Verschwundene Reiche

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Im Jahr 1032 spitzte sich die Situation zu. Wie erwartet, starb Rudolf ohne unmittelbare Nachkommen. Wie erwartet, begannen unverzüglich Odo von der Champagne und Heinrichs Nachfolger, Kaiser Konrad II., um den Thron des Königreiches Arelat zu kämpfen. Der Kaiser setzte sich durch, denn Odos Anspruch wurde von dessen Lehnsherrn, dem König von Frankreich, zurückgewiesen. So ging das »Reich der beiden Burgund« friedlich und unter internationaler Anerkennung in den Besitz der deutschen Kaiser über. Es blieb ein Reichsgut mit formeller Selbstständigkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches, bis mehr als sechs Jahrhunderte später der letzte Rest an Frankreich fiel.

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nations war ein komplexer politischer Organismus. In seiner Spätphase umfasste es, wie manche sagten, mehr Fürstentümer, als das Jahr Tage hat. Doch nach 1032 bestand es im Kern aus drei Gebieten, dem Königreich Deutschland (Regnum Teutonicum), dem Königreich Italien (Regnum Italiae) und dem Königreich Burgund (Regnum Burgundiae) – das »Königreich Arelat«, das nach der Eingliederung in »Königreich Burgund« umbenannt wurde. Nun gab es nur noch zwei burgundische Reiche: das abhängige Herzogtum innerhalb Frankreichs und das abhängige Königreich innerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Sollte man Letzteres als ein neues Staatswesen einstufen oder nicht? Bryce verneinte dies und behandelte es als schlichte Fortsetzung des Königreichs Arelat. Doch die gegenteiligen Argumente erscheinen überzeugender. Das politische Umfeld hatte sich grundlegend gewandelt, und auch die territoriale Basis sollte sich verändern. Nach 1032 erlebte das Reichsgut Burgund weitere Transformationen. Es wird hier als das siebte burgundische Reich eingeordnet.

In den folgenden drei Jahrhunderten bemühte sich das Königreich Burgund, sich zu so gut wie möglich zu behaupten. Mit Ausnahme von Friedrich Barbarossa (reg. 1152–1190) zeigten die fernen Kaiser in ihren verschiedenen Residenzen in Deutschland nur selten näheres Interesse. Die politischen Vorgänge im Königreich Burgund wurden von lokalen Gegebenheiten bestimmt – von den fortdauernden Streitereien zwischen den Grafen und den Städten, von Auseinandersetzungen im Verborgenen, von Intrigen zwischen den Fürsten. Dennoch hätte wohl kaum jemand die Vorhersage gewagt, dass das schlichte französische Herzogtum eines Tages mächtiger werden würde als das große Königreich im Heiligen Römischen Reich.

Interessant ist die sprachliche Entwicklung, die sich im Reichsgut vollzog. Trotz der deutschen Oberherrschaft konnte die deutsche Sprache kaum Fuß fassen. Die vorherrschende Sprache blieb ein frankoprovenzalisches Idiom, der Vorläufer des modernen Arpitanischen, das man auch heute noch auf den Straßen von Lyon und in Teilen der Westschweiz und Savoyens hören kann. Menschen mit historischem Gespür vernehmen im Arpitanischen das Echo eines vergangenen Burgunds.66

Das Verfahren der Ernennung von Grafen zu Herzögen war anscheinend völlig willkürlich. Alles hing davon ab, wie viel Macht, Prestige und Glück ein bestimmter Vasall zu einem bestimmten Zeitpunkt besaß. Doch einen besonderen Platz in der Geschichte nimmt ein neues Herzogtum ein, das eng mit dem schwäbischen Adelsgeschlecht der Zähringer verbunden war. Die ehemalige Burg der Zähringer auf einem Berg in der Nähe von Freiburg im Breisgau ist heute eine Ruine, doch im 11. und 12. Jahrhundert war sie der Sitz eines ehrgeizigen Fürstengeschlechts, das bereits zwei Herzogtümer gewonnen und wieder verloren hatte und das nun zum dritten Mal nach einem Herzogtum strebte. Die Zähringer hatten sich als erfolgreiche Verwalter der Eigengüter ihrer Familie erwiesen; sie hatten im Schwarzwald ihre Rechte gegenüber der Kirche durchgesetzt, und nach der Gründung der Stadt Freiburg errichteten sie dort ein organisiertes System der Kommunalverwaltung. Sie führten im Kleinen vor, was der Kaiser in großem Rahmen durchzusetzen hoffte. Sehr viele burgundische Adelige hatten mittlerweile ihren Lehnseid vergessen. Im Jahr 1127 bestellte der Kaiser Konrad von Zähringen zum Rektor (königlicher Stellvertreter) von Burgund und übertrug ihm die Güter eines neu geschaffenen Herzogtums Burgundia Minor (»Klein-Burgund«). Die Zähringer sollten im Königreich Burgund die Disziplin wiederherstellen.67

