Verschwundene Reiche

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Im Herzogtum Burgund gab es bereits altehrwürdige Klöster, doch nun kamen noch neue hinzu. Die 910 gegründete Abtei Cluny, die der Regel des hl. Benedikt folgte, gilt als Ausgangspunkt bedeutender abendländischer Klosterreformen; sie war die Alma Mater von drei oder vier Päpsten.54 Die Abtei Tournus, ebenfalls im 10. Jahrhundert gegründet, bewahrte die Überreste des hl. Philibert, der den Märtyrertod gestorben war. Die Abtei Cîteaux, das Mutterhaus des Zisterzienserordens, entstand im Jahr 1098. Der hl. Bernhard von Clairvaux (1090–1153), ein späterer Förderer der Tempelritter, trat als junger Mann in dieses Kloster ein,55 und am 31. März 1146 rief er im großen Saal der Abtei Vézelay zum Zweiten Kreuzzug auf. Die Abtei Pontiguy am Fluss Yonne stammt ebenfalls aus der Zeit Bernhards.

Den Mönchen dieser burgundischen Klöster wird auch die Wiederbelebung der in Vergessenheit geratenen Weinbaukultur zugeschrieben. Sie waren nicht die Pioniere des Weinbaus, denn schon zu Zeiten König Guntrams wird von der Schenkung eines Weinbergs an die Kirche berichtet. Doch die Mönche konsumierten Wein bei der heiligen Kommunion, und an den Hängen der Côte d’Or oder der »Côte de Baune« bauten sie zielstrebig Weingärten von unübertroffener Qualität auf; sie erfanden sowohl die Produktionsmethoden als auch die Fachbegriffe des cru, des terroir und des clos, die zeitlose Gültigkeit erlangen sollten. Die roten Burgunderweine werden aus der Traube Pinot Noir gewonnen; die meisten Lagen, die heute die Liste der Grand Crus anführen, wie etwa die Domaine de la Romanée-Conti in der Nähe von Vosne, die einst zur Abtei Saint-Vivant gehörte, Aloxe-Corton, die vom Domkapitel Autun in Bewirtschaftung genommen wurde, oder Chambertin, die von der Abtei de Bèze begründet wurde – sie alle begannen als mittelalterliche kirchliche Unternehmungen. Die Weißweine aus Chablis wurden von den Mönchen von Pontigny entwickelt. Der Clos de Vougeot, der erstmals von den Mönchen von Cîteaux angebaut wurde, hatte von 1153 bis zur Französischen Revolution nur einen einzigen Eigentümer.56

Chanter le vin (»den Wein durch den Gesang feiern«) gehört seit jeher zu den kulturellen Traditionen des Herzogtums Burgund. Viele der zeitlosen französischen Trinklieder, wie beispielsweise »Chevalier de la Table Ronde« oder »Boire un petit coup« stammen aus Burgund; in ihnen wird eine Kultur des guten Weins, des guten Essens, der guten Gesellschaft und nicht zuletzt der guten Unterhaltung gepflegt:

Le Duc de Bordeaux ne boit qu’ du Bourgogne,

mais l’Duc de Bourgogne, lui, ne boit que de l’eau,

ils ont aussitôt sans vergogne

un verr’ de Bourgogne contr’ le port de Bordeaux.

(»Der Herzog von Bordeaux trinkt nur Bourgogne,/aber der Herzog von Bourgogne trinkt nur Wasser/daher hatte keiner Grund zu klagen, als sie tauschten/ein Glas Bourgogne gegen den Port aus Bordeaux.«)57

Unterdessen war östlich des aufstrebenden Herzogtums der Großteil des früheren burgundischen Königreiches im Chaos versunken. Nach dem Tod Lothars I. im Jahr 855 folgten mehrere Teilungen, Wiedervereinigungen und erneute Teilungen. Ein kurzlebiges territoriales Gebilde jedoch hinterließ dauerhafte Spuren. Unter Lothar II. (reg. 835–869) wurden die südlichen und westlichen Bezirke einschließlich Lyon und Vienne zu einem neuen Regnum Provinciae zusammengeschlossen, das dadurch die Bezeichnung »Niederburgund« erhielt. In der Folge nannten sich die im Norden und Nordosten gelegenen Gebiete »Hochburgund«. Die Grenzen veränderten sich nach kurzer Zeit, die Namen aber blieben.

