könnte sein. Es ist mir aber reichlich egal. Ich finde sie einfach wunderschön und würde sie um keinen Preis wegnehmen wollen. Wir würden ein Stück Natur beschädigen.«

Am liebsten hätte ich laut gelacht: ein Stück Natur beschädigen. Überall auf der Welt wird die Natur von den Menschen verletzt und es kümmert niemanden. Und ich wollte einfach nur eine Pforte passieren. »Okay«, willigte ich dennoch ein.

Christopher schaute auf seine Uhr. »Wir müssen bald los, wenn wir nicht zu spät bei der Lesung erscheinen wollen.«

»Ja, deswegen bin ich hier. Fährst du immer noch mit mir zur Lesung? Ich meine, jetzt da ich dich die letzten Tage nicht an meinem Leben teilhaben ließ?«

»Aber natürlich. Du kannst ja nichts für meine Frau. Sie möchte alles haben, aber sie merkt nicht, wie sehr sie die Menschen mit ihrem Verhalten verletzt.«

»Mich hat sie eher gegruselt«, gab ich zu und legte mir die Arme um den Körper.

»Na dann. Wie hat dir eigentlich das Buch gefallen?«

»Stimmt, das wollte ich dir noch sagen. Es war toll. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen. Ich konnte es nicht aus der Hand legen. Es ist noch in meinem Zimmer. Ich muss sowieso nochmal hoch, weil ich den Brief mitnehmen möchte.«

»Ja, das ist eine gute Idee.« Christopher ging zur Haustür und schloss sie auf. »Ich gehe mich jetzt frisch machen. Sagen wir, wir treffen uns in einer Stunde wieder hier. Dann fahren wir gemütlich los und können vor Ort noch etwas essen.«

»Das hört sich gut an.« Ein leichter Windhauch ließ meine Haare in alle Richtungen fliegen. Ich blickte Christopher nach, als er die Tür schloss und sein Umriss hinter dem milchigen Fenster in der Tür kleiner wurde, bis er in einem anderen Raum verschwand.

Als ich in meinem Zimmer angekommen war, wurde mir schnell klar, dass mir nicht viel Zeit blieb, denn eine Stunde hatte schließlich nur sechzig Minuten oder dreitausendsechshundert Sekunden. Ich zog mich rasch aus und schlüpfte in die Duschkabine. Das Wasser war so wunderbar warm, dass ich am liebsten einfach unter der Brause geblieben wäre. Doch da musste ich wieder an die Uhr denken. Die Zeit wartete nicht auf mich. Sie war der Grund, warum Menschen immer gehetzt und gestresst waren. Wie oft am Tag schaute man auf die Uhr? Ohne die Zeit würde unsere Welt im Chaos versinken. Früher gab es keine Uhren, da ging man nach dem Aufstehen zur Arbeit und machte sich erst beim Sonnenuntergang auf den Rückweg. Aber heute wäre ein Leben ohne Uhr nicht mehr vorstellbar.

Mit dem Handtuch rubbelte ich mir den Rücken trocken und begutachtete mich im Spiegel. Ein bisschen Rouge würde meiner fahlen Haut nicht schaden, dachte ich, und packte meine wenigen Schminksachen aus. Lippenstift, ein wenig Wimperntusche und Rouge. Fertig war mein Ausgehgesicht. Während ich in den Spiegel schaute, dachte ich an meine Schülerinnen. Ich hatte einige Mädchen in meiner Klasse, die schon mit vierzehn Jahren voll geschminkt waren. Sie trugen so dickes Make-up, dass man meinen könnte, sie wären im Kunstunterricht in den Tuschkasten gefallen.

Ich entschied mich für ein weißes Kleid mit roten Punkten darauf. Dazu farblich abgestimmt ein breiter Gürtel und Ballerinas. In eine kleine Tasche packte ich alle Sachen, die in dem Karton waren, inklusive dem Buch von George Preston. Aufregung pur stand mir ins Gesicht geschrieben.

Ich war als erste am Treffpunkt und drehte mich immer hin und her, so dass mein Kleid sich merklich in die Lüfte hob. Wenn jetzt ein starker Windhauch käme, dann könnte ich mich als eine neue Marilyn Monroe verkaufen.

Christopher führte mich zu einem Land Rover, der perfekt zu seinem legeren Outfit passte.

Während der Fahrt schwiegen wir. Ich blickte aus dem Fenster und staunte über die Weiten, die sich bis zum Meer hin erstreckten. Es war ein atemberaubender Anblick.

Als wir uns Alnwick näherten, kam das prächtige Alnwick Castle in unser Blickfeld.

In seiner beeindruckenden Größe und Schönheit reckte es sich uns entgegen. Ich war so fasziniert von diesem Schloss, dass ich am liebsten weitergefahren wäre, um es zu besichtigen. Aber diese Faszination und die Neugier auf das Innere wollte ich mir für die Klassenfahrt mit meinen Schülern in ein paar Wochen aufheben.

Wir hielten in einer schmalen Straße, in der sich die Autos dicht an dicht an den Straßenrand quetschten. Ein Laden schmiegte sich an den nächsten. In den meisten Schaufenstern hingen große, rote Rabattschilder, von denen die jeweiligen Prozente abzulesen waren.

»So, wir sind da.« Christopher drehte den Zündschlüssel und schnallte sich ab. »Bist du bereit?« Er lächelte mich an und dann spürte ich plötzlich seine Hand an meiner Wange. »Du schaffst das. Wir sind jetzt schon so weit gekommen.«

Christopher fand genau die passenden Worte zu meiner Situation. Mein Herz pochte so laut, dass ich nur hoffte, ich würde die kommenden Stunden überleben.

»Wollten wir nicht noch etwas essen gehen?«, fragte ich.

»Ja, aber natürlich.« Christopher war perplex. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich die Situation so schnell beenden würde.

»Wo willst du denn essen gehen? Ich hätte Appetit auf Pizza.«

Wieso war mir diese Situation mit seiner Hand auf meiner Wange so unangenehm gewesen? Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen, dass ein netter Mann mir nahe sein möchte. Vielleicht war es die heranrollende Nervosität wegen meines Vaters.

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