Verschwundene Reiche

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Im 15. Jahrhundert erlebten die mittelalterlichen Städte eine Blütezeit. Es bildeten sich zwei bedeutsame Zentren heraus, Norditalien und die Niederlande (d.h. die burgundischen Staaten), die auch zu den Geburtsstätten der Renaissance wurden. Kunst und Gelehrsamkeit gingen Hand in Hand mit Wirtschaft und Handel:


Brügge, zu dieser Zeit die weltläufigste Handelsstadt im nordwestlichen Europa, war unzweifelhaft das pulsierende Herz [von Burgund]. Hunderte Ausländer hatten sich hier niedergelassen … Mindestens zwölf »Nationen« von fremden Kaufleuten … genossen rechtlichen Schutz. Vierzig oder fünfzig Kaufleute der Hanse hielten sich das gesamte Jahr in der Stadt auf. Noch zahlreicher waren die Süditaliener. Außerdem gab es Katalanen, Kastilier, Portugiesen, Basken, Schotten und Engländer.

Brügge war das Zentrum eines weit verzweigten Netzes. Für den sechs Wochen dauernden Pfingstmarkt verließen alle Ausländer Brügge … und begaben sich nach Antwerpen. Dort beherrschten sie den Handel mit teuren Stoffen wie Leinen und Samt und mit Gütern aus Übersee wie Gewürzen, Wein, Öl, tropischen Früchten, Zucker und Pelzen. Somit können wir uns Brügge an der Spitze der Pyramide vorstellen, Antwerpen an der zweiten Stelle und dazu Gent und Ypern als regionale Marktorte.

Seit dem 13. Jahrhundert hatten italienische Firmen den Herrschern der Niederlande Kredite gewährt … Herzog Philipp der Kühne unterhielt enge Beziehungen zu Dino Rapondi, einem Bankier aus Luca … Dino ließ sich in Flandern nieder und lieh dem Herzog und den Städten große Summen Geldes … Mit einem Wechsel über sechzigtausend Franc, einzulösen in Venedig, und einem umfangreichen Darlehen stellte Dino das Lösegeld für Johann Ohnefurcht bereit, der von den Türken 1396 gefangen genommen worden war.92

Die Herrscher des Hauses Burgund unterhielten keinen ständigen Hof. Ihr Heimatstandort war der »Palais de Duc« in Dijon, wo sie den Winter verbrachten, doch im Frühjahr begaben sie sich auf ihren jährlichen Zug; regelmäßige Anlaufstellen waren die alten Grafensitze in Hesdin im Artois und in Mechelen in der Nähe von Antwerpen. Zeitgenossen beschrieben immer wieder ihren Glanz und Prunk. Die Bezeichnung »burgundisch« ist zu einem Inbegriff für teure Kleidung, aufwändige Lebenshaltung und ausgelassenes Feiern geworden. Die Umzüge und Festspiele zum »Einzug« der Herrscher und ihrer Gäste wurden bewusst als politische Schauspiele inszeniert. Der burgundische Hof fühlte sich ausnahmslos allen seinen Nachbarn ebenbürtig:

Der König von Frankreich … reiste nach Troyes in der Champagne … Er wurde begleitet von seinem Onkel, dem Herzog von Bourbon, dem Herzog von Tourraine und vielen anderen Rittern … Bei seinem Einzug in Dijon wurde er von der Herzogin von Burgund mit hohem Respekt und Zuneigung empfangen, und alle, die gekommen waren, erwiesen ihm die Ehre. Große Volksbelustigungen wurden bei dieser Gelegenheit veranstaltet, und der König weilte acht Tage in Dijon.93

Die herrschenden Kreise Burgunds pflegten die Kunst und das Ritterethos mit beispielloser Leidenschaft. Im Jahr 1430 wurde der Ritterorden vom Goldenen Vlies gegründet, der dem englischen Hosenbandorden nachempfunden war. Mit seinen Ritualen und Zeremonien stellte er alle anderen Ritterorden in den Schatten. Das Ordensabzeichen, ein an einer Collane hängendes Widderfell, waren mit den Worten Pretium Laborum Non Vile (»Kein geringer Preis der Arbeit«) versehen.94 Dass ein nichtchristlicher Hintergrund für den Orden gewählt wurde, signalisierte nach außen ein gewisses Interesse an der Antike. Gleiches gilt für die Manuskripte und literarischen Werke wie Épopée troyenne (»Trojanisches Epos«), die die Bibliotheken der burgundischen Herrscher schmückten. William Caxton, der erste englische Buchdrucker, brachte 1473 ein Recuyell of the Histories of Troye heraus, das auf einem burgundischen Original beruhte.95