Das Königreich Provence, das 879 geschaffen wurde und auch Königreich Niederburgund – le Royaume de Basse-Bourgogne – genannt wurde, hatte mit einer kurzen Unterbrechung 54 Jahre Bestand. Sein Territorium umfasste das Rhône-Tal von Lyon bis nach Arles und die ursprüngliche römische Provinz bis zum Fuß der Meeresalpen. Kulturell war es zur Hälfte burgundisch und zur anderen Hälfte provenzalisch geprägt, wodurch eine neue Sprache entstand, das Frankoprovenzalische. Das bedeutendste Verwaltungszentrum war Arelate (Arles). Dies war der fünfte burgundische Staat und das vierte Königreich (nach Bryce die Nr. III).

Die ersten Jahre dieses Reiches wurden geprägt von Graf Boso (reg. 879–887), der ebenso wie sein jüngerer Bruder Richard Justitiarius dank seiner Verwandtschaft mit dem Frankenkönig und künftigen Kaiser Karl dem Kahlen in die politische Führungsschicht aufsteigen konnte. Er war zunächst Graf von Lyon, doch während Karls Italienfeldzug 875–877 wurde ihm das Amt eines missus dominicus (Gesandter oder Botschafter) übertragen, und er konnte ein enges Verhältnis zum Papst aufbauen. Papst Johannes VIII. adoptierte ihn als Sohn, und Boso begleitete den Pontifex 878 auf seiner Reise in das Westfrankenreich. Als das Westfrankenreich im Jahr darauf innerhalb von 18 Monaten den zweiten König aufgrund einer plötzlichen Krankheit verlor, fasste Boso den Entschluss, sich selbstständig zu machen. Er kehrte in die Provence zurück und überzeugte die dortigen Bischöfe und die Großen des Reiches, ihn auf einer Synode durch eine »freie Wahl« zum König von Niederburgund zu proklamieren. Er bediente sich der Formel »Dei Gratia id quod sum« (»Dank der Gnade Gottes bin ich, was ich bin«), die seine Auserwähltheit zum Ausdruck bringen sollte. Bosos Handstreich stieß auf Widerstand, doch letztlich konnte er sich behaupten. Er starb 887 und wurde in Vienne beigesetzt; aus seiner Familie, den »Bosoniden«, gingen schließlich drei einflussreiche Adelsgeschlechter hervor.58 Zwei seiner Verwandten regierten nach ihm die Provence: sein Sohn, Ludwig der Blinde (reg. 887–928), der auch König von Italien und nomineller Kaiser war, und sein Schwiegersohn Hugo von Arles (reg. 928–933).


Graf Bosos Reich kontrollierte den einträglichen Handel im Rhône-Tal sowie die wichtigsten Verbindungswege zwischen dem europäischen Binnenland und dem Mittelmeerraum. In seinen alten Städten standen Kultur und Wirtschaft in hoher Blüte. Zwar wurden die Küstengebiete regelmäßig von den Sarazenen heimgesucht, viele Hafenstädte an der Riviera hatten sich Überfällen von Piraten zu erwehren, und der Seehandel mit Italien war unsicher. »Räuberbarone« und Burgherren kontrollierten viele der Bergtäler. Doch ein ehrgeiziger Herrscher wie Boso wusste, dass er ein sehr wertvolles Stück Land besaß. Die Kirche bildete einen Faktor der Kontinuität und der Stabilität. Alle größeren Städte waren ein eigenes Bistum, auch das Klosterwesen spielte eine wichtige Rolle. Die Klosterinsel Lerinum (Lérins), die um 410 vom Heiligen Honortus gegründet worden war, hatte viele Geistliche hervorgebracht, die im gesamten südlichen Gallien im Einsatz waren.59 Dieses Kloster, mittlerweile stark verkleinert, unterstand nun Cluny.


Das Begräbnis des Westgoten Alarich, des »Herrsciners aller«, im Jahr 410 im Flussbett des Busento, Kalabrien. Holzschnitt, um 1855, nach einer Zeichnung von Eduard Bendemann (1811–1899).


»Die Geschichte Frankreichs begann in Vouillé« im Jahr 507: Der Franke Chlodwig tötet Alarich III., den König der Westgoten. Kreidelithografie von Nikolai D. Dmitrijeff Orenburgsky (1838–1898), nach einem Gemälde von Friedrich Tüshaus (1832–1885), 1875.