Der Herzogtum Klein-Burgund umfasste ein großes Gebiet östlich des Jura, das weitgehend identisch ist mit den Grenzen der heutigen frankophonen Schweiz. Es ist die Nr. VI auf der Liste von Bryce. Zum Territorium des Herzogtums der Zähringer gehörte auch ein kleineres Gebiet, die Landgrafschaft Burgund, die auf der Bryce-Liste die Nr. VIII darstellt. Dieses Territorium bestand aus dem Gebiet rechts der mittleren Aare zwischen Thun und Solothurn. Möglicherweise reichte es auch bis Habsburg, der »Habichtsburg«, die über der Aare bei Solothurn steht und als Stammburg der Habsburger gilt, die später zum mächtigsten Herrschergeschlecht in Mitteleuropa aufstiegen. Der Tradition der Habsburger zufolge hieß der Stammvater Guntram.68

Als Rektoren und Herzöge hatten die Zähringer die Lehenshoheit über eine Vielzahl von Edlen, Grafen und Bischöfen inne sowie über ein Archipel von loyalen Städten, die verstreut waren über ein widerspenstiges Land. Sie bauten ein Netz von miteinander verbundenen Städten auf, wozu Freiburg, Burgdorf, Murten (Morat), Rheinfelden und Thun gehörten. Ihr bedeutsamster Repräsentant, Graf Berthold V. von Zähringen (1160–1218), ließ die Burg von Thun erbauen und gründete im Jahr 1191, angeblich nachdem er einen Bären erlegt hatte, die Stadt Bern. Er starb kinderlos, und mit ihm endete die Linie der Zähringer. Das Experiment wurde nicht wiederholt.69


Schon ab Mitte des 12. Jahrhunderts bemühte sich Friedrich Barbarossa darum, die Macht des Kaisertums zu stärken. Er ließ sich 1152 in Aachen zum deutschen König krönen, 1154 in Pavia zum König von Italien, 1155 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und mit einigem zeitlichen Abstand 1173 in Arles schließlich zum König von Burgund. Allen diesen Schritten gingen jahrelange politische Aktivitäten und Feldzüge voraus. Im Laufe dieser Zeit verbündete er sich mit dem Papst und ermöglichte dadurch die Wiederbelebung der »Zwei-Schwerter-Lehre«, wonach Gott den Menschen zwei Schwerter gegeben habe, das geistliche und das weltliche, die vom Papst beziehungsweise vom Kaiser geführt werden sollten. Barbarossas Interesse an Burgund wurde durch seine zweite Ehe entfacht, seine Heirat mit Beatrix von Burgund, der Erbin des burgundischen Pfalzgrafen. Durch diese Heirat unterstellte Barbarossa das Gebiet seiner unmittelbaren Herrschaft und verwickelte sich in die Konflikte im Königreich Burgund, konnte aber keine entscheidenden Erfolge erzielen. Er starb auf dem Zweiten Kreuzzug, ohne jemals das Heilige Land zu Gesicht bekommen zu haben.70

Der langwierige »Investiturstreit«, der Konflikt zwischen geistiger und weltlicher Macht, schwächte die beiden höchsten Autoritäten der mittelalterlichen Welt gleichermaßen. Er begann im 10. Jahrhundert, als die ottonischen Kaiser erstmals die Papstwahl zu beeinflussen versuchten, und setzte sich in mehreren Wendungen bis ins 13. Jahrhundert fort. Dem Konflikt lag im Kern die ungelöste Frage zugrunde, ob der Papst oder der Kaiser die übergeordnete rechtliche Instanz darstellten, und konkret ging es um das Recht auf die Amtseinsetzung (Investitur) von Geistlichen, insbesondere von Bischöfen und Äbten. Der Streit verschärfte die Auseinandersetzungen und Bürgerkriege in Deutschland, bis schließlich 1122 durch das Wormser Konkordat eine Kompromisslösung gefunden wurde. In anderen Ländern jedoch dauerte dieser Streit noch länger an, insbesondere in England unter König John. Seine Bedeutung mag von manchen Historikern übertrieben worden sein, die andere Ursachen für Spannungen unbeachtet ließen,71 doch er führte dazu, dass in allen Teilen des Reiches eine verfahrene Situation entstand, in der weder Papst noch Kaiser den Machtanspruch des anderen anzuerkennen bereit waren, und beschleunigte letztlich die Zersplitterung der Macht:

In der Zeit des Investiturstreits … entstanden neue territoriale Einheiten, und diese Einheiten bildeten die Keimzellen, aus denen sich in Deutschland die Fürstentümer des Späten Mittelalters entwickelten … Es sollte noch viele Generationen dauern, bis die Fürsten die vollständige Kontrolle über ihre Territorien durchsetzen konnten, doch bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts beschritten die großen Adelsfamilien jenen Weg, der am Ende zur territorialen Souveränität führte; und es war der Investiturstreit mit seinen revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen im Gefolge, der ihnen die Möglichkeit eröffnete, ihre Macht zu behaupten und auszubauen.72

Das Königreich Burgund war besonders anfällig für diese Schwächung der staatlichen Autorität. Es stellt sich die Frage, warum die Kaiser nach dem Zwischenspiel des Herzogtums der Zähringer so zögerlich waren und nicht eingriffen und den Niedergang aufhielten. Darauf gibt es geografische, politische und strategische Antworten: Zum einen waren militärische Aktionen in Burgund aufgrund des gebirgigen Terrains stets mit großen Unsicherheiten behaftet. Zum anderen genoss das Königreich Deutschland eindeutig den Vorrang. Dem Tod eines Kaisers folgte stets eine Auseinandersetzung, in der die führenden Thronanwärter um die Nachfolge rangen, bis schließlich ein neuer Kaiser gekrönt wurde. Und drittens musste jeder Monarch, wenn er seine Position in Deutschland gesichert hatte, sich entscheiden, ob er sein Augenmerk künftig dem Königreich Italien oder dem Königreich Burgund zuwenden wollte. Fast ausnahmslos entschieden sich die neuen Kaiser für Italien. Rom, der Sitz des Papstes, übte eine magische Faszination aus. Die Unterstützung des Papstes besaß enorme Bedeutung, und jeder künftige deutsche Kaiser träumte davon, in die Fußstapfen Karls des Großen zu treten. Daher blieb das Königreich Burgund üblicherweise unbeachtet. Ein deutscher Kaiser überließ nicht nur Burgund, sondern auch Deutschland sich selbst. Friedrich II. (reg. 1220–1250), im normannischen Sizilien geboren, zog es vor, seinen Hof in seinem Stammland Süditalien einzurichten.73

 

Unaufhaltsam erlebte das Königreich Burgund nun eine Reihe von Abspaltungen. In regelmäßigen Abständen brach ein Teil des Reiches weg. Die ursprüngliche Ansammlung von Territorien schrumpfte stetig. Als erstes Gebiet schied die Provence aus, dann folgten das Comtat Venaissin, Lyon und die Dauphiné. Die Kaiser hielten noch an einigen Ansprüchen und Rechten fest, doch die Entwicklung war unumkehrbar. Das Königreich zerfiel langsam. Die ersten Schritte zur Abspaltung wurden von den Geistlichen vollzogen, von denen einige den Titel »Fürstbischof« beanspruchten. Sie fühlten sich dazu ermutigt, weil die Kaiser die Unterstützung der Kirche benötigten. Die Bischöfe von Sion (im Valais) und von Genf sagten sich schon sehr früh los, und andere folgten ihnen.

Die Haltung der Kirche in der Investitur-Frage wurde am eindrücklichsten im Jahr 1157 in Burgund zum Ausdruck gebracht. Auf der Versammlung von Besanz (Besançon) vertrat der päpstliche Gesandte die Ansicht, dass das Kaiserreich lediglich ein päpstliches benefizium sei, also ein freiwilliges Geschenk, über das der Papst weiterhin verfügen könne. Dadurch riskierte er, wie ein Historiker bemerkte, dass einer der anwesenden Herzöge des Reiches ihm mit seiner Streitaxt den Schädel spaltete, denn mit dieser Aussage stellte er die unbestrittene Autorität des Kaisers eindeutig infrage. Doch der Erzbischof von Besanz wie auch einige Grafen aus der Region kamen dadurch wohl auf neue Ideen.