Die Malerei der flämischen Schule, ein zentraler Bestandteil der Renaissance in den Niederlanden, entwickelte sich mit burgundischer Unterstützung. Maler wie Robert Campin (um 1378–1444) und Jan van Eyck (um 1390–1441), die beide für den Grafen von Holland und Philipp den Kühnen arbeiteten, Roger van der Weyden (um 1400–1464) und Hans Memling (um 1430–1494), ein Deutscher, der sich in Brügge niederließ, trugen maßgeblich zur Verweltlichung der europäischen Kunst bei. Sie wandten sich aufgeschlossen neuen Genres zu, wie etwa Porträts, Stillleben, Alltagsszenen und Landschaften.96 Auch herausragende Bildhauer wurden gefördert. Der Niederländer Claus Sluter (um 1350–1405) wurde Hofbildhauer in Dijon. Sein bekanntestes erhalten gebliebenes Werk ist der Mosesbrunnen, der für die Grabkirche der Herzöge von Burgund im Kloster Champmol geschaffen wurde.97 Auch Tapisserien waren eine burgundische Spezialität. Die aufwändige Technik des Einwebens von Goldfäden in farbige textile Flächengebilde wurde in Arras erfunden. Im 15. Jahrhundert konnten die tapissiers große Wandteppiche anfertigen, die Schlachten, historische Szenen, Legenden und Landschaften darstellten.98

Neben der bildenden Kunst blühte auch die Musik. Die Burgundische Schule entstand in der Herzogskapelle in Dijon, wo man bereits um die Jahrhundertwende den »burgundischen Geist im Lied« hören konnte.99 In der Folge verbreitete sie sich geografisch und veränderte sich auch stilistisch. Guillaume Dufay (um 1397–1470) aus Brabant war vermutlich der berühmteste europäische Komponist in dieser Zeit. Die spätere französisch-flämische Schule brachte eine Vielzahl von Talenten im Umfeld des genialen Joskin van de Velde (um 1450–1520) hervor, der besser bekannt ist unter dem Namen Josquin des Prez und die Polyphonie zu ihrer Vollendung führte.100

Die Literatur der Renaissance befasste sich mit vielen Gebieten von der Dichtkunst bis zur Philosophie. Erasmus von Rotterdam (1466–1536), der bedeutendste Humanist seiner Zeit, war ein Burgunder.101 Neben Latein entwickelten sich die französische und die niederländische Sprache, und die Vermischung der beiden Sprachen wurde als »ein Dialog zwischen zwei Kulturen« bezeichnet. Burgund bildete auch den Hintergrund für eines der wichtigsten historiografischen Werke des 20. Jahrhunderts, Johan Huizingas Herbst des Mittelalters (1919). Der Kulturhistoriker Huizinga, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Leiden, entwickelte anhand einer detaillierten Analyse der Rituale, Kunstformen und Schauspiele am burgundischen Hof seine Theorie über den rohen und stark gefühlsbestimmten Charakter des Lebens im Spätmittelalter und widersprach damit der vorherrschenden Meinung, dass es eine von der Anmut der Renaissance, von Ästhetik und aufgeklärten Debatten bestimmte Zeit gewesen sei:

Als die Welt noch ein halbes Jahrhundert jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute. Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns; was man erlebte, hatte noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit, den die Freude und das Leid im Gemüt der Kinder heute noch besitzen. Jede Begebenheit, jede Tat war umringt von geprägten und ausdrucksvollen Formen, war eingestellt auf die Erhabenheit eines strengen, festen Lebensstils. Die großen Ereignisse: Geburt, Heirat, Sterben standen durch das Sakrament im Glanz des göttlichen Mysteriums. Aber auch geringere Geschehnisse, eine Reise, eine Arbeit, ein Besuch, waren von tausend Segnungen, Zeremonien, Sprüchen und Umgangsformen begleitet.102