Y Gododdin – Eine Seite aus dem mittelalterlichen Buch Aneirins, eines altwalisischen Epos aus dem 7. Jahrhundert, das in einer Handschrift aus dem 13. Jahrhundert überliefert ist.


Vogel, Baum, Fisch und Ring – Symbole aus der Legende des hl. Mungo (6. Jahrhundert) im Wappen der Stadt Glasgow.


Statue von William Wallace (1272–1305) in Aberdeen, Schottland. – Kinogängern als Braveheart und seinen gälischen Zeitgenossen als Uilleam Breatnach, »William der Brite«, bekannt.


Rheingold: eine Episode aus der Nibelungensage, einem mittelalterlichen Heldenepos, das den Untergang des ersten Burgunderreiches im 5. Jahrhundert aufgriff. Ölgemälde von Peter von Cornelius, 1859.


Eine seltene Münze mit dem Kopf des Merowingerkönigs Dagobert (um 603–693), »der seine Hose verkehrt herum trug«.

 

Guntram, auch Guntramnus von Burgund (um 525–592), „the battle crow“, König und Heiliger, bestimmt seinen Neffen Childebert II. als seinen Nachfolger. Miniatur aus den „Chroniken von Frankreich“, gedruckt von A. Verard, Paris, 1493 (handkoloriert). Französische Schule, 15. Jahrhundert.


Friedrich Barbarossa (reg. 1162–1190): deutscher Kaiser, König von Italien und König von Burgund, 1172 in Arles gekrönt, und seine Söhne König Heinrich VI. und Herzog Friedrich VI. Mittelalterliche Malerei aus der Chronik der Welfen, 1179–1191.


Philipp der Gute und Karl der Kahle: Herzöge des burgundischen Herrschaftsverbundes im 15. Jahrhundert. Aus den Chroniken des Hennegaus. IVliniatur von Roger van der Weyden, 1477.


Karl der Kühne, auch Karel de Stoute (reg. 1467–1477): Herzog von Burgund, Graf von Flandern, Markgraf von Namur etc. Aus den Ordensregeln des Ordens vom Goldenen Vlies.


Herzogin, Gräfin und Markgräfin Maria von Burgund (1457–1482), Erbin. Öl auf Holz, Michael Pacher zugeschrieben, 1490.


Die Festung Aljaferia: erbaut im 10. Jahrhundert im ibero-islamischen Stil für die muslimischen Emire von Zaragoza, erobert 1118 von Alfonso El Batallador (Alfons dem Kämpfer), König von Aragón.


Die katalanische Galeerenflotte ankert vor Neapel. Gemälde von Francesco Pagano, 1465, Galleria Nazionale di Capodimonte, Neapel, Italien.


Königin Petronila von Aragón und Graf Ramón Berenguer IV. von Barcelona, durch deren Ehe im Jahr 1137 Aragón und Barcelona für fast 600 Jahre verbunden wurden. Öl auf Leinwand, 1634.


Los Reyes Católicos: Ferdinand von Aragón und Isabella von Kastilien, um 1491. Gemälde, zeitgenössische Kopie nach einem Gemälde von Michael Sittow (1469–1525) aus dem späten 15. Jahrhundert und Gemälde, um 1500, nach Juan de Flandes, Öl auf Holz.


Mattia Preti, Die Schlacht von El Puig, Kapelle der Langue d’Aragón aus dem Altarbild des hl. Georg, Valletta. Die Schlacht, die 1238 nahe Valencia zwischen Katalanen und Mauren ausgefochten wurde, endete mit einem entscheidenden Sieg für die Reconquista.


»Die Himmelsleiter«: byzantinische Ikone aus dem 7. Jahrhundert von Johannes Klimakos. Darstellungen des asketischen Lebens und des Weges zu geistiger Vollkommenheit unterstreichen den theokratischen Charakter der byzantinischen Gesellschaft.


Die Belagerung von Konstantinopel 1453 (französische Miniatur aus dem 15. Jahrhundert). Die osmanischen Türken versetzten dem Oströmischen Reich den Todesstoß.


Burg Trakai, Litauen: eine Festung aus dem 14. Jahrhundert, erbaut von einem Onkel des Groffürsten Jogaila, der Litauen 1385 mit Polen vereinigte.


Mirski Zamak, Schloss Mir, Weißrussland: vollendet im späten 16. Jahrhundert von Fürst Mikołaj Krzysztof Radziwiłł.


