Wir reden, noch

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Doppelt „on“ und doppelt überfordert

Vom gegenseitigen Entlausen bis zum Selfie-Duckface ist viel geschehen. Früher bekritzelte man Höhlenwände, rollte Pergament aus, heute scrollt man über Websites, als wären sie digitales Pergament. Inzwischen hat man auch Zeichnungen von Leonardo da Vinci ins All geschickt, mit der Raumsonde „Pioneer 1“ in den 1970er-Jahren, genauso wie „Johnny B. Good“ von Chuck Berry auf goldener Schallplatte mit Voyager I., ein Give-away an Außerirdische, in der Hoffnung, dass sie ähnlich kontaktfreudig sind wie wir selbst. Man hat Esperanto erfunden und Englisch zum wirklichen Esperanto gemacht. Heute posten wir Nachrichten auf virtuelle Pinnwände, führen Gespräche schriftlich, dafür in Sprechblasen, damit es auch ein wenig mündlicher wirkt. Wir klopfen anderen auf die Schulter, indem wir auf Knöpfe drücken, die „Buttons“ heißen, aber trotzdem keine sind. Und all das, damit wir auch zum Geburtstag gratulieren können, ohne dass wir gleich einen Smalltalk-Looping dranhängen müssen. Was für Möglichkeiten! Befreundet sein, ohne sich getroffen zu haben, ein ganzes Jahr! Allen gleichzeitig zeigen, wer man ist, und nicht erst mühsam einem nach dem anderen, bis es alle kapiert haben. Yeah. Alle können es gleichzeitig erfahren, wie viel Spaß man hat. Und dass der Regionalzug wieder Verspätung hat, kann man zur internationalen öffentlichen Angelegenheit machen. Danke. Aber: Das alles kostet auch Energie. Schon die ersten zwei Kanäle, der angeborene und der erlernte, haben uns bis zum Abend müde gemacht. Und jetzt sind wir „always on“, aber dafür doppelt. Weil dem Menschen die eine Antenne nicht genug war, die eingebaute, die alles registriert, was man zum Überleben braucht. Nein, es musste auch die andere Antenne sein, die ausgelagerte, zugekaufte. Für alles, was man nicht zum Überleben braucht. Oder vielleicht auch gar nicht braucht.

Die digitale Beschleunigung

Alles ist anders. Man muss nur draufkommen, was es ist. Ein Restaurantmanager in New York wusste auch sehr lange nicht, was los war. Seine Umsätze waren eingebrochen. Erklärung hatte er keine. Bis er feststellte, es muss an den Handys liegen. Denn zwischen 2004 und 2014 hatte sich die Zeit verdoppelt, die Gäste im Lokal verbrachten. Allein bis sie sich am Tisch eingerichtet hatten, dauerte viel länger. Das Selfiemachen konsumierte Zeit, Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise zu posten auch, die Gäste konsumierten dafür weniger.8 Lokale sind zwar nur Nebenschauplätze des Lebens und der sozialen Transformation. Aber auch auf den Hauptbühnen laufen die Dinge heute anders als früher. Und das hat doch zu einem guten Teil damit zu tun, was sich da in der Hand der Menschen getan hat.

Dass genau dort jetzt das Smartphone liegt, als verlängertes Selbst, als erweitertes Ich, als ausgelagerte Kommunikationszentrale, die einst das Hirn war. Inzwischen halten wir die Gesichter der Menschen, mit denen wir reden, mit dem Handydisplay vor unsere eigenen, alle anderen blenden wir dafür aus. Wir suchen zwar noch immer Gesichter, aber wir suchen sie woanders. Deshalb verändert sich auch die Nackenmuskulatur. Weil die Augen woanders hinschauen, seltener nach vorne. Dass es ganz so drastisch wird, damit hat man wahrscheinlich nicht gerechnet. Doch das Irren gehört dazu beim In-die-Zukunft-Schauen. Schon andere haben die Zukunft mit ihren Prognosen weiträumig verfehlt: Kaiser Wilhelm II. glaubte eher an das Pferd als an das Automobil. Bill Gates glaubte an 640 Kilobyte Arbeitsspeicher. „Genug für jedermann“, mutmaßte er.9 Auch dass man im Internet Geld verdienen könnte, hielt er nicht für möglich. Selbst dem professionellsten In-die-Zukunft-Blicker kommt einmal eine falsche Zukunftsprognose aus. Die Aussage von Matthias Horx ist inzwischen auch schon Internet-Legende und verspräche viele Likes, würde man sie posten: „Internet wird sich als Massenmedium nicht durchsetzen.“ Das war im Jahr 2001. In der digitalen Ära ist das ungefähr so weit weg wie in der analogen Christi Geburt.10 Seitdem ist viel passiert, was ungefähr so aufregend war wie die Renaissance, die Entdeckung Amerikas und die Erfindung der Glühlampe in der analogen Ära. 2007 entdeckte Facebook auch etwas Weltbewegendes: Dass man sich bei Feedback feine Zwischentöne sparen kann: Der Like-Button wurde eingeführt. Harvey Ball entdeckte 1963, dass man zum Lächeln kein menschliches Gesicht mehr braucht. Der Smiley war erfunden. Und Shigetaka Kurita entwickelte Ende der 1990er-Jahre die Bildchen, die später als Emojis um die Welt gingen.