Huizingas Werk war sehr einflussreich, doch es rief auch Ablehnung unter manchen seiner holländischen Kollegen hervor und Befremden bei seinem belgischen Freund Henri Pirenne.103

Trotz ihres außergewöhnlichen kulturellen Engagements stand die Politik für die burgundischen Herzöge im Vordergrund. Burgund tat sich sowohl durch seine Bemühungen zur Schaffung eines integrierten Staatswesens als auch durch seine höchst geschickte Diplomatie hervor. Zwar wurden Aufmüpfigkeiten gewaltsam unterdrückt, doch die Eigenheiten der verschiedenen Teilgebiete des Reiches wurden respektiert; die Herrschaftspraxis beruhte auf etablierten Verfahren und dem Bemühen um Konsens. In einem typischen Erlass vom 13. Dezember 1385 erfuhr die Stadt Gent sowohl die harte Hand ihres Herrschers als auch seinen Großmut:

Philipp I. von Frankreich, Herzog von Burgund, Graf von Flandern und Artois, Pfalzgraf von Burgund … tut es allen kund: unseren vielgeliebten Untertanen in unserer schönen Stadt Gent, die uns inständig angefleht haben, ihnen Gnade angedeihen zu lassen, dass [Wir] alle Übertretungen und Unbotmäßigkeiten verziehen haben … und dass [Wir] alle genannten Gebräuche, Privilegien und Rechte bekräftigen, sofern sie in vollem Umfange [Uns] gegenüber Gehorsam üben.104

Die burgundischen Herzöge nutzten ähnlich wie die englischen Monarchen ihre vielfach verschlungenen Verwandtschaftsverhältnisse, um ihren Anspruch zu untermauern, dass sie die wahren Könige Frankreichs seien, und insbesondere Philipp der Kühne beschäftigte sich eingehend mit den Angelegenheiten Frankreichs. Bei seinem Tod 1404 war seine Position als Vertreter des Hauses Valois und als unabhängiger Herrscher unangefochten. Doch er hatte auch Burgund nicht vernachlässigt. Er war ein vorzüglicher Weinkenner und untersagte in detaillierten Erlassen beispielsweise den Anbau der minderwertigen Rebsorte Gamay oder dass durch übermäßigen Einsatz vom Dünger der Quantität der Vorzug vor der Qualität gegeben werde. Kleinstädte wie Pommard, Nuits St. George und Beaune entwickelten sich während seiner Regierungszeit zu bedeutenden Zentren des Weinhandels. In einem seiner Güter im Château de Santenay an den Hängen der Côte d’Or werden noch heute Weine produziert, die seinen Namen tragen.105 Außerdem war er der erste Bauherr des Palais de Duc in Dijon.106

 

Phihpps Sohn Jean sans Peur (Johann Ohnefurcht), der als junger Kreuzritter bei Nikopolis gegen die Türken gekämpft hatte, festigte die Macht und den Einfluss des Hauses Burgund. Nach endlosen Auseinandersetzungen mit seinen französischen Verwandten wurde er im September 1419 vom Dauphin zu einer Unterredung auf die Brücke von Montereau in der Nähe von Paris gelockt und dort von dessen Begleitern ermordet.107 Johanns Sohn Philippe le Bon (Philipp der Gute) war als junger Mann Graf von Charolais und führte die burgundischen Lande zu hohem Ansehen und Wohlstand. Er vergrößerte sie durch den Erwerb von Namur und Luxemburg, durch die Eroberung von Holland, Seeland und Friesland in den sogenannten Kalten Kriegen und durch das Erbe von Brabant, Limburg und Antwerpen. Ganz und gar unbescheiden, stellte er sich gerne als »Großherzog des Westens« vor.108

Die Bestattung von Philipp dem Guten wird häufig als eines der prunkvollsten burgundischen Schauspiele gerühmt. Sie fand 1467 in Brügge statt und wurde ausführlich vom Hofchronisten Chastellain beschrieben. Hunderte schwarz gekleidete Trauergäste wurden auf Kosten des Hofes mit Umhängen ausgestattet, die ihren gesellschaftlichen Status zum Ausdruck brachten. In der Kirche St. Donatian in Brügge waren so viele Kerzen entzündet worden, dass man die Buntglasfenster durchbrechen mussten, um die Hitze entweichen zu lassen. Zwanzigtausend Zuschauer verfolgten den Fackelzug:

Die sterblichen Überreste von Herzog Philipp … wurden in einen geschlossenen bleiernen Sarg gebettet, der mehr als 240 Pfund wog. Ein goldenes Tuch, das 32 Ellen maß und mit schwarzem Satin besetzt war, bedeckte den Sarg. Zwölf Armbrustschützen der Garde trugen ihn, während das goldene Sargtuch von 16 Baronen gehalten wurde … Ein Baldachin, der auf vier großen Stangen ruhte, wurde von vier burgundischen Edlen in die Höhe gehoben: den Grafen von Joigny, Bouquan und Blancquehain sowie dem Seigneur von Chastelguion. Unmittelbar dahinter gingen Meriadez, der Oberstallmeister … und der fürstliche Beisetzungsleiter. Er trug das Herzogsschwert seines verstorbenen Herrn, das in seiner reich verzierten Scheide steckte und mit der Spitze auf den Boden zeigte.109

Während der Beisetzung wurde das Schwert, ähnlich wie im französischen Hofzeremoniell, an Karl übergeben, den Sohn und Erben des Verstorbenen. Dies symbolisierte die Kontinuität der fürstlichen Herrschaft – es wies aber auch bereits darauf hin, dass Karl sich des Schwertes ausgiebig bedienen sollte.

Charles le Téméraire erhielt die Beinamen »der Kühne«, der »Tapfere« oder auch »der Schreckliche«. Er war Sohn einer portugiesischen Prinzessin und aufgrund aufeinanderfolgender Eheschließungen Schwager der Könige von Frankreich und von England. Seine kriegerische Einstellung zeigte sich schon vor dem Tod seines Vaters, als er 1466 in der aufständischen Stadt Dinant alle Männer, Frauen und Kinder töten ließ. Sein größter Fehler war, dass er gleichzeitig alle Nachbarn gegen sich aufbrachte, und während der komplizierten burgundischen Kriege in den 1470er-Jahren verbündeten sich schließlich seine Feinde gegen ihn. Bald sah er sich im Westen von Ludwig XI. von Frankreich bedrängt, der auch »der Listige« oder »die Spinne« genannt wurde, und im Osten von den Lothringern, den Kaiserlichen und den Schweizern.110

Die Schweiz, die sich mittlerweile große Teile des früheren »Hochburgund« einverleibt hatte, erwies sich als der gefährlichste Gegner des burgundischen Reiches. In drei Schlachten wurde Karl gedemütigt, ausgespielt und schließlich vernichtet. In der Schlacht bei Grandson im Kanton Waadt (2. März 1476), wo er zuvor die Garnison massakriert hatte, wurden Karls Truppen in die Flucht geschlagen, und den Eidgenossen fiel in deren zurückgelassenen Lagern reiche Beute in die Hände, darunter auch Karls silberne Badewanne. In der Schlacht am See von Morat (Murten) im Kanton Bern (22. Juni 1476) wurde Karls Armee praktisch ausgelöscht, und viele seiner Soldaten ertranken. Bei der Belagerung von Nancy (5. Januar 1477) fand auch Karl schließlich den Tod. Der Chronist Philippe de Commynes berichtete, was er erfahren hatte:

Die wenigen Soldaten des Herzogs … die in schlechter Verfassung waren, wurden sogleich entweder getötet oder in die Flucht geschlagen … Der Herzog von Burgund fiel im Feld … Wie dies geschah, wurde mir von Gefangenen erzählt, die sahen, wie er zu Boden gestoßen wurde … Eine Gruppe von Soldaten stürzte sich auf ihn, tötete ihn und beraubte seinen Leichnam, ohne ihn zu erkennen. Dieser Kampf … fand am Vorabend der Erscheinung des Herrn statt. [Zwei Tage später] wurde der nackte Leichnam des Herzogs, der mitüerweile zu einem Eisklumpen gefroren war, erkannt: Der Kopf war bis zum Kinn von einer schweizerischen Hellebarde gespalten und der Leib mehrfach von schweizerischen Lanzen durchbohrt worden.111

Commynes, der früher Karl dem Kühnen gedient hatte, traf ein hartes Urteil. »Nicht einmal halb Europa«, schrieb er, »hätte ihm genügt.«112