Die Pfalzgrafschaft Burgund – die diesen Namen aufgrund ihrer Lage an der nördlichen Grenze des Königreiches erhalten hatte – war ein sehr wichtiges Gebiet. Graf Rainald III. (gest. 1148) hatte hier bereits vergeblich ein eigenes kleines Reich aufzubauen versucht. Nachdem er die Grafschaft Mâcon im benachbarten französischen Herzogtum Burgund geerbt hatte, hatte er sich zum Freigrafen (franc comte) innerhalb des Heiligen Römischen Reiches erklärt. Doch die kaiserlichen Behörden billigten diesen Schritt nicht und beschlagnahmten zur Strafe einen Großteil von Rainalds Gütern. Aber dann heiratete Kaiser Friedrich Barbarossa Rainalds Tochter und die Erinnerung an Rainalds »Freigrafschaft« lebte weiter.74 Im Jahr 1178 gelang es dem Erzbischof von Besanz, einem Enkel von Rainald III., durch Verhandlungen seinen Bischofsitz in eine Reichsstadt umzuwandeln, die von ihren Lehenspflichten gegenüber dem Pfalzgrafen befreit wurde. Das war ein wegweisender Präzedenzfall. Einige Jahrzehnte später ging der Bischof von Basel noch einen Schritt weiter und schuf ein »Fürstbistum«, das nicht nur über seinen Bischofssitz herrschte, sondern auch über die nahe gelegenen beschlagnahmten Güter von Rainald III.75


Auch große Teile der künftigen Schweiz wurden aus dem zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Königreich Burgund herausgeschnitten. Anfang des 13. Jahrhunderts wanderten Bauern aus dem Gebiet des Bischofs von Sion im Valais nach Graubünden im Osten. Die Einwanderer brachten Brückenbautechniken mit, machten die Schöllenenschlucht für Reisende passierbar und ermöglichten den Zugang zu dem bedeutsamen Handelsweg über den Gotthard-Pass nach Italien. Im August 1291 gelobten die Männer von Uri, Schwyz und Unterwalden, die Mautstellen am Pass betrieben, dass sie sich jeder Einmischung von außen widersetzen würden. Dies gilt als Gründungsakt der schweizerischen Eidgenossenschaft.76

Die Provence löste sich durch eine Reihe von Heiraten von Burgund. Im Jahr 1127, in der ersten Phase, hatte die letzte Bosoniden-Erbin ihre Rechte ihrem aus Barcelona stammenden Ehemann abgetreten und dadurch die Kontrolle über das Territorium einer Macht außerhalb des Heiligen Römischen Reiches übertragen. Im Jahr 1246 brachte die letzte katalanische Erbin der Provence dieselbe Mitgift in ihre Ehe mit einem angevinischen Gemahl ein, was den Anfang einer Linie von Grafen darstellte, die Vasallen des französischen Königs waren (siehe dazu S. 200).77

Die Erosion setzte sich fort. Im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts eroberten die Franzosen während des Kreuzzugs gegen die Albigenser die Languedoc und fassten dadurch auf dem rechten Ufer der Rhône Fuß. Unter König Ludwig dem Heiligen (reg. 1226–1270) begannen sie mit der Einrichtung eines Außenpostens an der Mittelmeerküste bei Aigues-Mortes, was zur Gründung eines Kreuzfahrerhafens führen und ihre Kontrolle über das untere Rhône-Tal festigen sollte.78 Im Jahr 1229 gelang es Agenten des französischen Königs, den Bischof von Vivarium (Vieviers) zu stürzen und einen französischen Brückenkopf am Fuße der Cevennen zu errichten.79 Das Comtat Venaissin auf dem gegenüberliegenden Ufer, das seinen Namen von der kleinen Stadt Venasque ableitete, wurde von seinem kinderlosen Eigentümer 1274 als Geschenk dem Papst hinterlassen. Die Enklave Avignon innerhalb des Comtat wurde 1348 an einen im Exil weilenden Papst verkauft.80 Die benachbarte Grafschaft Aurasion (Orange) genoss den Status eines autonomen Fürstentums unter den Grafen von Baux, die bekannt wurden durch ihre Auseinandersetzungen mit den Grafen der Provence, die sogenannten »Bausseneque-Kriege«. Ihre Hinterlassenschaft fiel schließlich an das französische Haus Chalon.81