Jedenfalls hat die digitale Kommunikation ihren Beschleunigungsstreifen bis heute nicht mehr verlassen. Gerade hat man sich an Facebook gewöhnt, muss man sich schon von jenen, die in Facebook hineingeboren worden sind, erklären lassen, dass niemand mehr Facebook verwende. Die Lesebrille aufsetzen, am Handy den Radetzkymarsch als Klingelton, das verrät ungefähr genauso viel über das Alter, wie wenn man Facebook nutzt. Ein direkter Verweis in eine Lebensphase, in der man wahrscheinlich kein „Early Adopter“ mehr wird. Doch das Hinterherhinken ist eine analog-inhärente Bewegungsform: Digital eilt man schließlich voraus. So rasant, dass manche Beobachter nur noch staunend zusehen. Allein durch die analogen Räume bewegen sich die Menschen inzwischen so, als würden sie ständig etwas hinterherlaufen. Und bei näherer Betrachtung weiß man: Das stimmt auch. Sie rennen dem nach, was sie im abgewinkelten Arm vor sich hertragen, dem Lebensbeschleuniger, dem Smartphone. Früher stieg anderes zuerst in die U-Bahn ein, die Nase, die große Zehe, oder die Umhängetasche. Jetzt ist meist das Smartphone schon drinnen, wenn der Mensch folgt, der an ihm hängt. Kein Wunder, dass die Digitalisierung nicht nur die Muster, wie man sich bewegt, verändert. Sondern vor allem, wie man miteinander redet.

Die Gespräche, sie laufen anders. Wenn sie überhaupt ins Laufen kommen. Wahrscheinlich, so befürchten die Pessimisten unter den Kulturwissenschaftlern, wird auch das Produkt von vielen, vielen, vielen Gesprächen, also die Gesellschaft, bald eine andere sein. Höchstwahrscheinlich ist sie es schon. Wir haben’s nur nicht schnell genug bemerkt. Keine Angst, ein paar Konstanten werden schon bleiben: Vergemeinschaften wird sich der Mensch auch in Zukunft, das kann man ihm wohl so schnell nicht abtrainieren. Vor allem wenn ihn das Gehirn weiterhin mit Wohlgefühl belohnt, wenn er sich erfolgreich mit anderen verbindet. Ein Mittel zu diesem Zweck werden wohl auch in Zukunft Gespräche sein. Wie sie zustande kommen allerdings und welche Mittel sowie Zeichen man dafür einsetzt, das wirbelt die Digitalisierung gerade gehörig durcheinander. Würden die Sprachwissenschaftler alle Gespräche der Welt des heutigen Tages transkribieren, sie hätten deutlich weniger zu tun als noch vor zehn Jahren. Vor allem auch, weil ein Großteil davon heute längst schriftlich stattgefunden hat. Als E-Mail-Verkehr. Oder als Chat. Doch auch die tatsächlichen Face-to-Face-Gesprächskontakte könnten weniger werden. Allein weil die Gelegenheiten dazu verloren gehen. Denn Augenkontakt bräuchte man schon zumindest, offene Ohren wären auch nicht schlecht. Die einen richten sich überallhin, nur nicht dorthin, wo man gerade ist. Die anderen stöpselt man zu, damit man sich jenen Kontakten widmen kann, die einen ohnehin schon auf dem Handy begleiten.