Als »Beute von Burgund« wurden die vielen kostbaren Kunstgegenstände bezeichnet, die den Schweizern bei Grandson in die Hände fielen und die später auf dem europäischen Kunstmarkt auftauchten,113 doch diese Bezeichnung lässt sich auch auf das Schicksal des gesamten burgundischen Herrschaftsverbunds beziehen. Im Laufe weniger Jahre zerfiel der Machtbereich der burgundischen Herzöge und Grafen. Das Herzogtum, das schnell von französischen Truppen besetzt wurde, fiel an Frankreich. Die Freigrafschaft, »Franche-Comté«, kam einige Zeit später zum Heiligen Römischen Reich. Damit war die Verbindung zwischen dem Herzogtum und den Niederlanden durchtrennt.

Die 19 Jahre alte Tochter des verstorbenen Herzogs, Maria von Burgund (1457–1482), konnte sich nun vor Freiern kaum mehr retten. Da sich die Franzosen ihr Herzogtum angeeignet hatten, blieben ihr nur noch die Niederlande. Doch auch dort brodelte es. Die niederländischen Adeligen wollten ihr erst dann zu heiraten erlauben, wenn sie ihnen ein »Großes Vorrecht« eingeräumt und alle Verpflichtungen aufgehoben hatte, die ihnen ihr Vater auferlegt hatte. Schließlich durfte Maria ihre freie Wahl treffen, und sie entschied sich für Maximihan von Habsburg, den Sohn des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches. Die Hochzeit fand in Gent am 19. August jenes Jahres statt, das mit der Schlacht von Nancy begonnen hatte. Fünf Jahre später lebte Maria nicht mehr – sie kam bei einem Sturz vom Pferd ums Leben114 –, doch in dieser kurzen Zeit hatte sie drei Kinder zur Welt gebracht, die das politische Vermächtnis ihrer Heirat sicherten. Ihr verwitweter Ehemann wurde Erbe des Kaisertitels, ihr Sohn Philipp IV. heiratete die Königin von Aragónien und Kastilien, und ihr Enkel, Karl von Gent, Keizer Karel, besser bekannt als Kaiser Karl V., sollte die größte Ansammlung von Titeln und Territorien sein eigen nennen, die jemals ein europäischer Monarch besaß.115

In geografischer Hinsicht war das bedeutendste Ergebnis der Regelung von 1477 die dauerhafte Trennung des Herzogtums Burgund vom Rest des »Burgundischen Erbes«. Das Herzogtum kehrte zurück in das Königreich Frankreich, in dem es als »Bourgogne« eine der Provinzen des Ancien regimes wurde. Die restlichen Gebiete fielen an die Habsburger, die für zusätzliche Verwirrung sorgten, indem sie den Titel »Herzog von Burgund« annahmen, ohne das Herzogtum zu besitzen. Der Titel des Herzogs von Burgund, den alle habsburgischen Kaiser von 1477 bis 1795 führten, bezog sich daher auf ein ganz anderes Gebiet als jenes, das einst dem Titel »König von Burgund« zugrunde gelegen war und den die früheren Kaiser verwendet hatten.

Die Freigrafschaft entwickelte sich in eine andere Richtung. Im Jahr 1477 wurde sie von Frankreich annektiert, aber 16 Jahre später kam sie durch den Vertrag von Senlis wieder zum Heiligen Römischen Reich und wurde von den Habsburgern als „heimgefallenes Lehen“ [A. d. Red.] dem »Burgundischen Erbe« hinzugefügt. Ihr Status wurde 1512 bekräftigt, zu einer Zeit, als der Titularherzog Karl II., (der noch nicht Kaiser Karl V. war) die Schaffung einer neuen Verwaltungseinheit, des Burgundischen Reichskreises, erwog.116 Vom 16. bis zum 19. Jahrhundert gab es im Heiligen Römischen Reich zehn derartige Reichskreise. Der Burgundische Reichskreis, der formell 1548 gebildet wurde, ist das Reich Nr. IX auf der Liste von Bryce.