Barbara Radziwill (1520–1551), unglücklich mit Sigismund August verheiratet: Königin von Polen und Großfürstin von Litauen für sechs Monate. Öl auf Kupfer, um 1553–1556, Werkstatt Lucas Cranach der Jüngere (1515–1586).


Titelblatt des Dritten Litauischen Statuts, 1588.


»Der polnische Pflaumenkuchen«, Karikatur zur ersten Teilung von Polen-Litauen. Kupferstich, um 1772, John Lodge (bl. 1782–1796).


Stanisław II. August Poniatowski, König von Polen (reg. 1764–1795): geboren in Woltschin in Weißruthenien, gestorben in Sankt Petersburg, »repatriiert« 1938. Pastell auf Papier, aufgezogen auf Leinwand, nach Marcello Bacciarelli (1731–1818).


Schtetl-Juden: orthodoxe Juden aus einer der vielen jüdischen Kleinstädte Galiziens um 1900.


Huzule mit Pferd in Ostgalizien.


Polnische Goralen oder »Hochlandbewohner« aus der Tatra.


Lemberg, Hauptstadt des habsburgischen Galizien um 1900.


Joseph II. (reg. 1780–1790), Kaiser und erster König von Galizien und Lodomerien. Öl auf Leinwand, Georg Weickert, 18. Jahrhundert.


Franz Joseph I. (reg. 1848–1916), Österreichischer Kaiser und letzter König von Galizien und Lodomerien.


Die Lagune der Weichsel (frülner Frisches Haff, heute Kaliningradski Saliw): die Ostseeküste in der wasserreichen Heimat der Prußen.


Małbork, Polen, früher die Marienburg, Hauptsitz des Deutschen Ordens und größte Backsteinburg der Welt, um 1930.


Die Schilacht von Tannenberg, 15. Juli 1410, wie dargestellt von Jan Matejko (1878): Tod des Hochmeisters Ulrich von Jungingen. Öl auf Leinwand, 1878.


Das Tannenberg-Denkmal (1927–1945) zum Gedenken an den deutschen Sieg im September 1914, der deutschen »Revanche« für die Niederlage des Deutschen Ordens bei Tannenberg 1410. Hier 1934 bei der Überführung der sterblichen Überreste Paul von Hindenburgs in die Krypta.


Die preußische Huldigung, wie dargestellt von Matejko. Albrecht von Hohenzollern kniet vor König Sigismund I. von Polen. Öl auf Leinwand, 1882.


Albrecht von Hohenzollern (1490–1568), letzter Hochmeister des Deutschen Ordens und erster Herzog von Preußen. Gemälde, 1522.


Friedrich I. (reg. 1701–1713), erster König in Preufien, Königsberg 1701. Farbdruck, 1890, nach einem Aquarell von Woldemar Friedrich.


Friedrich Wilhelm I. (1620–1688), der »Große Kurfürst« von Brandenburg und letzte Herzog von Preußen. Nach einem Stich von Antoine Masson aus dem Jahr 1683.

Auch in Hochburgund vollzogen sich neue Entwicklungen. Dort hatte ein weiterer fränkischer Abenteurer, Rudolf von Auxerre (859–912), die Initiative ergriffen. Dass er und seine Mitstreiter alle durch Heirat mit den bayerischen Welfen verbunden waren, zeigte, dass sich Deutschland für diesen Raum zu interessieren begann. Keiner der verschiedenen Oberherren von Lotharingien war besonders stark, und dies bot Rudolf eine günstige Gelegenheit. Nachdem sein Versuch, das Elsass zu erobern gescheitert war, zog er sich nach St. Maurice(-en-Valois) zurück, seinen Stammsitz, und schmiedete zusammen mit mächtigen Adeligen und Kirchenmännern einen neuen Plan. Im Jahr 888 wurde in St. Maurice eine Versammlung einberufen, die ihn zum »König von Burgund« wählte, entsprechend dem Beispiel, das in der Provence die Synode von Mantaille gegeben hatte. Rudolf festigte seine Position, indem er auf seinen Anspruch auf das Elsass verzichtete, wofür die Ostfranken seine Eigenständigkeit anerkannten. Zudem schloss er einige kluge Heiratsallianzen. Seine Schwester heiratete Richard den Gerichtsherrn. Eine seiner Töchter heiratete Ludwig den Blinden, eine andere Boso II., den Grafen von Arles und späteren Markgrafen der Toskana. Die Burgunder hielten zusammen.