Doch die überall grassierende Gesichtsvermeidung, sie beruht auf Gegenseitigkeit. Der andere will es ja auch so. Vor allem, wenn der andere ein Dienstleistungsunternehmen ist. Schließlich sind die „Interfaces“ der Automaten, die Designer kreieren, oft günstiger als die „Faces“, die sie ersetzen, zumindest in Großstädten. Und freundlicher noch obendrein. Wo früher Menschen waren, stehen heute Maschinen. Oft die charmantere Alternative. Mit manchen Vorteilen: Ticketautomaten stecken mit ihrer schlechten Laune die Kunden nicht an. Dafür das Grummeln der Kunden leichter weg.

Oft geht es aber natürlich nur darum, den Kunden einfach die Arbeit machen zu lassen. Wie an der Supermarktkassa. Oder beim Einchecken am Flughafen.11 Sogar in Situationen, von denen man dachte, hier kommt es zwangsläufig zum Gesichts-Showdown, ist das „Face“, in das man früher schaute, verschwunden: An manchen Flughäfen schaut man bei der Passkontrolle schon in eine Kamera. Statt ins strenge Auge des Beamten. Nicht nur Verkäufer, Kassierer und Rezeptionistin hat man gegen Maschinen getauscht. Sogar mit Psychotherapeuten hat man es versucht. Und mit jenen, denen man früher bei Bewerbungsgesprächen gegenübergesessen ist. Die Versuche und Experimente dazu laufen noch.

Und auch sonst hält man die Gesichter der anderen, geschrumpft auf die Größe des Handydisplays, ins eigene Gesichtsfeld, wenn man etwa über die App „Facetime“ miteinander spricht. Einer der wenigen Fälle, wo ein Visavis auftaucht, wo vorher keines war, in der Mobiltelefonie. Ansonsten zeigt sich eine klare Tendenz: Den Interaktionen, den Gesprächen, kommt allmählich das Visavis abhanden. Und gerade das Gegenüber, das war nicht ganz unwichtig für das Gespräch. Sonst würde eine der grundlegendsten Sprachfunktionen, der Appell, von vornherein schon mal sein Ziel verfehlen. Weil keiner da ist, an den man ihn richten kann. Wenn das, was man zu sagen hat, ungehört im Universum verklingt – kein gutes Gefühl. Aber das hat sich schon länger abgezeichnet. Auch im frühen Konzept der fernmündlichen Kommunikation hat im Grunde schon einer gefehlt, der andere. Aber zumindest hat man mit Telefonzellen die Orte gehabt, an die man sich halten konnte, damit man sich nicht ganz so alleine fühlt beim Miteinanderreden. Und wenn sie nicht völlig verschwunden sind, dann sind es heute oft großteils andere Interaktionspartner. Manchmal sind es nur kleine Figürchen, die sich auf dem Computer-Screen mit einem Namen vorstellen, den ihnen Softwareentwickler gegeben haben. Manchmal weiß man auch gar nicht, dass man im Internet schon mit einem Chatbot spricht. Aber dafür muss man, selbst wenn man etwas ins Netz hinausschickt, ständig anhaken, dass man eben keiner ist. Sogar Lautsprecher, die Namen tragen, wie Alexa von Amazon etwa, müssen schon als Gegenüber herhalten. Man kann in der Welt der Dinge inzwischen schon so einiges direkt ansprechen, von dem man früher nie geglaubt hätte, das es einmal tatsächlich auf einen reagieren würde. Auch Avatare kommen zum Einsatz. Designer gestalten sie so, dass sie so aussehen wie Menschen. Dabei belegen ein paar Studien, dass wir einen Avatar wahrscheinlich auch menschlich behandeln würden, wenn er ausschauen würde wie eine Waschmaschine. Solange er mit uns spricht. Oder uns andere gut versteckte Hinweise gibt, dass vielleicht doch ein Mensch in oder hinter ihm steckt. Menschen tendieren dazu, Maschinen genau so zu behandeln wie Menschen. Sonst wäre man auch nicht persönlich enttäuscht vom Computer, wenn er wieder abstürzt. Ein klarer Vertrauensbruch. Freundschaft gekündigt.

 

Dass die Menschen weniger geworden sind, auf die man sich während einer Interaktion mit Augen und ganzem Körper richten kann, damit muss man sich arrangieren. Und wenn dann doch plötzlich jemand leibhaftig vor einem steht, dann muss man sich erst recht arrangieren.