Lugdunum (Lyon), die bedeutendste Stadt im Rhône-Tal, entwickelte sich unterdessen zu einer herausragenden Handelsmetropole. Mit ihren Jahrmärkten, die von zahlreichen italienischen Kaufleuten besucht wurden, bildete sie eine Drehscheibe des Handels zwischen dem nördlichen und dem südlichen Europa. Zunehmend jedoch begann sich Frankreich auch aus strategischen Gründen für die Stadt zu interessieren. Im 13. Jahrhundert war Lyon vor allem ein sehr bedeutender Erzbischofssitz. Hier fanden zwei Kirchenkonzile statt. Auf dem Konzil im Jahr 1245 wurde Kaiser Friedrich II. exkommuniziert und abgesetzt. Am zweiten Konzil in Lyon im Jahr 1274 nahmen 500 Bischöfe teil. Die Päpste leiteten diese Konzilien persönlich, und 1305 wurde Papst Klemens V. in Lyon gekrönt. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass der Erzbischof von Lyon, Béraud de Got, der Bruder des neuen Papstes war.

Die Absetzungsbulle von Papst Innozenz IV., in der die Exkommunikation von Friedrich II. bekräftigt wurde, nahm kein Blatt vor den Mund:

… Wir können seine Ungereclitigkeiten niclit länger dulden, ohne Christus schwer zu beleidigen, und der Druck unseres Gewissens zwingt uns, ihn gerecht zu bestrafen. Um seine anderen Vergehen beiseite zu lassen, vier äußerst schwere Verbrechen hat er begangen, die mit keiner Ausflucht zu leugnen sind. Er hat mehrfach Meineid geleistet; er hat den Frieden … zwischen Kirche und Reich … willkürlich gebrochen; er hat sogar das Sakrileg begangen, Kardinäle der heiligen römischen Kirche sowie Prälaten und Kleriker … anderer Kirchen gefangensetzen zu lassen, die auf dem Wege zum Konzil waren …; auch der Ketzerei wird er nicht aus zweifelhaften oder geringfügigen, sondern aus schwerwiegenden und eindeutigen Gründen verdächtigt … Daher haben wir offengelegt, dass der genannte Fürst, der sich des Kaisertums, der Königreiche und aller Ehre und Würde so unwürdig erwiesen hat und der wegen seiner Ungerechtigkeiten von Gott verworfen wurde, damit er nicht regiere und nicht herrsche, befangen und verworfen ist aufgrund seiner Sünden … Wir zeigen dies an und entheben ihn … kraft unseres Urteils und kraft apostolischer Autorität verbieten wir streng, dass irgendjemand ihm fürderhin wie einem Kaiser oder König gehorcht … Diejenigen aber, denen in diesem Reiche die Wahl des Kaisers zusteht, sollen in freier Wahl einen Nachfolger bestimmen … Gegeben zu Lyon, am 17. Juli (1245), im dritten Jahr des Pontifikats.82

Ein solches Dokument hätte niemals formuliert und verlesen werden können, wenn der Kaiser auch nur noch begrenzten Einfluss in dieser nominell nach wie vor zum Reich gehörenden Stadt ausgeübt hätte.

Auf dem zweiten Konzil von Lyon (1274) ging es um die Überwindung der Spaltung zwischen der katholischen und den orthodoxen Kirchen. Doch dem Konzil gelang es nur, den Begriff filioqueC zu bestätigen und zu definieren, eine zentrale Formel der katholischen Lehre, welche die Wiedervereinigung der West- und der Ostkirchen seit jeher verhindert. (In Lyon hatte auch eine mittelalterhche Ketzerbewegung ihren Ursprung, die sich lange Zeit halten konnte. Der Kaufmann und Wanderprediger Petrus Valdes aus Lyon wurde wegen abweichender theologischer Ansichten von der Kirche gebannt. Doch seine Anhänger, die späteren Waldenser, folgten seinem Beispiel von einem frommen Leben in freiwilliger Armut. Waldensergemeinschaften ließen sich in den Bergen von Savoyen nieder und trotzten jahrhundertelang in bester burgundischer Manier den weltlichen Gewalten.83

Lyon dagegen wurde von inneren Machtkämpfen zerrissen und hatte daher französischen Ränkespielen nicht viel entgegenzusetzen. Der Erzbischof befand sich ständig im Streit mit den Grafen von Lyonnais-Forez und mit den Patriziern der Stadt. Als die Franzosen zuerst den Grafen auf ihre Seite zogen und dann auch die reichen Bürger, geriet der Erzbischof in eine aussichtslose Lage. Im Jahr 1311 nahmen französische Truppen die Stadt ein, ohne auf Widerstand zu stoßen. Der Erzbischof durfte seinen Ehrentitel »Primas der Gallier« behalten, doch die Macht ging auf eine Stadtverwaltung aus gewählten Konsuln über, die ihre Maßnahmen von den Franzosen billigen lassen mussten.84