Ende des 9. Jahrhunderts gab es schließlich drei eigenständige burgundische Reiche. Eines davon, das Herzogtum, lag innerhalb des westfränkischen Machtbereichs. Die beiden anderen, die Königreiche Hochburgund und Niederburgund, waren gerade erst unabhängig geworden. Rudolfs Herrschaftsgebiet erstreckte sich zwischen »Iurum et Alpes Penninas … apud Sanctum Mauritium«. Daher wurde dieses Reich manchmal auch als »Transjuranisches Burgund« bezeichnet, um es vom Herzogtum im »Cisjuranischen Burgund« zu unterscheiden, doch diese alten Benennungen sind verwirrend. In Wirklichkeit umfasste Rudolfs Territorium beide Flanken des Jura und erstreckte sich über die heutigen Schweizer Kantone Wallis, Waadt, Neuchâtel und Genf sowie über Savoyen und die nördliche Dauphiné. Das Verwaltungszentrum war St. Maurice (St. Moritz). Dies war das fünfte burgundische Reich gemäß der Liste von Bryce.


»Hochburgund« kann man sich heute nur im Zusammenhang mit den modernen Bezeichnungen »Frankreich«, »Deutschland« und »Schweiz« vorstellen. Es ist stets zu bedenken, dass die modernen europäischen Staaten nicht neu erfunden wurden und dass die Gemeinschaften, die ihnen vorausgingen, nicht weniger künstlich waren als sehr viele Staaten in der europäischen Geschichte. Die »Hochburgunder« übten sprachlichen Zusammenhalt und drangen niemals über die Grenzen ihrer alten Stammesfeinde, die Deutsch sprechenden Alamannen vor. Sie waren geprägt durch die Sturheit von Bergbewohnern, instinktiv misstrauisch gegenüber Außenstehenden und teilten die Erinnerungen und Mythen aus einer gemeinsamen Vergangenheit, die ein halbes Jahrtausend alt war. Hier, so glaubte man, konnte der Geist des alten Burgund besser bewahrt werden als im französisch regierten Herzogtum oder in Gebieten, die stärker äußeren Einflüssen ausgesetzt waren. Ein Schweizer Historiker schrieb in diesem Zusammenhang: »C’est ainsi que nacquit une improbable patrie entre un matreau et une éclume.« (»So wurde hier, gewissermaßen zwischen Hammer und Amboss, ein schier unmögliches Heimatland geboren.«)60 Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Schweiz aus burgundischen Wurzeln erwachsen ist.

 

Kaum ein Fachhistoriker dürfte wohl der Einschätzung widersprechen, dass das Hochburgund des 10. Jahrhunderts »einen der undurchsichtigsten Abschnitte der mittelalterlichen Geschichte« darstellte.A Rudolf II. (gest. 937), der einzige Sohn des Begründers des Königreiches, setzte sein Geburtsrecht aufs Spiel, als er sich in die Politik in Norditalien einmischte, in der viele gefährliche Fallstricke lauerten. Nachdem er 923 zum König der Lombarden gekrönt worden war, pendelte er eine Zeit lang zwischen St. Maurice und Pavia. Die italienischen Adeligen erhoben sich erwartungsgemäß gegen ihn und wollten Hugo von Arles, den Regenten von Niederburgund, an seine Stelle setzen. Im Jahr 933 fanden Rudolf und Hugo zu einer genialen Lösung. Rudolf anerkannte Hugos Anspruch auf Italien, wofür Hugo Rudolf als Monarchen eines vereinigten Königreiches aus Hoch- und Niederburgund vorschlug. Rudolfs Tochter heiratete Hugos Sohn, und vier Jahre später kam das glückliche Paar in den Besitz seines vereinten Reiches. Dieses zentrale Ereignis ist allerdings mit einigen Unklarheiten verbunden, da die Könige von Hochburgund abwechselnd Rudolf, Rudolphus, Ralf oder Raoul genannt wurden. Seltsam ist ferner, dass die Zählung der Herrscher nach der Schaffung des neuen Reiches bruchlos fortgesetzt wird. Aus dynastischen Gründen wird der erste Rudolf, der über das Reich der beiden Burgund herrschte, im Allgemeinen als Rudolf II. bezeichnet, was darauf hindeutet, dass es sich eher um eine Übernahme des Südens als um die Gründung eines neuen Reiches handelte.61