Trotz allem Ausblenden von unserer und von der Gegenseite, trotz aller Exit- und Vermeidungstrategien, die bis tief hinein ins Handydisplay führen – bleiben noch immer eine Menge Menschen, mit denen man umgehen muss. Und dafür folgen die meisten gewissen Strategien, um aus dem Ganzen unbeschadet und womöglich zufrieden wieder herauszukommen: sich gegenseitig abzustimmen ist eine davon. Etwa mithilfe verschiedener Übereinkünfte, die man spontan schließt. Die erste und entscheidende für den Face-to-Face-Kontakt: Ich bin da. Du bist da. Auch das sollte mal für alle Beteiligten klar sein. Im Bestfall jedoch hat man sich gegenseitig wahrgenommen. Damit ist schon viel geschafft. Dann kann das Spiel beginnen: Man versucht zu antizipieren, Perspektiven einzunehmen, Hypothesen aufzustellen, was der andere vorhat und wie die Welt wohl aussieht, wenn man sie aus der Warte des anderen betrachtet. Gleichzeitig kündigt man sein eigenes Vorhaben an, gestisch, mimisch. Am Gehsteig hat das früher meist damit geendet, dass man kollisionsfrei aneinander vorbeigeglitten ist. Doch heute scheitert das Konzept oft schon an Punkt eins: eben der Wahrnehmung. Noch dazu, weil einseitige Wahrnehmung noch nicht reicht. Als Versuch, um festzustellen, wie wenig man tatsächlich wahrgenommen wird in stimulusdichten Umgebungen, muss man nur bei einem Geschäft einmal die Tür aufhalten und zählen, wie viele Menschen hineinschlüpfen, ohne zu bemerken, dass ihnen überhaupt die Tür aufgehalten wird.

Als der einzig relevante Raum noch der war, durch den man gerade ging, war eine Begegnung auf dem Gehsteig fast eine Performance. Zumindest klingt es so, wenn sie soziologische Beobachter menschlicher Interaktionen im 20. Jahrhundert beschrieben haben. Die Ellbogen werden eingezogen, die Schultern werden gedreht, das läuft ja wie geschmiert; kaum ist man vorbei, macht man sich wieder breit. Mit dem Körper setzt man kleine Hinweise auf die Richtung, die man gedenkt einzuschlagen. Doch mit ihrem ehemals inhärenten Koordinations- und Navigationssystem sind die Menschen inzwischen gehörig durcheinandergekommen. Es wirkt fast, als könnten sie zwar über einen Chat am Handydisplay die Präsenz jedes anderen erspüren, aber die eigene im konkreten Raum dafür umso weniger. Kein Wunder, dass das Standardnavigationssystem, das uns stets verlässlich durch die Räume geführt hat, das uns gesagt hat, ob wir schon zu nah sind oder doch noch zu weit weg, ein wenig aus der Balance geraten ist. So oft, wie sich virtuelle mit realen Räumen im Laufe eines Tages überblenden. Und auch die gepolsterte Komfortzone, der unsichtbare Airbag, den wir als „Personal Space“ vor uns hertragen, wäre fast ein Fall für eine Rückholaktion des Herstellers. Wenn man schließlich doch ein Gegenüber gefunden hat – eines, das menschlich, unmaskiert oder zumindest nur mit Mund-Nasen-Schutz, nüchtern und aufmerksam ist –, dann merkt man: Schon die stummen Begegnungen verlaufen anders, die sprachlichen umso mehr. Denn das Smartphone hat den Modus verändert. Allein dadurch, dass es dabei ist, auch wenn man es nicht benutzt, verändert sich die Kommunikation. Das meint etwa die deutsche Soziologin Angela Keppler.12 Doch oft genug liegt das Smartphone nicht nur daneben, als stumme Verheißung, dass sich ein anderer gleich einschalten könnte in die Situation – es bringt sich auch selbst in Gespräche ein. Oft ist es selbst schon Thema. Weil es neu ist und jetzt noch mehr kann als vorher. Oft liefert es aber auch neuen Stoff für die Unterhaltung, weil mit ihm automatisch der Zugang zum Wissen der Welt offenliegt. Der Content aus dem Netz könnte ja auch bebildern, illustrieren, untermauern und vertiefen, was man so beiläufig vor sich herplappert. Auch dadurch ist ein Gespräch gleich ganz anderes getaktet. Den Rhythmus geben dann etwa sprachliche Hinweise vor wie: „Das schau’ ich gerade mal nach“, „Google das einmal“, „Was meint Wikipedia dazu?“ All das verweist in einen parallelen, erweiterten Interaktionsraum, in den man kurz virtuell beiseitetritt. Wenn es das Gespräch verlangt. Oder wenn einem dann doch nichts mehr selbst einfällt. Als „Augmented Communication“ fasst Richard Pinner dieses Interaktionsphänomen in seinem Buch zusammen.13 Die Aufmerksamkeit wird gleichermaßen und gleichzeitig verteilt auf den Interaktionsraum vor Ort und den Cyberspace, denen man sich abwechselnd zuwendet. In einer Gesprächsspielform, die auch schon als „Cross Digital Talk“ bezeichnet wurde.14 So scheint vielleicht dieses Szenario dann doch am wahrscheinlichsten: Die Face-to-Face-Kommunikation wird nicht abgeschaltet, nur umgeschaltet in einen neuen Modus. Und der funktioniert fast wie „persönliches Gespräch Plus“. Also: die Qualitäten und Authentizität der fokussierten Interaktion unter vier oder mehr Augen, erweitert und bereichert auf Wunsch – mit dem Content, den der Gesprächsfluss, das Thema, die Situation gerade brauchen könnte. Eine kommunikative Interaktion, in der man sich dem Gesprächspartner und dem Stoff aus den Datenwolken gleichermaßen zuwendet.