Doch der Frieden von Senlis hatte keinen Bestand, und so wurde ein dauerhafter Kriegszustand zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich zu einem bestimmenden Merkmal der modernen europäischen Geschichte. Im Zuge dieser Entwicklung wurde das Territorium des Burgundischen Reichskreises allmählich immer weiter verkleinert, wie es auch mit dem Königreich Burgund geschehen war. Im Jahr 1512 umfasste der Reichskreis 20 Landesherrschaften. Im Lauf der Jahre schrumpfte er immer mehr. Im Jahr 1555 wurde ein großer Teil der Burgundischen Niederlande in die Hoheit des Königreichs Spanien übertragen, doch 25 Jahre später löste sich die Hälfte dieser Provinzen aus der spanischen Herrschaft und gründete die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen (Vereinigte Niederlande). Als die verbliebenen Territorien schließlich 1715 von Spanien an Österreich zurückgeben wurden, bildeten nur noch acht der ursprünglich 20 Provinzen die »Österreichischen Niederlande«.117 (Das Herzogtum Lothringen dagegen, wo Karl der Kühne gestorben war, wurde nicht in den Reichskreis eingegliedert. Es blieb nominell unabhängig, und sein letzter Herrscher, le bon roi Stanislas (reg. 1735–1766), war ein arbeitsloser polnischer Monarch, dessen Tochter zufällig Königin von Frankreich war.118)

Auch die Entwicklung der Freigrafschaft, der »Franche-Comté«, verlief außergewöhnlich. Der Großteil der Region gelangte 1553 zusammen mit dem Rest des Reichskreises unter spanische Herrschaft. Doch die Hauptstadt dieses Gebietes, Besanz (Besançon), blieb bis 1651 eine Reichsstadt innerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Dann war es eine Generation lang die Hauptstadt des »El Contado Franco«, bis es 1678 durch den Vertrag von Nijmegen zusammen mit dem übrigen Territorium an Frankreich abgetreten wurde, wodurch die letzte Verbindung des Heiligen Römischen Reiches mit seinem früheren Königreich Burgund beseitigt wurde.119

Die Provinzen Bourgogne und Franche-Comté waren von der Regierungszeit Ludwigs XIV. bis zur Französischen Revolution Bestandteile des Königreichs Frankreich. Die Einwohner der Bourgogne, die von Dijon aus verwaltet wurde, hießen offiziell Bourguignons und Bourguignonnes; die Bewohner der Franche-Comté, deren Verwaltungszentrum Besançon war, nannte man Comtois und Comtoises. Im Jahr 1791 wurden beide Provinzen aufgelöst und durch republikanische Departements mit Namen ohne historische Bezüge ersetzt. Alles was mit dem Ancien régime zusammenhing, wurde verachtet und streng gemieden. Die Franzosen sollten sich nicht mehr als Bewohner einer bestimmten Provinz verstehen und das Königreich Frankreich vergessen, insbesondere die vielen burgundischen Reiche.120

 

Der moderne französische Staat ist bekannt für seine zentralisierte Verwaltungsstruktur. Im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte hat sich jedoch vieles verändert. Die revolutionäre Republik wurde vom Kaiserreich abgelöst; darauf folgten ein restauriertes Königtum, eine zweite Republik, ein zweites Kaiserreich und dann eine dritte, vierte und fünfte Republik. Eines hat sich in dieser Zeit aber nicht geändert: Paris gab die Richtung vor, der Rest von Frankreich folgte.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Praxis etwas modifiziert. Im Jahr 1956 wurde zur Verbesserung der staatlichen Planungsmöglichkeiten ein gewisses Maß an Dezentralisierung eingeführt, und 1982 wurden Regionalräte geschaffen. Seither ist Frankreich in 22 Regionen gegliedert, die in Größe und Form weitgehend den 34 vorrevolutionären Provinzen entsprechen. Eine dieser Regionen heißt Bourgogne, ihr unmittelbarer Nachbar Franche-Comté.121 Doch die französischen Regionen besitzen keine vergleichbaren Kompetenzen wie die Landesteile des Vereinigten Königreiches nach der Umsetzung der Devolutionspolitik oder die schweizerischen Kantone. Die Macht der französischen Zentralregierung wurde nicht eingeschränkt, sondern nur ein wenig beschnitten; Bezüge auf historische Formationen spielen kaum eine Rolle. Die Bürokraten und Politiker der Nachkriegszeit, welche die Regionen schufen, dachten anscheinend nur bis zum Ancien régime. Sie ignorierten die burgundischen Hintergründe von Franche-Comté und wiesen den Namen Burgund ausschließlich dem früheren Herzogtum zu. Dabei wird übersehen, dass die Region, die heute »Rhône-Alpes« heißt, ebenso stark burgundisch geprägt ist wie die übrigen.122