Für Verwirrung sorgt hauptsächlich die Einschätzung des politischen Kontextes des Vertrags von 933. In sämtlichen Kommentaren aus Burgund wird er als reines Tauschgeschäft zwischen zwei Herrschern dargestellt. Doch die Entwicklungen in Norditalien wurden in Deutschland stets sehr aufmerksam verfolgt, wo die Abmachungen zwischen Rudolf und Hugo das Misstrauen der Ottonen-Dynastie wecken mussten. Als die beiden burgundischen Herrscher ein enges politisches und verwandtschaftliches Bündnis schlossen, konnten ihre kaiserlichen deutschen Nachbarn nicht untätig zusehen:

Auf die Gefahr, die durch diese Allianz ausging, reagierte [Kaiser] Otto umgehend. Als Schutzherr von Rudolfs 15 Jahre altem Sohn Konrad marschierte Otto in Burgund ein ›brachte den König und das Königreich in seinen Besitz‹ und begegnete dadurch der Gefahr einer Vereinigung von Italien und den burgundischen Landen … Burgund wurde zwar erst 1034 formell mit Deutschland zusammengeschlossen, stand aber seit 938 unter deutscher Hegemonie.62

Der deutsche Faktor war das entscheidende Element bei der burgundischen Vereinigung. Die rudolfinische Dynastie durfte weiterbestehen, und der Zusammenschluss der beiden burgundischen Königreiche schritt voran. Doch der Kaiser hielt stets die Peitsche in der Hand. Wenn sie es für erforderlich hielten, konnten er oder seine Nachfolger das Arrangement rückgängig machen und die burgundischen Angelegenheiten zu ihrem eigenen Vorteil neu ordnen.

Im 10. Jahrhundert wurde allmählich die künftige Gestalt Europas sichtbar. Im Westen bildeten sich im Zuge der langwierigen Reconquista gegen die Muslime wieder christliche Staaten auf der Iberischen Halbinsel. Der erste König von Gesamt-England bestieg den Thron (siehe dazu S. 86). Unter Hugo Capet (reg. 987–996) und seinen Nachfolgern wurde das Westfrankenreich allmählich zu Frankreich umgestaltetB, und die drei ottonischen Herrscher von Sachsen formten jenen Staat, der im Laufe der Zeit zum Heiligen Römischen Reich werden sollte. Als die Erinnerungen an die Franken verblassten, verschwanden auch alte Namen wie Westfrankenreich oder Neustrien und Ostfrankenreich oder Austrasien und wurden durch Frankreich und Deutschland ersetzt. In Italien hatte der Papst sowohl politisch wie auch geistlich an Autorität gewonnen. Im Osten schwanden der Einfluss von Byzanz und der orthodoxen Kirche, und es entstanden neue Staaten. Nach den Ungarneinfällen 895 gingen die Jahrhunderte der Auseinandersetzungen mit den Barbaren in Europa schließlich zu Ende. Bulgarien, Polen, Ungarn und Rus sowie Frankreich, England und Deutschland waren die neuen politischen Akteure. Trotz seiner vielfältigen Wandlungen hatte Burgund mittlerweile ein stattliches Alter erreicht.

Obwohl willkürlich geschaffen, war das Königreich der beiden Burgund – Le Royaume des Deux Bourgognes –, das nach seiner Hauptstadt meist als »Königreich Arelat« bezeichnet wird, alles andere als ein künstliches Gebilde. Es bildete eine natürliche geografische Einheit, bestand aus dem Tal der Rhône und deren Nebenflüssen zwischen den Gletschern und dem Meer. Es beruhte auf dem historischen Burgund und besaß eine gemeinsame postlateinische Kultur. Im Norden verfügte es durch die »Burgundische Pforte« über einen Verbindungsweg zum Rheinland; im Süden war es über die Häfen Arles und Marseille mit Italien und Iberien verbunden. In geopolitischer Hinsicht lag es gewissermaßen im Windschatten jener Stürme, die über die Nachbarstaaten hinwegfegten. Die Zeichen standen gut für eine erfolgreiche historische Entwicklung. Das war das sechste burgundische Reich, gemäß der Auflistung von James Bryce war es Nr. V.