Viele Gespräche beginnen inzwischen auch anders, wenn man sie in einem speziellen Modus mündlich führt, nämlich „fernmündlich“. Ein beliebter Gesprächseinstieg etwa ist: „Wo bist du?“ Denn gerade das ist, wenn man jemanden anspricht, gar nicht mehr so klar. Früher hieß das noch: „Was? Du auch hier?“ oder „Was machst du denn da?“ Dass Gesprächspartner nicht mehr da sind, wo man selbst gerade ist, daran ist aber nicht die Digitalisierung schuld. Sondern eher dass sich in die menschliche Kommunikation wieder so ein penetrantes Präfix hineingedrängt hat – und das gleich an so vielen Stellen des Alltags, nämlich das „Tele“, wie etwa in „Telekommunikation“. Der Vorteil von Face-to-Face-Situationen: Man sieht sofort, wenn’s gerade nicht passt. In fernmündlichen muss man da schon mal nachfragen, was häufig auch geschieht: „Stör’ ich?“ Vor allem noch, als neben dem ständigen Erreichbarsein auch das ständige Abheben noch zum guten Ton bei der Handytelefonie gehörte. Und während des Gesprächs, bei dem man einander nicht sieht, muss man auch extradeutlich akustisch signalisieren, dass man noch dran ist. Damit man sich auch überhaupt einmal gehört und verstanden fühlt. Doch der bei Weitem noch größere Teil der Gespräche verläuft heute ohnehin nicht nur ohne Gesichter, sondern überhaupt gleich ohne ausgesprochene Worte. Dafür mit getippselten, die sich dann doch wieder irgendwie fast anhören, als hätte sie jemand ausgesprochen. Es ist tatsächlich passiert: Man redet schriftlich. Mit ein Grund, warum es ein wenig länger dauern kann, bis das Gespräch zu Ende ist. Meist weiß man das in digitalen Chats auch gar nicht so genau, ob man jetzt vielleicht noch etwas sagen sollte oder ob ohnehin schon alles geklärt ist. Gerade Messengerdienste wie WhatsApp haben Gespräche ziemlich zerdehnt. Tatsächlich Schluss ist manchmal erst, wenn die Hardware die nächste Softwareaktualisierung nicht mehr mitmacht. Bis dahin hängen zahlreiche lose Gesprächsfäden unsichtbar im virtuellen Raum. Mal zieht man an dem einen, mal knüpft man an dem anderen weiter.