Die Dauphiné, für die sich Frankreich ebenfalls interessierte, kontrollierte die Straße nach Italien über den Mont Cenis. Doch die Grafen von Albon/Vienne, die Grenoble und die Umgebung des Passes besaßen, hielten sich bis 1349, als sie ihr Gebiet schließlich in einer privaten Transaktion an den König von Frankreich verkauften. Fortan wurde der Titel des Sohnes des Königs und Thronfolgers, des »Dauphin«, von diesem Territorium abgeleitet (ob es weiterhin de jure zum Heiligen Römischen Reich gehörte, ist umstritten).85

In diesem Stadium war das Königreich Burgund schon beträchtlich geschrumpft. Jene Teile, die an Deutschland grenzten, wie Basel und Bern, befanden sich noch unter der Kontrolle des Kaisers. Doch alle Gebiete, die an Frankreich angrenzten, entzogen sich seinem Einfluss. Die deutschen Kaiser fanden sich damit ab. Sie verzichteten zwar nicht förmlich auf ihren Anspruch auf das Königreich, doch nach Konrad IV., der 1254 starb, führten sie den burgundischen Königstitel nicht mehr.

Die politische Zersplitterung sollte sich weiter beschleunigen, doch dieser gängige Begriff wird den komplizierten Prozessen, die sich hier vollzogen, nicht gerecht. Denn nachdem die überkommenen staatlichen Einheiten zusammengebrochen waren, entstanden neue Gebilde, häufig unter Missachtung bestehender staatlicher Grenzen. Heiraten, Brautgaben, Eroberungen und Nachlässe führten zu einer ständigen Abfolge von Zusammenschlüssen, Trennungen und Neugründungen. Der typische burgundische Graf war nicht mehr der Herr über ein direktes Lehen, das einem Oberherrn unterstand. Häufiger war er das Oberhaupt einer Reihe von Gütern, Titeln und Ansprüchen, die im Laufe von Generationen durch die vereinten Bemühungen der Ritter, der Frauen, Kinder und Anwälte seiner Familie entstanden waren.

 

Bei den burgundischen Pfalzgrafen beispielsweise wurde das ursprüngliche Erbe wiederholt von einem politischen Bereich in einen anderen weitergegeben und durch Heirat von einer Familie zu einer anderen: Im Jahr 1156 fiel es an das deutsche Geschlecht Hohenstaufen, 1208 an das bayerische Haus Andechs und 1315 an das französische Königshaus. Jedes Mal fügte der Begünstigte die Titel und Besitztümer seiner Ehefrau seinen eigenen hinzu, wobei er manchmal den früheren Oberherrn anerkannte, manchmal auch nicht. Für adelige Stammbaumforscher trat 1330 ein wichtiges Ereignis ein, als Jeanne III. von Frankreich, die Gemahlin des Herzogs des französischen Burgund, von ihrer Mutter den Anspruch auf die zum Heiligen Römischen Reich gehörende Freigrafschaft Burgund erbte. Das französische Herzogtum und die deutsche Grafschaft standen damit vor einer dauerhaften Vereinigung. Im Zuge der verwirrenden burgundischen Erbfolge (siehe unten) bemühte sich Margarete, die Freigräfin von Burgund (1310–1382), eine Tochter des französischen Königs, diesen Zusammenschluss zu beschleunigen. Im Jahr 1366 begann sie, ohne besonderen rechtlichen Grund, in ihren Urkunden und Dokumenten den Begriff »France-Comté« (sic) zu verwenden und ließ die traditionelle Bezeichnung »Grafschaft Burgund« fallen. (Damit griff sie das Beispiel von Rainald III. auf, der sich als franc comte bezeichnet hatte.) Die mittlerweile etablierte Bezeichnung »Franche-Comté« entstand eindeutig erst nach Margaretes Tod. Das war das Königreich Nr. VII. auf der Liste von Bryce.86

Die Mitte des 14. Jahrhunderts war in Europa eine schwierige, turbulente Zeit. Im Jahr 1348 wütete der Schwarze Tod, und dies war bei Weitem nicht der letzte Ausbruch der Beulenpest. Frankreich stand vor dem Hundertjährigen Krieg mit England, und im Heiligen Römischen Reich herrschte Aufruhr wegen der Goldenen Bulle von 1356, durch die ein neues Grundgesetz für das Reich eingeführt und die Modalitäten der Königswahl neu geregelt wurden. Infolge der Spaltung der Kirche gab es einen Papst in Rom und einen Gegenpapst in Avignon. Die wenigen verbliebenen Teile des Königreichs Burgund waren oft zwischen den Nachbarstaaten umkämpft. Darüber hinaus brachen gleichzeitig im Königreich Frankreich, im Herzogtum Burgund und in der Freigrafschaft Burgund langwierige Erbfolgekrisen aus.