Im ersten Jahrhundert seines Bestehens konnte das Königreich Arelat jene dynastischen Krisen vermeiden, die vielen ähnlichen Staaten zu schaffen machten. Die zwei Nachfolger von Rudolf II., Konrad (reg. 937–993) und Rudolf III. (reg. 993–1032), lebten beide sehr lange. Konrads lateinischer Beiname Pacificus (»der Friedfertige«) klang nach mittelalterlichen Verhältnissen, als Könige per definitionem Kriegsherren waren, etwas abwertend, aber vielleicht tat man ihm damit auch ein wenig unrecht. Zutreffender wäre vielleicht die Übersetzung »der Feige« oder zumindest »der Unkriegerische«. Konrad scheute aber nicht vollständig vor dem Krieg zurück. Im Jahr 954 drangen gleichzeitig plündernde ungarische Horden und Sarazenen in sein Reich ein. Durch Gesandte bat er die Ungarn, ihm zu helfen, die Sarazenen zurückzuwerfen, zugleich aber flehte er die Sarazenen an, gegen die Ungarn vorzugehen. Dann wartete er ab, bis sich die beiden Feinde gegenseitig zerfleischten, und befahl schließlich dem burgundischen Heer, reinen Tisch zu machen. Im folgenden Jahrzehnt unternahm Konrad mehrere Feldzüge gegen sarazenische Siedlungen in der Provence. Man kann ihn daher am besten als einen König bezeichnen, der sowohl mit List und Tücke als auch mit dem Kampf vertraut war. Dass er sich 56 Jahre auf dem Thron halten konnte, war allein schon eine herausragende Leistung.

Konrads Reich ist ausführlich durch Münzen wie auch durch kirchliche Urkunden bezeugt. In Lugdunum wurde eine Bronze-Münze mit der Aufschrift CONRADUS geprägt. Konrad gründete 960 die Abtei Montmajour in Frigolet in der Nähe von Avignon und im Zeitraum bis 99363 das Kloster Darentasia (Tarentaise in Savoyen), dessen heutiger Name Moûtiers eine verballhornte Form von monasterium ist. Er war mit einer westfränkischen Prinzessin verheiratet, doch seine Herrschaft war in politischer Hinsicht zum einen durch ein feindseliges Verhältnis zu den Hugoniden geprägt, die danach strebten, das Abkommen von 933 rückgängig zu machen, und zum anderen durch eine dauerhafte deutsche Vormundschaft. Konrad war ein Mündel des kaiserlichen Hofes gewesen, und seine Schwester Adelheid wurde die zweite Gemahlin Ottos des Großen. Sie war eine großzügige Wohltäterin und wurde später heilig gesprochen. Adelheid spielte eine wichtige Rolle als Regentin (reg. 983–994) während der Minderjährigkeit ihres Sohnes. Dessen späteres Leben stand im Übrigen im Schatten der mit der Jahrtausendwende verbundenen Befürchtungen über das Weltende. »Das 10. Jahrhundert war die Eisenzeit der Welt; das Schlimmste war eingetreten, und nun sollte der Tag des Gerichts und der Abrechnung kommen.«64 Seuchen und Hungersnöte kündigten die Katastrophe an, die nie eintrat. Einige Historiker vermitteln andere Eindrücke. »Das milde Klima des Südens … brachte die ersten Früchte der Ritterlichkeit hervor und die dazugehörigen Lieder«, schrieb enthusiastisch ein Forscher im 19. Jahrhundert. »Während des größten Teils des 10. Jahrhunderts, als Nordfrankreich von inneren Unruhen erschüttert wurde, erfreuten sich die Provence und die nichtfranzösischen Teile des historischen Burgund einer Phase der Ruhe unter der maßvollen Herrschaft von Konrad dem Friedfertigen.«65


Konrads Sohn Rudolf III. war ebenfalls von deutscher Unterstützung abhängig. Als der Adel rebellierte, wurde er von einer deutschen Streitmacht gerettet, die Adelheid entsandt hatte, denn das Königreich der beiden Burgund verfügte über keine starke Zentralgewalt. Der König saß in Arles und war damit weit entfernt von den Regionen im Inland, die er im Griff zu behalten suchte. Grafen, Bischöfe und Städte beharrten auf der Herrschaft über ihre Gebiete. Doch zugleich erwies sich die Dezentralisierung auch als vorteilhaft. Das Gemeinwesen konnte nicht durch einen Schlag gegen das Zentrum ausgelöscht werden; es konnte nur langsam, Schritt für Schritt, zerlegt werden. Das war schließlich auch das Schicksal des Königreichs Arelat. Es bestand weiter, wenn auch in fragilem Zustand, nachdem die meisten seiner wichtigsten Teile schon lange abgefallen waren.