In der Schweiz haben sich die Sprachwissenschaftler besonders intensiv damit beschäftigt, was Jugendliche entlang ihrer langen, langen Gesprächsfäden am Handy so auffädeln. An sprachlichen Zeichen natürlich, aber auch an nichtsprachlichen.15 Eine der Diagnosen: Was sie so auf WhatsApp hin- und herschicken, das hat man sich früher fast ausschließlich ins Gesicht gesagt, nämlich – den Dialekt. Der ist inzwischen von seiner ursprünglichen Domäne in die schriftliche Kommunikation gerutscht, die ja gerne so tut, als wäre sie gar keine. Doch man redet nicht nur, wenn man schreibt, sondern man schreibt manchmal auch, wie man früher nicht einmal gesprochen hätte. Weil man einige Zeichen lautlich gar nicht mehr so gut in den Mund nehmen kann, vor allem wenn es Abkürzungen sind wie „WTF“, wenn man die Welt nicht mehr versteht, oder „LOL“, wenn man gerade besonders lustig ist. Noch schwieriger für den Mundgebrauch: Emojis muss man wieder zurück in echte Ereignisse und Gefühle transkribieren, um sie auszusprechen. Der „Iconic Turn“, also die Wende zur bildhaften Kommunikation, ist spätestens mit den Emojis in der Sprache und in den Gesprächen, die man mit ihr führt, angekommen.

Wenn Emojis plötzlich Wörter sind, dann steht vor allem eine Welt nicht mehr lang: jene, die sich Sprachpuristen und -kritiker so konsequent seit der Erfindung der deutschen Standardsprache aufgebaut haben. Achtung, Armageddon: Der Smiley mit den Lachtränen ist auch schon einmal zum Wort des Jahres gekürt worden, vom Komitee der Oxford Dictionaries in Großbritannien, im Jahr 2015. Die uranalogen Metaphern wie „in Stein gemeißelt“oder „schwarz auf weiß“ – in der digitalen Kommunikation haben sie kaum mehr etwas zu melden. Alles scheint zerstäubt in unverbindliche Datenwolken. Und jene, die noch mit sprachlichen Konventionen aufgewachsen sind, hängen inzwischen in den schriftlichen Gesprächsformaten sicherheitshalber einfach eine Entschuldigung hinten dran: „Von meinem I-Phone gesendet“ – die Abbitte, für alles, was zuvor aus der Orthographie und sonstigen Normen gepurzelt sein könnte.

Dass sich Gespräche heute anders anhören, merkt man auch, wenn man sie – anhört: Stimmt schon, wenn man sich abends die Gespräche seines eigenen Tages vorlesen würde, würde man sie am liebsten redigieren. Kaum ein Satz ist da fertiggesprochen. Und hat er doch einmal Anfang und Ende, dann trägt man ihn dem anderen im Laufe eines Tages gerne in unterschiedlichsten Varianten vor. Auch ein Grund, warum sich Drehbuchautoren mit den möglichst „natürlichen“ Dialogen am meisten abmühen. Selbst Kabarettisten bieten inzwischen mündlich auf der Bühne dar, was sie über die Tage schriftlich so vor sich hingeredet haben: Klaus Eckel liest gern aus den WhatsApp-Gruppen der Schule seiner Kinder vor – die besten Pointen, die er nicht selbst geschrieben hat. Auch das deutsche Fernsehmoderatorenduo Joko und Klaas haben Dialoge wieder vermündlicht, jene, die sie sich aus Chats der eBay-Kleinanzeigenplattform geborgt haben – und daraus wurde ein Comedyformat. Auch weil sich Online-Dialoge den sprachlichen Füllstoff sparen, mit dem man die mündliche Kommunikation gerne auskleidet. Digital kommt man schneller auf den Punkt. Geschuldet ist das auch den Designvorgaben der Gesprächskanäle, die oft gar nichts anderes zulassen. Vor allem nicht mehr als 160 Zeichen, als SMS. Okay, bei einem Kanal, der „Short“ und „Message“ im Namen trägt, hätte man nichts anderes erwartet. Mit 280 Zeichen kann man sich inzwischen bei Twitter auslassen, anfangs war sogar nach 140 Zeichen ausgezwitschert. Ausreichend Platz noch immer, um einen ganzen Roman unterzubringen, wie es das experimentelle Genre der „Twitteratur“ versucht hat.