Dabei ist es hilfreich, wenngleich zu Beginn klargestellt wird, dass drei verschiedene Frauen den Namen »Margarete von Burgund« verwendeten und dass drei verschiedene Männer »Philipp von Valois« genannt wurden. Einer von ihnen, der auch unter dem Namen Philipp von Rouvres (1347–1361) bekannt ist, löste die Krise aus, als er 1361 bei einer Wiederkehr der Pest vorzeitig starb, ohne seine Ehe vollzogen zu haben. Hätte er länger gelebt, hätte er mühelos seine eigenen Ansprüche auf das Herzogtum und jene seiner Gemahlin auf die Freigrafschaft durchsetzen können. Stattdessen fielen seine sämtlichen Titel an konkurrierende Anspruchshalter. Dazu kam, dass der französische König Johann der Gute das Erstgeburtsrecht missachtete und, wiederum aus politischen Gründen, das Herzogtum Burgund für seinen vierten Sohn beanspruchte.

Das forsche Vorgehen dieses vierten Sohnes Philipp von Valois (Philipp dem Kühnen), der sich bereits als junger Mann 1356 in der Schlacht von Poitiers gegen den Schwarzen Prinzen von England hervorgetan hatte, liefert den Schlüssel für alle späteren Entwicklungen. Obwohl er in der französischen Erbfolgelinie nur einen mittleren Platz einnahm, gelang es ihm, maßgeblichen Einfluss auf den Regentschaftsrat auszuüben, der nach dem Tod seines Vaters 1364 jahrzehntelang die französische Politik bestimmte.87 Durch seine Heirat mit Margarete Dampierre, der Witwe von Philipp von Rouvres und Erbin von Flandern (wo sie unter dem Namen Margarete von Male bekannt war), sicherte er sich zudem eine Vielzahl von Ansprüchen und Titeln, die vorher auf verschiedene Personen verteilt gewesen waren. Dazu gehörte auch der Anspruch auf die Freigrafschaft Burgund, der 1384 nach dem Tod ihres Vaters an Margarete zurückfiel. Dies führte zur Bildung eines neuen vereinten Burgund, das im Kern aus einer Union des Herzogtums und der Grafschaft bestand und sich in den letzten beiden Jahrzehnten des langen Lebens von Philipp dem Kühnen formte. Auf der Liste von Bryce erscheint es nicht als eigenes Reich, sondern als eine Kombination aus den Reichen Nr. X und Nr. VII.


Erwartungsgemäß sorgte die Entstehung des neuen Staatswesens, das nur dank der gleichzeitigen Schwäche von Frankreich wie von Deutschland möglich geworden war, für heftige Konflikte. In Frankreich löste sie einen erbitterten und langwierigen Bürgerkrieg zwischen zwei Adelsgruppierungen aus, den »Bourguignons« und den »Armagnacs«, deren Auseinandersetzungen bald vom Hundertjährigen Krieg überlagert wurden. Die Bourguignons setzten sich für gute Beziehungen sowohl zu den Nachfolgern von Philipp dem Kühnen als auch zu den englischen Verbündeten Burgunds ein. Die Armagnacs, die sich als französische Patrioten verstanden, verurteilten die Aktivitäten des abtrünnigen Herzogtums und die verräterische Allianz mit dem englischen Erbfeind. Von 1418 bis 1436 beteiligten sich burgundische Truppen an der englischen Besetzung von Paris. Die Deutschen, durch ihre eigenen Streitigkeiten hoffnungslos zersplittert, waren außerstande, einzugreifen, bis schließlich in den 1430er-Jahren die Ära der Habsburger begann. Niemand, vielleicht mit Ausnahme der Mitarbeiter der Reichskanzlei, erinnerte sich noch daran, dass das Königreich Burgund offiziell noch nicht erloschen war. Unterdessen hatten die Herzöge und Grafen freie Hand.