Fairerweise sollten die Historiker aber auch all jene kleinen Herrscher und Staatsgebilde erwähnen, die neben der königlichen Autorität Fuß fassen konnten. So übernahm beispielsweise in Hochburgund der Bischof von Genf nicht nur die Herrschaft über die Stadt, sondern auch über das Gebiet um den See. Daher verlegte der Comitatus (der Graf der Genfer Region) seinen Sitz in das benachbarte Eneci (Annec), wo vom 10. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts eine Dynastie aus 21 Grafen regierte. Ähnliches ereignete sich in Lyon. Die Bischöfe von Lyon, die das Amt des Primas von Gallien beanspruchten, waren in fränkischer Zeit zu Erzbischöfen erhoben worden und herrschten bereits unangefochten über die Stadt, als das Königreich Arelat entstand. Daraufhin zog der Graf von Lyon in den benachbarten Bezirk Forez um, wo er von seiner Festung in Montbrison aus einen endlosen Kleinkrieg mit den Erzbischöfen führen konnte.

Im Norden von Hochburgund genossen die »Pfalzgrafen von Burgund« besondere Privilegien, weil sie die Grenzregion gegen die Deutschen im Elsass und in Schwaben schützten. Ihr Hauptsitz befand sich in Vesontio (Besançon), wo Otto-Wilhelm von Burgund (986–1026) eine Linie aus 36 Grafen begründete, die sich bis ins 17. Jahrhundert halten konnte. In der Grafschaft Vienne errichteten die Grafen von Albon einen Stützpunkt, von dem aus Guignes d’Albon (gest. 1030) ein kleines Reich schuf, das sich bis zum Mont Cenis erstreckte. Einer seiner Nachfahren nahm einen Delfin in sein Wappen. Dessen Nachfolger wurden daher als delfini bezeichnet und ihr Machtgebiet als Delfinat oder als Dauphiné.

In Niederburgund bildete sich im Rhône-Tal, im Valentinois, in Orange in der Comtat Venaissin eine Reihe von weitgehend selbstständigen Grafschaften. Am mächtigsten wurden jedoch die Erben von Graf Boso. Von den drei Linien der Bosoniden endete eine mit Hugo von Arles (siehe oben); eine andere brachte die »Grafen der Provence« hervor, die in Ais (Aix-en-Provence) residierten; die dritte begründete die Grafschaft von Furcalquier in den Bergen. Die Grafen der Provence setzten sich im südlichen Teil des Königreiches nahezu vollständig durch; lediglich die ungebärdigen Herren von Baux (Les Beaux) trotzten mit ihrer uneinnehmbaren Festung und ihrem unbezwingbaren Willen allen Unterwerfungsversuchen.

Diese Zersplitterung der Macht schwächte das Königreich Arelat, und Arles war schließlich nur noch eine nominelle Hauptstadt. Zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert fanden hier keine Königskrönungen mehr statt. Das prachtvolle römische Amphitheater wurde in eine Burg umgewandelt, und in der Arena wurden verschiedene Schutzbauten errichtet. Davor stand die Bischofskirche St. Trophine und wartete auf bessere Zeiten. Rudolf III. versuchte sich unter diesen stetig verschlechternden Bedingungen zu behaupten. Die Chronisten versahen ihn mit den Beinamen »der Faule« (»le Fainéant«) und »der Fromme«, woraus sich »heiliger Faulenzer« ergab. Die größten Sorgen bereiteten ihm die Aufsässigkeiten der Pfalzgrafen aus dem Norden, gegen die er den deutschen König Heinrich II. zu Hilfe rief. Heinrich verlangte dafür – wie zu dieser Zeit auch vom Normannenherzog Wilhelm – das Versprechen, ihn als alleinigen Thronerben einzusetzen. Rudolf war kinderlos geblieben und sein Erbe hätte sonst wahrscheinlich sein Neffe Odo II. von der Champagne beansprucht, einer der schreckenerregendsten Krieger in dieser schreckenerregenden Zeit. Doch Heinrich (reg. 1014–1024) starb schließlich vor Rudolf. Dennoch geriet das Versprechen nicht in Vergessenheit.