Mit bestimmten Phrasen, „Hallo erstmal“, Prolog, Epilog und konsequentem Einsatz von verbalen Schmiermitteln hält sich der Chat nicht auf. Die Anrede spart man sich auch, die man verschwommen noch aus Archetypen der schriftlichen Kommunikation, dem Brief etwa, kannte. Auf Plattformen wie Twitter sind ohnehin alle gemeint: Wer das liest, der ist auch angesprochen. Warum denn jemanden noch extra anreden? Vor allem mit Anfang und Ende tun sich digitale Formate oft schwer. Man macht einfach weiter, dort, wo man gar nicht mal richtig aufgehört hat. Bei Face-to-Face-Gesprächen dagegen dauert das Ende der Kommunikation manchmal länger als der inhaltliche Austausch davor. Schließlich muss man noch emsig die Beziehung beim Verabschieden bearbeiten, falls man sich doch noch einmal wiedertrifft.

 

Die Digitalisierung schickt die Kommunikation durch den Häcksler: Die Redeportionen werden deutlich kleiner. Manche Gespräche wirken zerfetzt, zerbröselt, vielleicht auch, damit man sie besser streuen kann, in alle Richtungen. Ein Häppchen hier, ein Häppchen dort, klein genug sollten sie sein, dass man sie inhaltlich nebenbei und ganz beiläufig verdauen kann. Man ist ja eigentlich beschäftigt. Mit etwas ganz anderem. Noch so ein digitales Symptom: Wenn sich die eine Welt in die andere blendet. Genau das ist auch mit der öffentlichen und der privaten passiert. Früher hätte man manche Emotionen zuhause gelassen, gemeinsam mit bestimmten Gesprächsthemen, das hat eine soziale Norm so geregelt. Inzwischen fühlen sich viele aber immer dort zuhause, wo ihr Smartphone gerade ist. Dieses Gefühl kollidiert dann allerdings gerne mit den Gefühlen von anderen, die meinen, sie seien gerade im öffentlichen Raum. Vor allem wenn dort nach ehemaligen Maßstäben gewisse Kommunikationsformate plus Themen gar nicht hingehören würden. Das Smartphone hat die Gespräche, an denen man teilnehmen kann, als Unbeteiligter und Zuhörer, vor die Tür getragen. Und plötzlich ist jeder Ort für jedes Thema gut. Früher hat man zwischen Beichtstuhl, Bar, Kaffeehausnische und Stadiontribüne noch unterschieden. Wenn jetzt jede Straßenecke für jeden Gesprächsstoff taugt, kann am Ende des Tages schon ganz schön was hängen bleiben an Gesprächsfetzen, mit denen man aus der Stadt nachhause kommt. Mit einer schönen Auswahl aus dem weiten Spektrum des Lebens der anderen: „Ach, meine Krampfadern“, „Was gibt’s zum Abendessen“, „Pauh, gestern war wieder eine Nacht“. Vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen sich viele Benutzer kommunikativ dann doch ziemlich privat fühlen. Da kommt schon nach ein paar Stationen Straßenbahn-Fahren so einiges an Angelegenheiten zusammen, mit denen man selbst eigentlich gar nicht so viel zu tun haben wollte. Sich durch eine Stadt zu bewegen heißt: sich durch die Gespräche anderer zu bewegen. Und noch dazu ist von der klassischen Gesprächsdyade, der Zweierkonstellation, meist nur die eine Hälfte vor Ort. Das ist der Fluch der Fernmündlichkeit: Die Gesprächsbrocken der anderen mit nachhause zu schleppen.