Dennoch ist die historische Erinnerung noch bemerkenswert lebendig. Sie mag ungenau, verworren oder verzerrt sein, aber sie ist nicht völlig verschwunden. Zwischen der Auflösung des merowingischen Burgund und der Gründung des karolingischen Herzogtums vergingen 111 Jahre; zwischen der Abschaffung der königlichen französischen Provinz »Bourgogne« und ihrem Wiederaufleben als Region verstrichen 162 Jahre. Diese Zeitspannen sind nicht lange genug, dass das kollektive Bewusstsein alles vergisst. Heute scheint es, als habe die Erinnerung an das Burgund des 15. Jahrhunderts jene an die anderen Epochen verdrängt, wahrscheinlich wegen der künstlerischen Pracht dieser Zeit. Doch man sollte niemals »nie« sagen. Vielleicht kommt noch der Tag, an dem die Bürger von Genf, Basel, Grenoble, Arles, Lyon, Dijon und Besançon ihre Banner entrollen und ihre Hymne singen werden: »Burgund ist nicht vergangen, so lange wir leben!« Und dann laden sie vielleicht einen Vertreter oder eine Delegation aus Bornholm zu ihren Feierlichkeiten ein.

Die »Anmerkung A« von Bryce über die burgundischen Reiche umfasste zehn Punkte und er erwähnte einen möglichen elften. Bryce beschäftigte sich nicht mit den Provinzen des Ancien régime und konnte aus offensichtlichen Gründen auch die heutigen Regionen nicht aufnehmen. Dennoch ist seine Aufzählung von zehn oder elf »burgundischen Reichen« eindeutig zu kurz. Je nach Definition gab es fünf, sechs oder sieben Königreiche, zwei Herzogtümer, eine oder zwei Provinzen, eine Frei- oder Pfalzgrafschaft, eine Landgrafschaft, ein Gebilde, das man als »Vereinte Staaten« bezeichnen könnte, einen Reichskreis und zumindest eine Verwaltungsregion. Damit umfasst die Liste mindestens 13 und maximal 16 Staaten. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kann man durchaus davon sprechen, dass es in der Geschichte insgesamt 15 burgundische Reiche gegeben hat. Das erinnert an den lateinischen Wahlspruch von Philipp dem Guten Non Aliud (»Nichts anderes«) – den man frei vielleicht auch mit »Genug, aber nicht zu viel« übersetzen könnte.123

Es erscheint daher angebracht, die Auflistung von Bryce in überarbeiteter Form noch einmal aufzugreifen:


1. 410–436 Das erste burgundische Königreich von Gundahar (Bryce Nr. I)
2. 451–534 Das zweite burgundische Königreich, gegründet von Gundioch
3. um 500–734 Das dritte (fränkische) Königreich Burgund (Bryce Nr. II)
4. 843–1384 Das französische Herzogtum Burgund (Bryce Nr. X)
5. 879–933 Das Königreich Niederburgund (Bryce Nr. III)
6. 888–933 Das Königreich Hochburgund (Bryce Nr. IV)
7. 933–1032 Das vereinte Königreich der beiden Burgund (Königreich Arelat) (Bryce Nr. V)
Die Frei- oder Pfalzgrafschaft Burgund (Franche-Comté) (Bryce Nr. VII)
9. 1032–? Das Königreich Burgund im Heiligen Römischen Reich
10. 1127–1218 Das Herzogtum Klein-Burgund im Heiligen Römischen Reich (Bryce Nr. VI)
11. 1127 Die Landgrafschaft Burgund im Heiligen Römischen Reich (Bryce Nr. VIII)
12. 1384–1477 Die vereinten »Staaten von Burgund« (Machtbereich des Hauses Burgund)
13. 1477–1791 Die französische Provinz Burgund (Bourgogne)
14. 1548–1795 Der Burgundische Reichskreis (Bryce Nr. IX)
15. seit 1982 Die gegenwärtige französische Region Bourgogne