Das neue Staatsgebilde, das vom Ende des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts bestand, wird allgemein, aber ungenau als »Herzogtum Burgund« bezeichnet, manchmal auch als »Valois-Burgund«; es wurde von einem französischen Fürstengeschlecht regiert, das sich kurzzeitig der Vormundschaft von Paris entziehen und ein eigenständiges wohlhabendes und kultiviertes Reich aufbauen konnte.88 Doch die vorherrschende französische Sichtweise ist nicht notwendigerweise die treffendste, man sollte besser die historische Bezeichnung »Staaten von Burgund« verwenden und für seine Herrscher den doppelten Titel »Herzöge und Grafen«. Der Erfolg dieser Unternehmung beruhte darauf, dass das französische Herzogtum und die deutsche Grafschaft in Personalunion von Herrschern geführt wurden, die ein neues Staatswesen schufen, das weder französisch noch deutsch war. Die Familie von Philipp dem Kühnen war nur zur Hälfte französisch und zur anderen Hälfte flämisch, und da Philipps flämische Ehefrau Margarete von Dampierre als Untertanin des deutschen Kaisers geboren war, gehörte sie zumindest teilweise auch zum Reich. Darüber hinaus lag diesem außergewöhnlichen kleinen Reich der Herzöge und Grafen, das sich von der Boulogne bis zum Schwarzwald erstreckte, die romantische Vorstellung zugrunde, dass es eine Wiedergeburt des vor langer Zeit verschwundenen Lotharingien sei.


Nur vier Herrscher regierten die Staaten von Burgund im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts: Philipp der Kühne/Filips de Stoute (reg. 1364–1404), Johann Ohnefurcht/Jean sans Peur/Jan zonder Vrees (reg. 1404–1419), Philipp der Gute/Philippe le Bon/Filips de Goede (reg. 1419–1467) und Karl der Kühne/Carles le Téméraire/Karel de Stoute (reg. 1467–1477). Die niederländischen und flämischen Historiker haben natürlich eigene Bezeichnungen gefunden. Bei der Auflistung jener Herrscher, die zugleich Herzog und Graf waren, werden auch die nichtburgundischen Grafen von Flandern und Artois berücksichtigt. Zu den burgundischen Landen gehörten aber nicht nur die beiden Burgund sowie Flandern und Artois. Karl der Kühne beispielsweise besaß 15 Titel: Graf von Artois, Herzog von Limburg, Herzog von Brabant, Herzog von Lothringen, Herzog von Burgund, Herzog von Luxemburg, Pfalzgraf von Burgund, Markgraf von Namur, Graf von Charolais, Graf von Seeland, Graf von Flandern, Graf von Zutphen, Herzog von Geldern und Graf von Holland.89

Keiner der burgundischen Herrscher war tatsächlich König, sie waren lediglich Herzöge. Doch mit ihrem höfischen Glanz, ihrem Reichtum, ihren Städten und ihrem üppigen Mäzenatentum übertrafen die Burgunder fast alle gekrönten Häupter dieser Zeit und waren de facto Könige, wenn sie diesen Titel auch nicht trugen.90

Die territoriale Basis des neuen politischen Gebildes unterschied sich deutlich von jenem der vorgehenden burgundischen Reiche. Den Kern bildeten zwar das Herzogtum und die Grafschaft im Süden, doch der größere Teil des burgundischen Länderkomplexes lag in den Küstengebieten im Norden, und der Hauptteil des historischen Burgund wurde davon nicht umfasst. Das persönliche Erbe von Margarete von Dampierre, die aus Brügge stammte, war wesentlich größer und reicher als das ihres Ehemannes. Es erstreckte sich von den ehemals französischen Grafschaften Vermandois und Panthieu bis zu den früher deutschen Grafschaften Holland und Geldern und schloss alle großen niederländischen Städte ein: Amiens, Arras, Brügge, Gent, Brüssel und Amsterdam. Mehrere Lücken im Flickenteppich – Utrecht, Cambrai, Lüttich und Luxueil – waren abhängige Fürstbistümer. Eines der Fragmente des ehemals zum Heiligen Römischen Reich gehörenden Burgund, an dem die deutschen Könige festhielten, war die Grafschaft Neuchâtel (heute ein Kanton in der Nordwestschweiz). Dies wurde möglich, weil König Rudolf I. Neuchâtel in seinen persönlichen Besitz nahm, bevor er es als Lehen an einen seiner Gefolgsmänner übergab. Da dieses Gebiet nahe an Deutschland lag, kümmerte sich der König fortlaufend darum, und so konnte es sich bis zum Westfälischen Frieden 1648 den Zugriffsversuchen sowohl des Hauses Valois-Burgund als auch der schweizerischen Eidgenossen entziehen.91 Von 1707 bis 1806 gehörte es seltsam genug zu Preußen.