Die digitale Ära zerstückelt aber nicht nur die Kommunikation, sondern auch, wie und wie lange man sich anderen Dingen zuwendet. Anderen Menschen. Oder anderen Medien. Kurz genug sollte die Zuwendung jedenfalls sein, um ja nicht tiefer auf den anderen oder den Inhalt einzugehen. Und überhaupt gut zerkleinert in Einzelteile: die Aufmerksamkeit. Das haben durchaus besorgte Jugendforscher schon hie und da angemerkt. Wie etwa auch der Österreicher Bernhard Heinzlmaier, der dem „Mainstream-Menschen der Postmoderne“ schon einmal einen „schizoid-hysterischen Charakter“ zugewiesen hat.16 Klingt jetzt nicht so, als müssten wir uns überhaupt keine Sorgen machen. Jedenfalls ist die Tiefe nicht unbedingt das, in das die Jugendlichen mit ihrer Aufmerksamkeitsspanne noch tauchen können, seiner Meinung nach. Zumindest ein Zustand bleibt für viele unerreichbar: die „Deep Attention“. Allein weil viele Jugendliche zum Teil die Kapazität dazu gar nicht mehr hätten, sich zu konzentrieren auf eine einzige Interaktion, ein einziges Medium. Eher verzetteln sie sich automatisch in einen Zustand der „Hyper Attention“ – also das ständige, rastlose Springen, von einem Kanal zum anderen. So ähnlich wie damals, nur viel stärker, als plötzlich das Kabelfernsehen ins Wohnzimmer kam und eine neue Verhaltensweise einen Namen brauchte: das Zappen. Aber inzwischen hat man sich ja selbst noch ein paar Kanäle zugeschaltet: Fast 40 Prozent der Jugendlichen wischen über das Smartphone, während sie fernsehen.17 Sich auf ein Signal mal länger einzulassen, das verursacht schon beinahe Langeweile, die Stimulusdichte hochzuhalten ist die Strategie. Und wenn es schon so viel Commitment fordert, einem einzigen Kanal verbunden zu bleiben, was soll denn aus dem Konzept werden, das ehemals bekannt war unter „Verbundenheit“, fragen sich manche. Jedenfalls haben die Jüngeren dieses scheinbar ohnehin schon neu aufgestellt und angelegt: Die Nähe ist jedenfalls nicht mehr das, was sie einmal war. Und die Distanz genauso wenig. Vor allem auf der Ebene der Sprache. Ein durchaus verwirrter Zustand von „Sehr geehrter Du“ macht sich breit unter jenen, die sich zu lange um andere Dinge gekümmert haben als um das, was mit der Digitalisierung der Kommunikation auf uns zurauschte. Man erinnert sich an Zeiten zurück, als sich Nähe und Distanz noch unterschiedlich ausgedrückt haben: im Medium, das man nutzte, im Stil, den man anwandte, oder in Umgangsformen, die man an den Tag legte. Oder in dem, was man sonst noch so vermeldete mit Worten und Körper. Inzwischen signalisieren digitale Medien so viel wie: „Die sanfte Annäherung können wir gern überspringen.“ Mit der ersten WhatsApp-Nachricht schmiedet man eine Beziehung schon allein dadurch, dass man ein bestimmtes Medium benutzt. Mit zwei Jahren Smalltalk im Stiegenhaus wäre man manchmal wahrscheinlich auch nicht weitergekommen.

Lieber Vorname Nachname, das ist inzwischen die gängige E-Mail-Anrede. Da steckt das Angebot des „Du“ schon drin. Der andere muss nur noch darauf einsteigen. Aber „angeboten“ wäre ja noch schön, „aufgedrängt“ trifft es schon eher. Internet macht alle zu Du-Freunden. Aber bitte, komm mir doch nicht zu nahe. Da sprech’ ich dir doch lieber eine Busfahrt lang Sprachnachrichten auf, bevor ich dich anrufe. Denn das wäre mir dann doch zu unmittelbar. Zu direkt. Und anstrengend.

Im Laufe eines digitalen Lebens sammelt man viel mehr Verbindungen mit Menschen, mit denen man früher nicht verbunden gewesen wäre. Dafür werden die kleinen Verbindungen des Alltags weniger. Jene, die man spontan und kurzfristig eingeht, schnell wieder löst. Und wenn sie doch stattfinden, dann serviert einem die Interaktion oft wirklich nicht mehr, als das, was man tatsächlich bestellt hat, den Kaffee und das Kipferl; das Lächeln dazu muss man sich dann oft woanders holen, im Notfall auch digital. Fast scheint es, als wäre Face-to-Face-Kontakt in der Dienstleistungsbranche ohnehin schon zum Plus-Feature geworden. Manchmal muss man es ja schon extra dazubuchen. Wenn man fliegt etwa. Oder wenn man sich ein Hotel wählt, in dem einen noch Menschen begrüßen und Schlüssel übergeben. Denn manche Betriebe haben ja auch schon die Rezeption auf die Gäste ausgelagert. Nämlich auf ihre Handys. Und wo man etwa noch tatsächlich persönlich ein Konto eröffnen kann, dort sind meist auch die Kontoführungskosten höher als bei den Banken, bei denen miteinander Reden gar nicht erst Teil des Geschäftsprinzips ist.